Die befreiende Lehre Jesu

Rezensiert von Dr. Thomas Kroll · 04.10.2005
Hat Jesus seine Gleichnisse wirklich so gemeint, wie die kirchliche Tradition sie versteht? Luise Schottroff deckt in ihrem Buch "Die Gleichnisse Jesu" den sozialgeschichtlichen Kontext der Gleichnisse Jesu auf. Sie zeigt, wie das herkömmliche Verständnis der Bildreden Jesu in die Irre führt und macht sichtbar, welch befreiende Botschaft Jesu Lehre tatsächlich enthält.
Hat Jesus seine Gleichnisse wirklich so gemeint, wie die kirchliche Tradition sie versteht? Luise Schottroff deckt in ihrem Buch "Die Gleichnisse Jesu" den sozialgeschichtlichen Kontext der Gleichnisse Jesu auf. Sie zeigt, wie das herkömmliche Verständnis der Bildreden Jesu in die Irre führt und macht sichtbar, welch befreiende Botschaft Jesu Lehre tatsächlich enthält.

In den ersten drei Evangelien wird Jesus als Meister der öffentlichen Gleichnisrede dargestellt. Mit kurzen, einfachen Geschichten, die auf den Alltag seiner Zuhörerschaft eingehen und weitgehend auf theologische Begriffe verzichten, ist Jesus bemüht, auf Gottes Wirklichkeit und Wirken aufmerksam zu machen. Luise Schottroff deckt in ihrem Buch das zeit und sozialgeschichtliche Umfeld der Gleichnisse auf und lässt erkennen, welch befreienden Inhalt Jesu Lehre tatsächlich hat, wenn sie wieder als das verstanden wird, was sie ursprünglich war: eine im Gespräch vorgetragene Botschaft, die mit den Zuhörerinnen und Zuhörern rechnete und um deren wirkliche Lebensverhältnisse wusste.

Luise Schottroff versteht die Gleichniserzählungen Jesu als verdichtete Geschichten, die auf den Alltagserfahrungen seiner Zuhörerschaft beruhen. Oft sind die Gleichnisse durch wenige Brücken mit Aussagen über das Wirken Gottes verbunden. Heißt es anfangs eines Gleichnisses etwa "Das Königtum Gottes ist mit ... zu vergleichen", muss man sich bei der Auslegung vor einfachen Gleichsetzungen hüten. Gott ist doch kein tötender Großgrundbesitzer (Mk 12), kein beleidigter Gastgeber (Lk 14)! Derlei Missverständnissen ist die kirchliche Tradition Jahrhunderte lang erlegen, selbst heute ist die Gefahr solcher Fehldeutungen nicht gebannt.

Die ehemalige Professorin für Neues Testament beginnt ihr Buch mit einigen beispielhaften Auslegungen. Dann schiebt sie einen Theorieteil nach, in dem sie ihren neuen Ansatz der Gleichnisauslegung darlegt. Schließlich stellt sie die restlichen Gleichnisse Jesu im Gesamtzusammenhang der Evangelien vor.

"Ich lese die Gleichnisse als transparente fiktive Erzählungen über das wirkliche Leben, die die Zuhörenden lehren zu "sehen" im vollen Sinne des Wortes: den Gott Israels und Gottes Handeln in dieser zerstörten Welt zu erkennen."

Als Beispiel sei folgendes Gleichnis (Mt 25) erinnert: Mit Fackeln ziehen zehn junge Frauen los, um dem Bräutigam zu begegnen. Nur die Schlauen nehmen einen Ölvorrat mit auf den Weg. Der Bräutigam lässt auf sich warten; alle schlafen ein. Als der Erwartete endlich kommt, müssen die Dummen erst noch Öl nachkaufen, kommen zu spät zum Fest, stehen vor verriegelter Tür und erhalten bei der Bitte um Einlass die Antwort: "Ich kenne euch nicht."

Energisch wendet sich Schottroff gegen Auslegungen, die im Bräutigam den wiederkommenden Christus sehen und dessen harsche Schlussworte gerne überhören: Diese Deutungstradition macht "den Repräsentanten gesellschaftlichen Unrechts, den Bräutigam, zur göttlichen Figur und korrumpiert damit das Evangelium". Wer sich der Mühe einer sozialgeschichtlichen Analyse unterzieht, dringt mit Schottroff tiefer in das Geschehen ein.

Für die Fackelträgerinnen ist das Fest eine willkommene Gelegenheit, sich auf dem Heiratsmarkt zu präsentieren. So gesehen wirkt die Schlussszene umso schockierender und zeigt "das hässliche Gesicht, die harte Realität einer Gesellschaft, die Frauen über ihre Anpassung, Unterwerfung und die Ehe definiert". Eine trostlose Geschichte, insbesondere wenn man fragt: Warum sind die klugen Jungfrauen so unsolidarisch, warum der Bräutigam so abweisend?

Dennoch kann das Gleichnis Frohe Botschaft sein, versteht man es im Rahmen der Reden Jesu vom Ende der Weltzeit. Damit ist weniger die ferne Zukunft gemeint, eher die Jetztzeit, die Jesus zufolge von der spürbaren Nähe des Kommens Gottes geprägt ist. Ebendies will er mit Worten und Taten erfahrbar machen. Mehrfach vernimmt man in seinen Reden die Aufforderung: Bleibt wach! Für die Hörer des Gleichnisses hat dies zur Folge, die Gegenwart aus der Beziehung zum Kommen Gottes heraus zu verstehen. Dann kann deren Reaktion nur sein: Die Tür – sie charakterisiert die Weltzeit, die zu Ende geht – ist noch keineswegs geschlossen. Der Bräutigam kennt die jungen Frauen nicht, aber wir nehmen sie auf. Kurzum: Wir haben noch Zeit, die unterschiedlichen Formen der Gewalt zu beenden.

So verstanden geht es im Gleichnis von den Jungfrauen nicht darum, wer schließlich am Ende der Tage "im Gericht vor verschlossenen Türen stehen wird oder wer gerettet wird". Jesu Rede von der Endzeit öffnet vielmehr "die Gegenwart, verwandelt sie in eine Zeit des Hörens und Handelns".

Luise Schottroff: Die Gleichnisse Jesu
Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh 2005
318 Seiten, 19,90 Euro.