"Die Autoren von morgen entdecken"

Katja Nicodemus im Gespräch mit Britta Bürger · 10.02.2011
Im Wettbewerb um die Stars kann die Berlinale mit den finanzkräftigen Großfestivals nicht mithalten, sagt die Journalistin Katja Nicodemus. Als Alternative empfiehlt sie die Förderung von talentierten, jungen Filmschaffenden.
Britta Bürger: Der rote Teppich ist ausgerollt, denn heute Abend werden sie eröffnet, die 61. Internationalen Filmfestspiele Berlin. Damit beginnt für viele ein zehntägiger Ausnahmezustand, der früh um neun im Kino beginnt und meist spät in der Nacht endet. Und vor dem beginnenden Marathon ist Katja Nicodemus zu uns ins Studio gekommen, die Filmredakteurin der Wochenzeitung "Die Zeit" – schönen guten Morgen!

Katja Nicodemus: Hallo! In den Startlöchern jetzt sozusagen, ja.

Bürger: Der Jahrgang 2011 ist schlank, diesmal sind es nur 16 Filme, die um den Goldenen Bären und seine kleineren Brüder konkurrieren. Sechs weitere Filme laufen außer Konkurrenz, und als Zugpferd hat Berlinale-Chef Dieter Kosslick einen Film eingeladen, der bereits zehn Oscar-Nominierungen im Rücken hat, "True Grit", das neue Werk der Coen-Brüder. Frau Nicodemus, ist dieser Eröffnungsfilm jetzt ein geschickter Schachzug oder zeugt der eher von Einfallslosigkeit?

Nicodemus: Ich finde ja, ein Coen-Film ist immer ein Coen-Film und weniger ein Schachzug, deswegen bin ich da einfach sozusagen bedingungslos bewundernd erst mal. Und ich finde, das ist eben auch ein sehr gelungener Eröffnungsfilm, weil – ich meine, es ist ja ein Remake eines Westerns von Henry Hathaway. Die Geschichte ist eigentlich sehr einfach. Es ist eine Rachegeschichte, eine 14-Jährige will ihren Vater rächen, der von einem Halunken erschossen wurde, und sie engagiert einen US-Marschall, um den Mörder zu finden. Und es ist wirklich ein sehr harter Eröffnungsfilm, finde ich, deswegen auch kein Schachzug, denn er erspart uns nichts. Also es gibt wirklich abgehackte Finger, Exekutionen am Galgen, brutalste Schießereien, also richtig Coen-mäßig. Und dann finde ich eben, zu einem Eröffnungsfilm gehört auch immer ein kleines Staraufgebot – da haben wir Matt Damon, Jeff Bridges –, also auch in diesem Fall würde ich sagen: Aufgabe gelungen, setzen!

Bürger: Das ist ja ein sogenannter Spätwestern aus dem Jahr 1969, und die Coen-Brüder sind bekannt dafür, das amerikanische Genrekino regelmäßig zu demontieren. Wie machen die das jetzt in diesem Fall, in dem John Wayne damals als Hauptdarsteller sein Image als Rabauke ja schon selbst ironisiert hatte?

Nicodemus: Ja, das ist eine interessante Frage, und die Coens geben da auch eine sehr interessante Antwort drauf, finde ich, nämlich sie setzen dieser damaligen Demontage des Westerns sozusagen eine Remontage entgegen. Sie nehmen wirklich diese Geschichte dieser rächenden Tochter bitter, bitter ernst, ganz böse ernst, mit einem enormen Realismus, der auch manchmal fast schwer zu ertragen ist. Und Sie haben jetzt schon John Wayne erwähnt, und wenn man jetzt mal diese beiden Hauptdarsteller vergleicht, Jeff Bridges und John Wayne: John Wayne war halt der Haudegen, ein bisschen versoffen, aber trotzdem natürlich immer irgendwie auch glamourös, selbstironisch-heroisch, aber eben doch heroisch. Und Jeff Bridges, der ist jetzt nun wirklich ein abgehalfterter, heruntergekommener Säufer, ein Fettsack vor dem Herren, der manchmal nur noch lallt in ganzen Szenen. Also man kann den gar nicht mehr demontieren. Und letztlich bleiben die Coens sich übrigens auch selbst sehr treu in ihrer Kapitalismuskritik, auch da ist der Film unerbittlich realistisch. Es wird von vornherein gefeilscht, um Ponys, um Kopfgelder, da werden noch den Leichen die Zähne rausgebrochen – also wirklich harter Stoff.

