Die Autonomen

Von Alexandra Gerlich, Jens Rosbach und Alexa Hennings |
Die "Freie Republik Wendland" gibt es noch immer, die Dorfrepublik Rüterberg ebenfalls, obwohl bei letzterer der Grund ihrer Ausrufung vor 20 Jahren entfallen ist - mit dem Fall der Mauer.
Verschwunden in der Geschichte und häufig auch aus dem Gedächtnis sind dagegen die Exklave Steinstücken sowie die "Freie Republik Schwarzenberg". Im "Länderreport" wollen Geschichten von damals und heute erzählt werden.

Schwarzenberg - Von Alexandra Gerlach

Deutsche Orte als Lebensinseln auf dem Festland. Die deutsche Geschichte ist nicht gerade arm an solchen Berichten. Doch eine Erzählung fällt da raus, so bizarr ist sie, man mag sie zunächst kaum glauben. Da ist ein Krieg, schlimmer als der Dreißigjährige Krieg mit seinen verheerenden Verwüstungen, endlich beendet worden. Die siegreichen Armeen teilen das, was noch vom Hitlerreich übrig geblieben war, unter sich auf, aber ein Ort bleibt unbesetzt. Vergessen von den Besatzern. Schwarzenberg. Nur kurz währte die einzigartige Möglichkeit, dass Deutsche aus eigener Kraft und mit eigenem Kopf Demokratie nach dem Untergang wagen konnten. Was wäre, wenn … ?!

Mann: "Die Republik Schwarzenberg ist ein Konstrukt, das es so nicht gegeben hat. Die Republik Schwarzenberg ist entstanden aus einer künstlerischen Betrachtung, einer wahren Begebenheit in der Geschichte."

Mann: "Der Amerikaner stand bei Hartenstein, bei Auerbach, der Russe stand bei Annaberg und es wurden keine Kriegshandlungen mehr durchgeführt. Hier war unbesetzte Zone. Die Schwarzenberger wussten nicht, was ist nun Sache?"

Frau: "Warum es passiert ist, weiß bis heute noch niemand so wirklich 100-prozentig, aber sicher kann man auch davon ausgehen, dass es Kartenfehler gewesen sein könnten."

Fast 2.000 Quadratkilometer rund um Schwarzenberg im Erzgebirge blieben nach Kriegsende unbesetzt. Erst am 25. Juni 1945 rückten die Russen in die Stadt ein. Die Stadt war überfüllt mit Flüchtlingen, Kriegsgefangenen und Soldaten, es gab nichts zu essen und auch niemanden, der die Versorgung hätte übernehmen können. Keiner gab Anweisungen, keiner setzte demokratische Kräfte in die Verwaltungen ein. Das war die Geburtsstunde für den "Antifaschistischen Schwarzenberger Aktionsausschuss".

Heinz Grieger: "Am 11. Mai hat man sich mal zusammengetan, das waren überwiegend Kommunisten, und ist dann ins Rathaus gezogen. Und sie haben dann den Bürgermeister abgesetzt, den Stadtrat ausgetauscht und haben die neue Stadtverwaltung notgedrungen eingeführt."

Unter den Aktivisten der ersten Stunden sind fünf Parteimitglieder der KPD, drei Sozialdemokraten und ein Parteiloser. Nach Jahren der Unterdrückung und der Illegalität im Dritten Reich der Nazis gelangen die acht Männer und eine Frau nun an die Spitze der Macht. Diese haben sie im wahrsten Sinne des Wortes von der Straße genommen. Der Schriftsteller Stefan Heym wird später - in seinem 1984 erschienenen Roman "Schwarzenberg" - den Mythos einer Utopie von "Demokratie und Sozialismus" aus dieser Zeit schöpfen und damit eine Legende schaffen. Dabei geht es im Chaos der ersten Nachkriegstage offenbar weit weniger um politische Visionen als vielmehr um ganz praktische Notwendigkeiten, wie Stadtführer Heinz Grieger erklärt.

Grieger: "Also ne Repubik war es nie. Es war keine freie Republik, auch nicht; es war eine Notwendigkeit, dass es hier wirtschaftlich mal weitergehen musste."

Demokratisch nicht legitimiert, macht sich der Aktionsausschuss auch daran, bekannte Nazi-Größen und Mitläufer in der Stadt festzusetzen. Als Gefängnis dient der alte Schloss- und Festungsturm, heute ein Museum. Seit 2006 erinnert eine kleine Ausstellung an die unbesetzte Zeit. Die Museumsleiterin, Marlies Steinau:

"Wir haben hier die Lebensläufe von Leuten, die also hier im Turm eingesessen haben. Das sind mitunter ganz – ich würde sagen - normale Bürger. Lehrer, die hatten eine Gaststätte, Mann und Frau. Hier ist ein Beamter dabei, Hänichen war Landrat, Krauss, Friedrich-Emil Krauss ist unser Waschmaschinenfabrikant."

