Die Belagerung Budapests durch die Rote Armee

Sándor Márai wollte den Roman "Befreiung" offenbar nicht publizieren. Er steckt voller Wiederholungen, weist einige Ungereimtheiten sowie die Unwahrscheinlichkeit auf, dass einige Wochen vor der Befreiung des KZ Auschwitz ein ehemaliger Häftling in Budapest von Dr. Mengele erzählt.
Im Sommer 1945 skizziert Sándor Márai im Tagebuch einen Roman mit dem Titel "Befreiung" über die Belagerung Budapests durch die Rote Armee:

"Die Frau beschreibt die Belagerung, die Pfeilkreuzler, den Keller, die Nächte und Tage im Keller, das Warten, das immer verzehrender, immer schrecklicher, unerträglicher wird; und dann die Befreiung. Eines Morgens erscheint ein Russe im Keller. (Vielleicht der blonde Sibirier, der eines Nachts bei uns gewesen war.) Und vergeht sich an der Frau. Auf der Straße toben noch die Kämpfe. Und der Russe geht wortlos weg."

Diesen Roman um eine Frau mit dem Decknamen Erzsébeth Sós schreibt Márai kurz darauf in sieben Wochen nieder. Er erweitert die Handlung um den Vater der Hauptperson, der als Liberaler und Judenfreund von den faschistischen Pfeilkreuzlern gehasst wird und den seine Tochter mit Hilfe eines Hausmeisters versteckt.

Erzsébeth flieht in einen überfüllten Luftschutzkeller nahebei. In der hilflos wartenden Menge erlebt sie den stillen Tod eines Kranken und die Ermordung eines untergetauchten Juden durch Pfeilkreuzler. Ihre Nachbarin, eine junge Frau, erzählt ihr von Dr. Mengele im KZ Auschwitz, der andere Kellernachbar ist ein kühl kalkulierender, behinderter älterer Mann, dem Erzsébeth unvermittelt vorwirft, hochmütig wie alle Juden zu sein. Dann erscheinen die Deutschen, schließlich jener zunächst nicht unfreundliche Russe, der sie vergewaltigen wird. Neben seinem Leichnam steht sie später auf der Straße: "Es scheint, ich bin frei."

"Befreiung" wurde vor zehn Jahren in Ungarn erstmals veröffentlicht. Márai hatte das Buch in den Überseekoffer gelegt, der ihn 1948 in das US-amerikanische Exil begleitete. Der berühmte Autor, der nach der deutschen Okkupation am 19. März 1944 und unter der Terrorherrschaft der Pfeilkreuzler nichts mehr veröffentlicht hatte, wollte es offenbar nicht publizieren. Er besaß nach dem Krieg sieben fertige und drei unvollendete Manuskripte und wusste wohl auch, dass "Befreiung" kein überzeugender Roman war. Er steckt voller Wiederholungen, weist einige Ungereimtheiten sowie die Unwahrscheinlichkeit auf, dass einige Wochen vor der Befreiung des KZ Auschwitz ein ehemaliger Häftling in Budapest von Dr. Mengele erzählt. Zudem scheint der Erzähler seine notdürftig skizzierte Hauptperson in der ersten Hälfte oft zu vergessen.

In seinem Nachwort begreift László Földenyi den Roman als einen Klärungsversuch. Der vom Antisemitismus der Ungarn, ihren fehlenden "moralischen Abwehrkräften", wie es im Roman heißt, angeekelte Márai habe ergründen wollen, ob seine Landsleute durch das Leiden und durch die Befreiung vom Nazi-Terror zur Freiheit gelangen könnten. Ganz überzeugend ist dieser Rettungsversuch nicht – Márai beendet bereits die Inhaltsskizze im Tagebuch mit dem Satz: "Die Befreiung gibt es nicht."

"Befreiung" trägt Züge eines existenzialistischen Dramas. In verschiedenen Akten erörtern meist zwei Antagonisten Humanität, Verantwortung, Antisemitismus, Haltung, Freiheit. Es sind drängende Fragen und Themen in einer historischen Umbruchsituation, und sie sind Sándor Márai erkennbar wichtiger als die Figuren, die er noch glaubt zu benötigen. Die Antworten zeigen, dass er geistig bereits auf dem Weg in das Exil ist.

Besprochen von Jörg Plath

Sándor Márai: Befreiung
Mit einem Nachwort von László Földenyi
Aus dem Ungarischen von Christina Kunze
Piper
208 Seiten, 16,95 Euro