Bürger: "No Country for Old Man", "Burn After Reading" und "A Serious Man", das waren die letzten großen Erfolge dieser beiden Brüder, wie reiht sich jetzt "True Grit" in das Gesamtwerk ein?

Nicodemus: Ich würde schon sagen eben in ihrem Amerika-Bild, sie haben ja immer wieder Amerika demontiert. Es ging um den Geheimdienst in "Burn After Reading", um Schönheitsoperationen, eigentlich alle amerikanischen Phänomene werden rundherum abgehakt und in die Tonne getreten, demontiert, dekonstruiert und eben auch in diesem Film, also sozusagen die Westernlandschaft, in der sich Amerika damals selbst erfunden hat, in dem sozusagen Claims abgesteckt wurden, Helden erfunden wurden, in dem sozusagen eine junge Frau ihren Vater rächt, für Recht und Ordnung sorgt, da bleibt eigentlich fast nichts mehr übrig außer, ja, Schmutz, Dreck und Verzweiflung. Und am Schluss landen sozusagen noch die letzten Helden dieses Films in einer Westernrevue, also sozusagen der große Western wird dann nur noch sozusagen zur Show. Also insofern, auch da bleiben sich die Coens treu in dieser Art von Demontage.

Bürger: "True Grit" hat Steven Spielberg produziert, ist bereits, ich hab es gesagt, für zehn Oscars nominiert, hat in den USA schon 150 Millionen Dollar eingespielt. In früheren Berlinale-Jahren, da gab es gleich mehrere solcher großen US-Produktionen. Das ist ja diesmal auffallend anders, das große Starkino macht sich rar. Woran liegt das?

Nicodemus: Die Frage ist eigentlich nur sehr umfassend zu beantworten, aber das ist schon ganz interessant. Man kann so eine kleine Aufklärungsrunde in Sachen Festivalpolitik mal machen, und zwar, einerseits hat Hollywood einfach nicht mehr so viel Geld. Das amerikanische Branchenblatt "Variety" hat vor ein paar Jahren mal ausgerechnet, was es kostet, wenn eine amerikanische Großproduktion auf ein Festival kommt und auch nur ein großer Star dabei ist – ich glaube, es wurde damals am Beispiel von Nicole Kidman ausgerechnet. Wenn Nicole Kidman kommt, dann kommt sie mit 50 Leuten. Da ist der Friseur dabei, die Kosmetikerin, Kostümbildner, Assistent, Assistent des Assistenten, Agent, vielleicht die beste Freundin. Das sind 50 Leute, die da kommen, und das Branchenblatt hat ausgerechnet, dass der Besuch von Nicole Kidman ein Festival ungefähr eine Million Dollar kostet. Das muss natürlich der Verleih oder die Produktionsfirma bezahlen, und das Geld sitzt eben in Hollywood nicht mehr so locker, also lädt man nicht mehr so einfach diese ganzen Filme ein.

Und der zweite sozusagen große strukturelle Grund, warum es nicht mehr so viele US-Produktionen gibt, liegt einfach darin: Der Oscar findet früher im Jahr statt. Das heißt, die amerikanischen Filme müssen früher starten, die Europapremieren müssen auch früher starten, das heißt, die Filme sind dann schon durch und können nicht mehr von einem Festival wie der Berlinale eingeladen werden. Und dadurch ist zum Beispiel ein Festival wie Toronto, das im September stattfindet, viel interessanter jetzt für die amerikanischen Großverleiher. Da lief zum Beispiel "The King's Speech" mit Colin Firth, der ja der große Oscar-Kandidat ist. Das sind alles so Gründe, die im Hintergrund eine Rolle spielen und für die die Berlinale jetzt erst mal nicht so viel kann.

Bürger: Und dieser Film wird jetzt auch dann gezeigt, "The King's Speech"?

