"Die Buhlschaft ist eine Projektionsfläche"

Moderation: Holger Hettinger |
Intendant Jürgen Flimm, hat die Aufführung des "Jedermann" zur Eröffnung der Salzburger Festspiele verteidigt. "Man muss mal darüber nachdenken, dass ein Stück, was seit 80 Jahren auf dem Spielplan ist, was fast 600 Vorstellungen hinter sich hat, dass an dem Stück irgend etwas dran ist", sagte Flimm. Es sei zudem eine "sehr schöne Aufführung geworden, wieder mal", ergänzte Flimm.
Holger Hettinger: Was ist da los bei den Salzburger Festspielen? Anna Netrebko: abgesagt, Vesselina Kasarova: abgesagt, Rolando Villazon: abgesagt. Die Gesangsstars fallen gleich reihenweise aus, das trübt die Festspielfreude am Mönchsberg.

Über den Umgang mit erkrankten Stars und einem verschnupften Publikum reden wir nun mit Jürgen Flimm. Er ist seit dieser Saison der Intendant der traditionsreichen Salzburger Festspiele und nun live am Telefon. Schönen guten Morgen, Herr Flimm!

Jürgen Flimm: Ja, einen schönen guten Morgen.

Hettinger: Herr Flimm, die Liste der Absagen von Gesangsstars ist mittlerweile so lang, dass die Boulevardpresse von einem Skandal spricht. Jetzt haben Sie angekündigt, es wird einige ernsthafte Gespräche geben müssen mit manchen Sängerinnen und Sängern. Glauben Sie denen nicht?

Flimm: Die Liste ist ja nicht so lang, die Liste ist normal lang. Wenn man sich eine Opernspielzeit vornimmt, da kommt das ja alle naslang vor, dass Leute krank werden. Das ist bei jedem Falle anders. Abgesagt ist nicht der richtige Ausdruck, abgesagt hat eigentlich nur die Garanca, die Netrebko ist krank, der Shicoff war etwas gebeutelt, nervlich nicht gut dabei. Die Vesselina Kasarova hat sich die Bänder im Fuß gerissen, nicht in Salzburg, sondern in München.

Also abgesagt ist nicht so wahnsinnig viel, sondern die Leute sind krank. Abgesagt ist, wenn jemand beleidigt ist, hinschmeißt und dann nach Capri fährt, anstatt zu arbeiten. Das muss man ein bisschen differenzieren. Das Publikum ist auch überhaupt nicht verschnupft, sondern wir hatten, wenn man es mal zynisch sagen würde, einen No-Name-Start. Wir haben einen fulminanten Start hingelegt mit "Armida" und mit dem "Eugen Onegin" und mit unseren Konzerten am ersten Wochenende. Da war niemand verschnupft. Wir haben großen Erfolg, die Aufführungen sind zu 95 Prozent verkauft, also quasi ausverkauft, davon kann man nicht reden.

Hettinger: Aber wenn dort jemand eine …

Flimm: … aber dass sich die Presse auf so was stürzt, ist ja klar.

Hettinger: Aber wenn ein Festivalgast viel Geld ausgibt, um die Netrebko oder Villazón zu hören, und dann singt jemand anderes – können Sie das nicht nachvollziehen, dass die Leute dann enttäuscht sind?

Flimm: Ja, wir müssen dann sehen, wer anderes singt. Gestern Abend hatten wir ja nun das berühmte Netrebko-Konzert, und da hat der Andreas Scholl gesungen und die Christine Schäfer, und das war ein einhelliger riesiger Jubel. Als die Frau Schäfer auf die Bühne kam, gab es einen demonstrativen enorm langen Auftrittsapplaus und es war einer der schönsten "Stabat mater", die ich je gehört habe, und die Reaktion war einhellig, wenn man durch die Wandelhallen ging und mit den Leuten gesprochen hat. Also so ist es ja nun nicht.

Hettinger: Sie haben gesagt, diese Ausfälle seien eine gute Gelegenheit, mehr über Kunst statt über Kommerz nachzudenken. Aber nicht zuletzt wegen der großen Namen haben die Festspiele doch auch ihren einzigartigen Glanz?

Flimm: Finden Sie? Also wir haben immer unser einzigartigen Glanz gehabt über unsere tollen Produktionen, doch nicht über die großen Namen. Das sind ja gar nicht genug, um fünf Wochen mit 220 Veranstaltungen durchzuhalten. Also zwei, drei große Namen sind einfach dann zu wenig, da müssten wir 25 große Namen haben oder 30. Wir haben dieses Jahr eine ganze Reihe von wunderbaren jungen Sängern hier präsentiert. Das ist die Dasch und die Frau Erdmann und, und, und, und. Und der Relyea aus dem "Freischütz". Also es ist eine unendliche Menge, und die prägen unsere Festspiele.

