Die Chance von Nürnberg
Der Bürgermeister von Nürnberg, Ulrich Maly, hat eine bemerkenswerte Idee: Er will seine historische Stadt vermarkten, als einen Ort, der sich seiner NS-Vergangenheit stellt. Im nächsten Sommer, wenn zehntausende England-Fans von der S-Bahn-Station ins Frankenstadion strömen und dabei das Reichsparteitagsgelände passieren – den historischen Schauplatz von Hitlers Paraden – sollen sie gleichzeitig mit 42 Informationsstelen konfrontiert werden, auf denen die die Lebensgeschichte von Julius Streicher nachzulesen ist, die Ursprünge der Nürnberger Rassegesetze sowie der Nazimarsch zum Holocaust.
Ein löblicher Akt von Zivilcourage. Unglücklicherweise werden die Engländer darin aber wahrscheinlich nur einen perversen Akt der Selbstgeißelung sehen. Die Zeichen stehen eher danach, dass die Fans den Versuch eines Stechschritts wagen werden, sich zum Hitlergruß herausgefordert fühlen – und das lustig finden.
Wir leben immer noch auf zwei Planeten, die Briten und die Deutschen, und es ist nach wie vor die Ikonographie eines 60 Jahre zurückliegenden Krieges, an der sich die Unterschiede markieren lassen. Kürzlich rief der begabte deutsche Botschafter in London, Thomas Matussek, in einer Rede die Briten dazu auf, Deutsch zu lernen. Armer Herr Matussek. Zuvor hatte er an die Briten appelliert, mehr über die jüngste deutsche Vergangenheit zu lernen, endlich der Hitler-Obsession zu entsagen.
Diese Aufrufe stoßen zweifellos auf taube Ohren. Das Problem, Herr Matussek, ist nicht das britische Schulsystem oder ein genetisches Gespür für die subtilen Hintergründe des Faust. Vielmehr liegt es an einer mangelnden Neugier der Briten an Europa. Solange dieser Mangel herrscht, wird es keine gemeinsame Sprache geben. Für die Briten – man mag das Arroganz nennen – ist der wesentliche Referenzpunkt im globalen Gefüge Amerika. Das war nicht immer so.
In den 1950ern, als die Erinnerungen an den Krieg noch ganz frisch waren, war das Verhältnis zwischen Briten und Deutschen sehr viel lebhafter. Ein ehemaliger britischer Soldat besaß in der Regel großen Respekt für einen ehemaligen deutschen Soldaten (sie hatten natürlich weniger direkten Kontakt mit der mörderischen SS als mit Russland-Veteranen). Viele britische Soldaten, die in Deutschland stationiert waren, heirateten deutsche Frauen. Der Wiederaufbau des modernen Westdeutschlands wurde nicht alleine ein Imperativ des Kalten Krieges, sondern eine moralische Verpflichtung, gar ein Freundschaftsakt.
Dann kam die historische Zeitenwende. Die deutsche Wirtschaft florierte, die britische Wirtschaft stagnierte. Deutschland wurde zu einem erfolgreichen Wettbewerbspartner: moderner als wir, flexibler als wir und weniger geschädigt von der Geschichte. Die Deutschen wurden zu Massentouristen und konnten an den Stränden Spaniens mehr Geld verprassen als unsereins. Daraufhin wurden die Briten feindselig. Ein Gefühl, das auf persönlicher Ebene unattraktiv
macht; auf nationaler Ebene ist es hässlich.
Die Briten haben ihre Haltung gegenüber Deutschland zu schnell geändert: 1945 waren die Deutschen der verachtete Feind, 1955 der zunehmend sympathische Verlierertyp, bis sie 1965 zum Wettbewerbsgegner wurden, der unsere eigene Inkompetenz zum Vorschein brachte. Margaret Thatcher war es, die diese nationale Konfusion manipulierte. Da Deutschlands Aufstieg zu einer europäischen Spitzenmacht unser eigenes Empfinden von einem Niedergang hervorgekehrt hat, ist Deutschland wieder zu unserem Feind geworden.