Nicodemus: Genau, in einer Sondervorführung, Colin Firth kommt. Und vielleicht als kleines Aperçu: Früher hat man immer gesagt, wenn mal sechs amerikanische Großproduktionen auf der Berlinale liefen: Mein Gott, das Festival verkauft seine Seele an den Kommerz, haben jetzt nur noch die Amerikaner das Sagen? Und jetzt schreit man nach den Amerikanern. Also es sind auch immer zwei Seiten der Medaille.

Bürger: Seit Jahren wird ja auch danach geschielt, ob die anderen sogenannten europäischen A-Festivals, also in Cannes und Venedig, die besseren Filme und die interessanteren Stars präsentieren können, und zugleich entstehen eben, das haben Sie ja auch schon angedeutet, immer mehr internationale Festivals – in Abu Dhabi, in Dubai, in Doha –, die kaufen sich die Stars eben für sehr viel Geld ein. Welche Folgen hat das denn jetzt für die Berlinale?

Nicodemus: Es ist so: Die Berlinale kann natürlich mit diesen finanziell unglaublich gut ausgestatteten Festivals auf einer gewissen Ebene nicht konkurrieren. Also wenn jetzt zum Beispiel, neulich war das, glaube ich, mal Monica Bellucci, wenn die nach Rom geht, auch so ein sehr reiches Festival, da kriegt die allein 100.000 Dollar Abendgage, wenn sie über den roten Teppich läuft. Dazu kommen dann Luxusuhren, Limousinen und so weiter, richtige Geschenke, also es ist so eine Art von, ich würde es mal nennen nicht justiziable Korruption im Festivalbusiness. Da kann die Berlinale nicht mithalten. Und auf der anderen Seite muss man sagen, es kommen auch immer mehr Filme ins Kino, auch das ist ein Problem, und in immer kürzerem Abstand zwischen dem Kinostart und der DVD-Auswertung. Das heißt, die Verleiher haben gar keine Zeit mehr, die Stars in diesen paar Monaten, die dazwischenliegen, auf irgendein Festival zu schicken. Also auch das ein großes strukturelles Problem für die Berlinale.

Bürger: Zum heutigen Auftakt der Internationalen Filmfestspiele Berlin ist Katja Nicodemus hier bei uns im Deutschlandradio Kultur, die Filmredakteurin der Wochenzeitung "Die Zeit". Im diesjährigen Wettbewerb, das klang jetzt schon durch, gibt es wenig richtig bekannte Namen, das muss ja aber nicht unbedingt ein Manko sein.

Nicodemus: Na, da steht die Berlinale natürlich in direkter Konkurrenz zu Cannes. Wenn ich da auch noch mal kurz den Hintergrund sagen kann: Natürlich, jetzt in Cannes schreien wieder alle, ja, Terrence Malick ist in Cannes, der neue Almodovar ist in Cannes. Gut, das ist das eine, aber Cannes hat eben nun mal auch eine andere Kinotradition im Rücken – da sind französische Weltvertriebe, die Filme haben französische Verleihe, die kommen danach in französische Kinos und haben ein Riesenpublikum zu erwarten. Gut. Die Berlinale auf der anderen Seite ist ein Großevent, wirklich ein tolles Publikumsfestival, die Säle sind voll, die Säle krachen auseinander, die Regisseure haben fantastische Aufführungen mit einer tollen Stimmung, und da kann die Berlinale innerhalb dieser Konkurrenz eigentlich nur eine Strategie einschlagen, nämlich die Flucht nach vorne. Sie muss die Autoren von morgen entdecken, und sie muss diesen Leuten ihr Forum bieten. Und da hat sie trotzdem immer sozusagen in den letzten Jahren auch eine Art Aufbauarbeit geleistet.

Bürger: Mit Ulrich Köhler zum Beispiel, dem Filmemacher, der es jetzt mit seinem neuen Film in den Wettbewerb geschafft hat, nachdem er sich ja mit seinen ersten beiden Filmen in den kleineren Sektionen, im Forum und im Panorama bewegt hat, "Bungalow" war der eine Film, "Montags kommen die Fenster" der andere. Jetzt also im Wettbewerb, "Schlafkrankheit" heißt der Film. Kann man sagen, die Berlinale züchtet sich somit ihre eigenen Stars heran?