Hettinger: Diese Namen, die Sie da genannt haben, die kommen auch in Ihrer Festspielzeitschrift vor. Sie sagen, es ist das Jahr der Entdeckungen. Viele junge Künstler sind hier in Salzburg am Start. Dabei sind das doch Namen, die seit Jahren Leistungsträger in der deutschsprachigen Opernwelt sind. Warum dauert das so lange, bis solche Kräfte, deren Namen man jetzt vielleicht nicht unbedingt aus der "Bunten" kennt, überhaupt als Stars wahrgenommen werden?

Flimm: Wir müssen das Wort Star mal untersuchen, was ein Star ist. Ein Star ist jemand, der überdurchschnittliche Leistungen bringt und der sich also mit der gewissen Art von Glamour umgibt. Das ist ja nicht immer synonym mit Leistung, so wie das Wort jetzt gebraucht wird.

Frau Dasch hat voriges Jahr hier schon gesungen, Frau Erdmann hat auch voriges Jahr hier gesungen schon. Das sind Leute, die lange mit den Festspielen zusammenarbeiten. Und nun bekommen sie beide herausragende Aufgaben. Die Dasch hat diese "Armida" ganz unglaublich durchgezogen und hat diese Aufführung entscheidend bestimmt. Der Starkult ist mir persönlich besonders abhold, muss ich sagen.

Hettinger: Herr Flimm, Sie haben viele alte Zöpfe abgeschnitten, der laufenden Festspiel-Saison ein aufklärungskritisches und aufklärungsergänzendes Motto gegeben. "Nachtseite der Vernunft" heißt das. Sie haben junge Regiehandschriften gefördert. Und doch steht am Anfang der Festspiele wie seit anno dunnemals der "Jedermann". Ist das ein Problem?

Flimm: Nein, das ist überhaupt kein Problem. Sie müssen mal drüber nachdenken, nicht Sie, sondern man muss mal darüber nachdenken, dass ein Stück, was seit 80 Jahren auf dem Spielplan ist, was fast 600 Vorstellungen hinter sich hat, dass an dem Stück irgend etwas dran ist. Und wenn man abends dann hier sitzt, und es ist eine Nachtvorstellung und man sieht den Dom und dann geht die Sonne unter und man schaut sich dann dieses merkwürdige Spiel an über das Leben und Sterben von diesem Jedermann, dann gibt es wenige, die nicht irgendwann doch sagen, huch, jetzt hat’s mich aber erwischt.

Hettinger: Wobei, die meisten erwischt’s ja dann …

Flimm: Außerdem ist die Aufführung noch mal restauriert, wieder aufgenommen, von dem Regisseur selber, von Stückl wieder restauriert worden, und es ist eine sehr schöne Aufführung geworden, wieder mal.

Hettinger: Wobei, das, was die Leute am meisten packt, ist ja immer diese alljährliche Frage, wer spielt denn nun die Buhlschaft. Können Sie sich erklären, warum das so ein Boulevardtheater ist?

Flimm: Das ist eine Projektionsfläche. Die Buhlschaft, das war immer, ist gar keine große Rolle. Die kommt ja nur in einem Teil des Stückes vor, und dann verlässt sie schon ihren geliebten Jedermann, schnöde. Und das ist immer ein beliebtes Stück, das weiß ich auch nicht, woran das liegt. Das wird seit Jahren gespielt, seit, dass es das Stück gibt. Wahrscheinlich ist das eine Projektion geheimer Gelüste.

Hettinger: Marie Bäumer in diesem Jahr. Ihr Schauspielchef Thomas Oberender hat gesagt, Salzburg ist einerseits sehr provinziell, andererseits sehr weltgewandt. In diesem Spannungsfeld kann man sich gut einrichten. Wie haben Sie sich denn da eingerichtet?

Flimm: Ach, wissen Sie, ich bin schon seit 1987 hier, ich bin ein ganz alter Salzburg-Veteran. Ich habe schon ‛87 im Landestheater inszeniert, dreimal hintereinander. Dann habe ich drei Opern hier gemacht, war unter allen Intendant. Das war noch zu Karajans Zeit. Und dann war ich bei Mortier und dann war ich bei Ruzicka.

Ich kenn das sehr gut, ich muss mich nicht erst noch einrichten. Ich habe die Stadt sehr gerne, das ist eine wunderbare Stadt mit diesem barocken klerikalen Kern, das kennt man nördlich der Alpen ja überhaupt nicht. Und im Winter verfällt diese Stadt in einen fast rührenden Dornröschenschlaf, dann wird sie ganz provinziell, aber so provinziell wie wir es von Fellini-Filmen aus Norditalien kennen.

Und im Sommer putzt sie sich schön raus, und dann wird sie auch freundlich und dann kommen die Stars und das Publikum und alle. Und dann haben wir halt eine schöne Zeit. Wir haben dieses Jahr hier 220 Veranstaltungen in fünfeinhalb Wochen, das ist natürlich heftig.

Hettinger: Und solche Veranstaltungen zu stemmen, so viele in so kurzer Zeit, ist natürlich auch eine Frage der Finanzierung. Die "Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung" hat sich beklagt, Sie hätten in Ihrer Eröffnungsrede nichts gesagt zur "immer dreisteren Einflussnahme der Sponsoren auf Inhalte und Programm". Sie haben jetzt die schöne Gelegenheit, das nachzuholen.

