Die Castingshow: Moralische Anstalt unter den Bedingungen der Massengesellschaft

Von Richard Herzinger |
Castingshows erweisen sich als dauerhafte Erfolgsformate - ungerührt von kulturkritischen Verdammungen, die darin nur "Pöbelfernsehen" erkennen wollen. Sie fesseln übrigens keineswegs nur Zuschauer der "Unterschicht", sondern auch das besser gebildete Publikum.
Zudem entwickeln sie sich immer mehr zu Aufregern in der gesellschaftlichen Debatte. Dabei greift der oft erhobene Vorwurf, in Castingshows der Privatsender würden arglose junge Talente einer gnadenlosen öffentlichen Zurschaustellung ausgeliefert und verheizt, ins Leere. Denn er verkennt den inszenatorischen Charakter dieses Formats.

Den Kandidaten ist in der Regel durchaus klar, dass sie sich nicht an einem rein objektiven Leistungswettbewerb beteiligen, sondern an einer Unterhaltungssendung, deren Hauptanliegen es ist, durch die Dramatisierung von Konkurrenzsituationen die Aufmerksamkeit des Publikums zu erregen und es durch immer neue, überraschende Reize und Effekte an sich zu binden.

Die Kandidaten werden dabei im Sinne einer Gesamtdramaturgie gezielt auf bestimmte Rollen festgelegt. Entlang solcher Rollenverteilungen werden Konflikte und Konfrontationen provoziert, die das Publikum polarisieren und anregen sollen, Position zu beziehen und auch jenseits der Sendezeiten über die moralischen und psychologischen Konstellationen in der Show zu diskutieren.

Dieses Prinzip kulminierte in der jüngsten DSDS-Staffel in einem martialisch in Szene gesetzten Duell: Auf der einen Seite der als liebender, verantwortungsbewusster junger Familienvater präsentierte Mehrzad Marashi, auf der anderen Menowin Fröhlich, der eine Karriere als Kleinkrimineller hinter sich hat, und dessen Streben nach dem "Superstar" zu seiner existenziellen "zweiten" – will heißen: letzten Chance stilisiert wurde. Der in Boulevardzeitungen spektakulär aufgemachte Verdacht, Menowin habe sich neuerliche Straftaten zuschulden kommen lassen, kostete ihn vermutlich den Sieg in der Publikumsabstimmung, obwohl er sich im Finale eindeutig als der weitaus bessere und originellere Sänger und Performer erwiesen hatte. Doch zugleich sicherte diese Boulevard-Kampagne Menowin auch den Großteil der öffentlichen Aufmerksamkeit, weckte Neugier auf seinen weiteren Werdegang und verschaffte ihm damit eine Popularität, die die des Siegers womöglich auf Dauer überstrahlen wird.

Dass die eigentliche Leistungsabfrage tendenziell in den Hintergrund rückt und das soziale, zwischenmenschliche Mit- und Gegeneinander im Dreieck Jury-Kandidaten-Publikum zur Hauptsache wird, ist kein Defekt, sondern das eigentliche Erfolgsgeheimnis dieser Art von Shows. Es fällt auf, wie diese Konfliktanordnung in eine moralische Dimension gerückt wird, indem in letzter Instanz vor allem die charakterlichen Standards der Kandidaten bewertet werden. Plötzlich wird nun wieder "faires", "anständiges", also sozialverträglich normiertes Verhalten eingeklagt, wo doch gerade noch der unbedingte Sieges- und Durchsetzungswille als Voraussetzung für jegliche Karriere beschworen worden war.

Die als potenzielle "Superstars" angetretenen Kandidaten werden so wieder auf Alltagsgröße reduziert, was dem Zuschauer die direkte Identifikation mit ihrem Wohl und Wehe, ihren Stärken und Schwächen erlaubt. Zugespitzt gesagt, handelt es sich bei Shows wie DSDS um eine Art moralische Anstalt unter den Bedingungen der Massengesellschaft. Castingshows simulieren dabei speziell die härter werdende Konkurrenz in der Gesellschaft und somit eine Situation, die jeden angeht und berührt. Im spielerischen Ritual der täuschend echten Inszenierung wird sie aber existenziell entschärft und kann so als aufregende Unterhaltung genossen werden.

Dr. Richard Herzinger, Jahrgang 1955, ist Journalist und Buchautor. Er arbeitet als politischer Korrespondent der ‚Welt’ und der ‚Welt am Sonntag’. Zuvor war Herzinger Deutschlandkorrespondent der in Zürich erscheinenden "Weltwoche" und arbeitete als Redakteur und Autor der Wochenzeitung "DIE ZEIT". Letzte Buchveröffentlichungen: "Die Tyrannei des Gemeinsinns - ein Bekenntnis zur egoistischen Gesellschaft" und "Republik ohne Mitte".