Nicodemus: Ja, gerade auch beim Namen Ulrich Köhler. Ulrich Köhler ist ja ein Mitglied der Berliner Schule und da hat die Berlinale ja auch so eine Art Aufbauarbeit geleistet – Valeska Grisebach lief im Wettbewerb mit "Sehnsucht", Christian Petzold schon mehrmals mit seinen Filmen. Und das stimmt, da päppelt die Berlinale so ihre kleinen deutschen Autorenpflänzchen, die dann schon jetzt große Autorennamen sind, muss man sagen, und nicht nur in Frankreich und in Europa. Und auf der anderen Seite auch jetzt in diesem Wettbewerbsprogramm wirklich viele Neuentdeckungen und auch Leute, die inzwischen einen Namen haben. Es ist so irgendwie eine sehr, sehr gute Mischung, die sehr interessant ist und auch eine Herausforderung, als Kritiker und als Zuschauer.

Bürger: Die Berlinale als Entdeckungstour – welche anderen Filme vermitteln jetzt diesen Eindruck?

Nicodemus: Na, ich habe jetzt das Gefühl, wenn man so den Katalog durchguckt, dass es schon sehr politische Filme sind, mit sehr interessanten Ansätzen. Zum Beispiel ein ukrainischer Film über Tschernobyl, der von einem sehr guten Kameramann gemacht wurde, der in Cannes auch schon ausgezeichnet wurde. Man kann sich ja vorstellen, wenn man in Deutschland sozusagen so einen Film sehen würde von einer teamWorx-Produktion, da würde die wahrscheinlich heißen "Der Reaktor" oder so. Und das ist ein Film, der ganz nah bei den Menschen, bei der Katastrophe von Tschernobyl bleibt. Es gibt einen Film über albanische Blutrache, wo man auch nicht dachte, wenn man das so liest, mein Gott, das sind eher so Mafiaverhältnisse. Man hat schon das Gefühl, dass diese Filme extreme Verhältnisse abbilden und auf diese Weise eben auch sehr politisch sind.

Bürger: Und was ist mit der Erwartung, jetzt kämen endlich die großen Filme zur Finanzkrise?

Nicodemus: Ich habe das jetzt nicht so gesehen. Ich meine, das ist sozusagen eher der Bereich der Dokumentarfilme auf der Berlinale, da gibt es in diesem Jahr auch ein, zwei Sachen, aber ich finde, die Finanzkrise, hat man das Gefühl, da ist jetzt sozusagen das Festival schon weiter, sondern es zeigt eher die Alltagsverhältnisse in Ländern wie Indien, in Sri Lanka und so weiter. Und da muss man sagen, diese Leute haben Dauerkrise, da tut man sich selbst auch nicht mehr so leid mit unserer Krise.

Bürger: Heute Abend wird die Berlinale eröffnet. Sie könnten natürlich viele dieser Wettbewerbsfilme auch noch nicht sehen. Gibt es einen, auf den Sie besonders gespannt sind?

Nicodemus: Ich bin sehr gespannt auf den neuen Film von Andres Veiel "Wer wenn nicht wir", der beleuchtet die Geschichte des Schriftstellers und Politaktivisten Bernward Vesper, seine Liebesgeschichte mit Gudrun Ensslin. Und Andres Veiel steht ja für ein ganz interessantes Dokumentarfilmkino, wo er immer wieder die Geschichten seiner Helden umgräbt, sozusagen beleuchtet und ganz interessante Erkenntnisse hervorholt, und ich finde es enorm spannend, jetzt zu sehen, wie er diesen Aspekt der deutschen Terrorismusgeschichte in seinem Film beleuchtet. Das wird, glaube ich, noch mal ein anderer, interessanterer Baader-Meinhof-Komplex.

Bürger: Die Filmkritikerin Katja Nicodemus hat unsere Berlinale eröffnet vor dem offiziellen Auftakt der Internationalen Filmfestspiele heute Abend. Danke Ihnen für das Gespräch!