Flimm: Ja, ja, dieser Journalist, dem könnte man mit einem Goethe-Zitat entgegnen: Du ahnungsloser Engel, du. Der hat keine Ahnung, er hätte mal nachfragen müssen. Die Sponsoren bestreiten sage und schreibe 8 Prozent unseres gesamten Etats, da kann von Anspruch keine Rede sein. Ich habe es auch noch nie erlebt in all den vielen Jahren, das sind jetzt 20 Jahre, dass irgendein Sponsor gesagt hat, das nicht oder das ja.

Dass die Sponsoren ihre Partys feiern, das kann man ihnen nicht verbieten, das ist ja auch lustig. So. Also das ist ein völliger Quatsch. Außerdem war meine Rede nicht dazu angelegt, eine allgemeine sponsorensoziologisch kritische Rede zu halten, sondern ich habe über was ganz anderes gesprochen, was mich seit Jahren interessiert. Warum wir so ein schwieriges Verhältnis zur zeitgenössischen Musik haben und ob nicht die zeitgenössische Musik längst ihren Boden verloren hat und diesen an die sogenannten U-Kultur abgegeben hat, die sich mittlerweile ja seit Jahrzehnten in eine E-Kultur verwandelt hat. Das war mein Thema, und nicht zu sagen, ach, die bösen Sponsoren, das hängt einem ja meterlang zum Hals raus, diese Debatte.

Hettinger: Nun wollen Sie doch gerade für die Salzburger Festspiele Zeitgenössisches mehr machen. Sie haben gesagt, wir wollen versuchen, mehr Zeitgenössisches zu produzieren. Wenn man jetzt aber auf die Musiktheaterbeiträge in diesem Jahr schaut, findet man, mit Verlaub, eher gute alte Bekannte des Opernrepertoires.

Flimm: Ja, mit Verlaub, finden Sie noch was anderes. Mit Verlaub finden Sie zwei, drei Formate, die es hier gar nicht vorher gegeben hat. Also der Christoph Marthaler, den haben wir gebeten, zu unserer Programm "Kontinent Scelsi", die sich mit dem italienischen wunderbaren Komponist Scelsi beschäftigt, einen Theaterabend zu entwickeln. Das ist zwar keine Oper, aber es ist was Neues und ist ziemlich zeitgenössisch.

Wir haben auch den Jan Fabre gebeten, sich mit dem Thema auseinanderzusetzen im musisch-theatralischen Sinne. Das heißt "Metamorphosen", den Abend, den der macht. Also wir versuchen da schon, wo wir jetzt nicht direkt die neuste Uraufführung machen können, weil das ist eine komplizierte und schwierige Sache, versuchen wir, andere Formate zu entwickeln. Das ist für Salzburg geradezu schockierend neu.

Hettinger: Aber wenn man sich aufs Opernprogramm mal kapriziert, "Armida" von Haydn, "Onegin" Tschaikowsky, dann der "Freischütz", das sind doch eigentlich dann doch eher die Klassiker und weniger das Moderne.

Flimm: Ja, "Armida" ist ja eine Oper, die überhaupt kein Mensch kennt, in Anführungszeichen. "Armida" ist eine Oper von einem Komponisten, der hier ein einziges Mal in der Festspielzeit gezeigt wurde, nämlich in den letzten 80 Jahren, und das ist eine Oper, die sich sehr interessant mit bestimmten Problemen, die wir heute alle haben, nämlich mit dem Problem des kulturellen Clashs, wenn Sie so wollen, auseinandersetzen zwischen dem Orient und dem Okzident. Das ist ein hochinteressantes Werk.

"Onegin" ist überhaupt noch nie in Salzburg gespielt worden, was einen völlig schockiert. Der "Freischütz" ist einmal gespielt worden vor 50 Jahren, von Herrn Furtwängler dirigiert und von Rennert inszeniert. Also das sind alles Sachen, die eigentlich mal ein bisschen nachgeholt werden müssten hier.

Hettinger: Vielen Dank, Jürgen Flimm, der Intendant der Salzburger …

Flimm: Aber das Moderne wird verstärkt kommen, schauen Sie mal auf die Programme von ‛08, ‛09, ‛10, ‛11.

Hettinger: Was sagt denn das Publikum dazu, die gelten ja eher als wertkonservativ?

Flimm: Das ist auch so ein Vorurteil. Also die Scelsi-Konzerte, die wir haben, die große Reihe hier in der Kollegienkirche und anderswo, sind voll und rufen große Begeisterung hervor. Das Problem, was wir hier alle haben, das kennen Sie von Ihrer Anstalt wahrscheinlich auch, dass die Produzenten immer das Publikum für blöder halten als sie selber sind, und man fragt sich eigentlich, warum.

Hettinger: Danke schön, Jürgen Flimm.