Witze über – oder besser: gegen – Deutsche wurden zu dieser Zeit, in den 1980er Jahren, besonders giftig. Und blieben so. Neulich beschrieb ein britischer Motorjournalist das Design eines deutschen Autos, indem er seinen Arm zu einem Hitlergruß erhob – das sei, sagte er, der Winkel, in dem Deutsche ihre Kotflügel gestalten. Deutsche Keilriemen seien auf 1000 Jahre Unkaputtbarkeit produziert, das Satelliten-Navigationssystem sei für eine Invasion nach Polen programmiert. Das Publikum lachte. Lustig? Ich denke nein. Der britische Humor ist in einer Art Nazi-Burleske stecken geblieben. Die Generation, die heute am lautesten darüber lacht, wurde in der Thatcher-Ära geboren.
Die Intention des Humor ist keine sanfte Selbstverlachung – die gute alte britische Spezialität – sondern eine chauvinistische Deklaration: Wir sind besser als die Deutschen! Ich wünschte, es wäre anders. Es sollte die Briten nicht all zuviel Vorstellungskraft kosten, um zu erkennen, dass dieser Humor nicht nur feindselig gegenüber den Deutschen ist, sondern auch gegenüber den Opfern des Nazismus. Wer Hitler trivialisiert, trivialisierst das Leiden. Vielleicht sollten Herr Matussek und seine Diplomaten damit aufhören, die Deutschen in England als eine unterdrückte Minderheit darzustellen und den obersten Rabbi für den Kampf gegen die Naziburleske engagieren.
Wie lässt sich bei den Briten ein Interesse für Deutschland entzünden? Britische Touristen strömen in Massen per Billigflug nach Berlin, um die neuesten Clubs auszuprobieren oder ein authentischeres Weihnachten zu erleben. Doch der Rest von Deutschland wird vernachlässigt, als irrelevant empfunden. Vielleicht ist der Bürgermeister von Nürnberg am Ende doch auf der richtigen Fährte: Wenn Deutschland schon den Versuch unternimmt, England zu erziehen, warum sollte man nicht mit den Fußballfans anfangen?
Roger Boyes, Journalist, Jg. 1952, Studium der Theologie, Germanistik und Pol. Wiss., Reuters Moskau 1976, „Financial Times“ 1978-1981, „Times“-Korrespondent Warschau, Rom, Osteuropa und Bonn, seit 1999 für die „Times“ in Berlin, Samstagskolumne im „Tagesspiegel“, acht Bücher.
Wir leben immer noch auf zwei Planeten, die Briten und die Deutschen, und es ist nach wie vor die Ikonographie eines 60 Jahre zurückliegenden Krieges, an der sich die Unterschiede markieren lassen. Kürzlich rief der begabte deutsche Botschafter in London, Thomas Matussek, in einer Rede die Briten dazu auf, Deutsch zu lernen. Armer Herr Matussek. Zuvor hatte er an die Briten appelliert, mehr über die jüngste deutsche Vergangenheit zu lernen, endlich der Hitler-Obsession zu entsagen.
Diese Aufrufe stoßen zweifellos auf taube Ohren. Das Problem, Herr Matussek, ist nicht das britische Schulsystem oder ein genetisches Gespür für die subtilen Hintergründe des Faust. Vielmehr liegt es an einer mangelnden Neugier der Briten an Europa. Solange dieser Mangel herrscht, wird es keine gemeinsame Sprache geben. Für die Briten – man mag das Arroganz nennen – ist der wesentliche Referenzpunkt im globalen Gefüge Amerika. Das war nicht immer so.
In den 1950ern, als die Erinnerungen an den Krieg noch ganz frisch waren, war das Verhältnis zwischen Briten und Deutschen sehr viel lebhafter. Ein ehemaliger britischer Soldat besaß in der Regel großen Respekt für einen ehemaligen deutschen Soldaten (sie hatten natürlich weniger direkten Kontakt mit der mörderischen SS als mit Russland-Veteranen). Viele britische Soldaten, die in Deutschland stationiert waren, heirateten deutsche Frauen. Der Wiederaufbau des modernen Westdeutschlands wurde nicht alleine ein Imperativ des Kalten Krieges, sondern eine moralische Verpflichtung, gar ein Freundschaftsakt.