Allen ist das Parteibuch der NSDAP gemeinsam. Der Aktionsausschuss war nicht zimperlich, wer in Verdacht stand, kooperiert zu haben, lebte gefährlich in diesem rechtsfreien Raum, im Frühsommer 45.

Steinau: "Die sind von der Arbeit weggekommen und wurden von der Arbeit weg verhaftet. Und dann waren sie eben irgendwie weg, verschwunden."

Erst nach dem Mauerfall beginnt die Aufarbeitung dieses dunklen Teils der Stadtgeschichte. Doch die Aufarbeitung gestaltet sich schwierig. Übermächtig ist die von dem aus Chemnitz stammenden Schriftsteller Stefan Heym geschaffene Legende der "Republik Schwarzenberg". Eine Utopie von Freiheit, Demokratie und Sozialismus. Diese Vision lebte vor allem nach der Wende auf. Hätte es nicht einen anderen Weg geben können als den Beitritt zur Bundesrepublik? Das fragt auch die Schwarzenberger Künstlergruppe "Zone" um Jörg Beier. Der Kneipenwirt ist auch Galerist und sitzt zudem seit vielen Jahren im Stadtrat. Heute kann man sich bei ihm einen künstlerischen Reisepass der "Freien Republik Schwarzenberg" ausstellen lassen.

Jörg Beier: "Ich stemple das mal jetzt hier mit ab."

Das ist ein Teil der künstlerischen Vermarktung eines geschichtlichen Kuriosums, dessen Bedeutung für Beier tiefer liegt.

"Einfach so ein bissel ein utopischer Fixpunkt. Und auch so ein bisschen mit Zivilcourage und Selbstvertrauen und mit ganzem Einsatz für etwas kämpfen, wo man denkt, dass sich etwas bessert. Man hat ja gewisse Ideale, also nicht abwarten und auf 'die da oben' schimpfen, sondern aktiv - wie der Kästner sagt - 'es gibt nicht Gutes, außer man tut es.'"

Nicht so witzig fanden einige Schwarzenberger die Kunstaktionen der Gruppe "Zone" zum 60. Jahrestag der Ereignisse. Die Provokation entzündete eine Auseinandersetzung und Diskussion über Recht und Unrecht in der unbesetzten Zeit. Historiker wurden aktiv, kamen jedoch zu keinem endgültigen Ergebnis. Am Ende stand fest, dass die 42 Tage der Selbstverwaltung nach Kriegsende wohl ein Alleinstellungsmerkmal für die Stadt Schwarzenberg seien, sich jedoch nicht für eine unkritische touristische Vermarktung eignen. Stadtführer Heinz Grieger jedenfalls fühlt sich zerrissen zwischen machtvoller Legende und Wahrheit über die unbesetzte Zeit in Schwarzenberg:

"Die Sache verschiebt sich immer wieder. Deshalb muss man sehr vorsichtig sein. Und mancher geht enttäuscht hier weg von mir, wenn ich sage, ich muss Dir Deine Träume zerstreuen, so war es nicht. Wir können das nicht beweisen."


Steinbrücken - Von Jens Rosbach

Steinstücken. Kein bekannter Ort. Und doch ist so ziemlich alles, was Menschen so erwähnenswert finden könnten, gut erforscht. Steinstücken liegt geomorphologisch auf dem Babelsberg, entstand durch Bauern des Dorfes Stolpe erst 1787, eine "Kanonenbahn" teilt das Areal in zwei Hälften. Eigentlich ist es nur ein kleines Nest. Es ist so groß wie 13 Fußballfelder. Im Kalten Krieg war Steinstücken als Fleckchen heiß bekehrt. Der Ort mit seinen 120 Einwohnern war eine Exklave, war eingeschlossen von der DDR, gehörte aber zu Westberlin.

"Hier war die Mauer. Wir hatten nur Grenze, rundrum, ja. Und sehen dafür noch gut aus! (Lachen)."

Manfred Rettig läuft mit seinem Kumpel Gerd Knecht am Rande Steinstückens entlang. Rettig, 75 Jahre alt, ist groß und schwer. Knecht, 71, ist klein und schwer. Die beiden Rentner zeigen auf einen Wald, der in 60 Meter Entfernung beginnt. Da hinten bellten die Grenzhunde, erzählen sie aufgeregt, davor lief der Grenzgraben entlang und hier, wo wir jetzt stehen, stand die Mauer. Zwei Meter zwanzig hoch, mit Flutlicht um den ganzen Ort herum. War eigentlich nicht schön, sagt Knecht, aber es hatte auch Vorteile, in Steinstücken zu wohnen.