Dann kam die historische Zeitenwende. Die deutsche Wirtschaft florierte, die britische Wirtschaft stagnierte. Deutschland wurde zu einem erfolgreichen Wettbewerbspartner: moderner als wir, flexibler als wir und weniger geschädigt von der Geschichte. Die Deutschen wurden zu Massentouristen und konnten an den Stränden Spaniens mehr Geld verprassen als unsereins. Daraufhin wurden die Briten feindselig. Ein Gefühl, das auf persönlicher Ebene unattraktiv
macht; auf nationaler Ebene ist es hässlich.
Die Briten haben ihre Haltung gegenüber Deutschland zu schnell geändert: 1945 waren die Deutschen der verachtete Feind, 1955 der zunehmend sympathische Verlierertyp, bis sie 1965 zum Wettbewerbsgegner wurden, der unsere eigene Inkompetenz zum Vorschein brachte. Margaret Thatcher war es, die diese nationale Konfusion manipulierte. Da Deutschlands Aufstieg zu einer europäischen Spitzenmacht unser eigenes Empfinden von einem Niedergang hervorgekehrt hat, ist Deutschland wieder zu unserem Feind geworden.
Witze über – oder besser: gegen – Deutsche wurden zu dieser Zeit, in den 1980er Jahren, besonders giftig. Und blieben so. Neulich beschrieb ein britischer Motorjournalist das Design eines deutschen Autos, indem er seinen Arm zu einem Hitlergruß erhob – das sei, sagte er, der Winkel, in dem Deutsche ihre Kotflügel gestalten. Deutsche Keilriemen seien auf 1000 Jahre Unkaputtbarkeit produziert, das Satelliten-Navigationssystem sei für eine Invasion nach Polen programmiert. Das Publikum lachte. Lustig? Ich denke nein. Der britische Humor ist in einer Art Nazi-Burleske stecken geblieben. Die Generation, die heute am lautesten darüber lacht, wurde in der Thatcher-Ära geboren.
Die Intention des Humor ist keine sanfte Selbstverlachung – die gute alte britische Spezialität – sondern eine chauvinistische Deklaration: Wir sind besser als die Deutschen! Ich wünschte, es wäre anders. Es sollte die Briten nicht all zuviel Vorstellungskraft kosten, um zu erkennen, dass dieser Humor nicht nur feindselig gegenüber den Deutschen ist, sondern auch gegenüber den Opfern des Nazismus. Wer Hitler trivialisiert, trivialisierst das Leiden. Vielleicht sollten Herr Matussek und seine Diplomaten damit aufhören, die Deutschen in England als eine unterdrückte Minderheit darzustellen und den obersten Rabbi für den Kampf gegen die Naziburleske engagieren.
Wie lässt sich bei den Briten ein Interesse für Deutschland entzünden? Britische Touristen strömen in Massen per Billigflug nach Berlin, um die neuesten Clubs auszuprobieren oder ein authentischeres Weihnachten zu erleben. Doch der Rest von Deutschland wird vernachlässigt, als irrelevant empfunden. Vielleicht ist der Bürgermeister von Nürnberg am Ende doch auf der richtigen Fährte: Wenn Deutschland schon den Versuch unternimmt, England zu erziehen, warum sollte man nicht mit den Fußballfans anfangen?
Roger Boyes, Journalist, Jg. 1952, Studium der Theologie, Germanistik und Pol. Wiss., Reuters Moskau 1976, „Financial Times“ 1978-1981, „Times“-Korrespondent Warschau, Rom, Osteuropa und Bonn, seit 1999 für die „Times“ in Berlin, Samstagskolumne im „Tagesspiegel“, acht Bücher.