"Das war wie eine Oase. Abgeschlossen. Keiner kam, nicht hier, der uns bedrängte. Keine Zeugen Jehovas oder die ganzen Blättchenverkäufer. Alles, was hier wohnte – keine Türen verschlossen, nichts! Ich erinnere mich, dass wir Karten gespielt haben in der Nacht, ohne dass wir Licht anmachen mussten – das war voll beleuchtet!"

Gerd Knecht pendelte früher jeden Tag nach Westberlin, um dort zu arbeiten. Der Elektrohändler musste bei der Ausreise aus Steinstücken durch die Ost-Grenzkontrolle und dann, nach einem Kilometer auf der DDR-Straße, noch einmal: bei der Einreise in den Westbezirk Berlin-Zehlendorf. Abends alles in umgekehrter Reihenfolge – also vier Grenzübertritte pro Tag.

"Mein Ausweis sah nach kurzer Zeit aus wie ausgefleddert. Wenn man an dem Ausweis roch, dann roch der nach Waffenöl, weil immer der Finger von den Soldaten die Seiten umblätterte."

Die Mini-Exklave, gerade mal 350 mal 350 Meter groß, war ein Politikum. Bereits kurz nach Gründung der beiden deutschen Teilstatten, 1951, gab es hier den ersten großen Knall: Rote Armee und Volkspolizei marschierten in das Fleckchen ein. Die Besatzer wollten es Westberlin entlocken und dem benachbarten, ostdeutschen Potsdam angliedern. Ein Augenzeuge berichtete dem RIAS:

"Die Sowjetzonenbehörden bemühen sich zunächst mal, Sympathien zu gewinnen. Sie haben in den Wald einen großen Haufen Kartoffeln geschüttet und wollen also mit dieser Lockspeise nun die Einwohner gewinnen."

Die Volkspolizei bot den hungrigen Nachkriegsdeutschen in Steinstücken DDR-Lebensmittelkarten an, DDR-Geld und DDR-Pässe.

Rettig: "Aber die Steinstückener waren standhaft. Die haben sich offen dagegen gestellt und gewehrt. Wir sind keine DDR-Bewohner!"

Manfred Rettig und Gerd Knecht haben die Lokalgeschichte dokumentiert. Nach ihren Recherchen protestierte damals die US-Armee in Westberlin – und die Russen zogen wieder ab. 1952 wurden in Steinstücken schließlich dauerhaft drei bewaffnete GIs stationiert. Die Exklave sollte dennoch nicht zur Ruhe kommen. Nach dem Mauerbau 1961 versuchten immer wieder DDR-Bürger nach Steinstücken zu flüchten - auch ein Grenzsoldat, der dabei erschossen wurde. Einmal kam sogar ein ganzer Linienbus aus Potsdam angesaust.

Knecht: "Und dann ist der hier in dem westlichen Teil von Steinstücken durchgebrochen, in den Zaun rein und die Hälfte des Busses stand in Steinstücken, die andere Hälfte im Ostteil. Und die Volkspolizei, die war schon in dem Bus von hinten rein und wollte da nun noch versuchen, die Flüchtlinge zu bremsen. Und die sind alle raus, vorne raus und konnten dadurch hier nach Steinstücken entkommen. Und die wurden dann mit dem amerikanischen Hubschrauber ausgeflogen."

1971/72 änderte sich alles: Die DDR trat die Straße zwischen Steinstücken und dem Westbezirk Zehlendorf offiziell an Westberlin ab – im Rahmen eines Gebietstauschs. Zwar wurde nun links und rechts der Fahrbahn eine Grenzmauer errichtet. Aber die "Insel" war jetzt endgültig verbunden mit dem Westberliner "Festland". Steinstücken feierte das Ende der Exklave.

Knecht: "Und die teilten nur immer Freibier aus, Freibier (lacht) und das war der Erfolg."

1989 war es dann ganz vorbei mit dem Eingeschlossensein. Nach dem Mauerfall in Berlin wurde auch der Betonwall um die "Ex-Exklave" zertrümmert. In den Folgejahren zogen mehr als 500 Ost- und Westdeutsche in das 120-Seelen-Nest, da es dicht an Berlin liegt. Die neuen Steinstückener interessieren sich aber nicht für die Historie des Ortes, schimpft Rentner Rettig. Und betont: Mit denen habe er nichts zu tun!

"Heute halten nur noch die Alten, also die die DDR-Zeiten, die Abgrenzung, kennen gelernt haben, die halten noch so zusammen, wie es früher war. Trinken Bierchen, Schnäpschen, plauschen. Gott sei Dank!"

Natürlich war die jahrelange Isolation Mist, meinen die alteingesessenen Steinstückener. Aber irgendwie hatte es auch was für sich.

Rettig: "Ich habe früher von Kollegen Post bekommen, der hat meinen Namen geschrieben, 'Berlin – am Arsch der Welt'. Die Karte kam an! Die würde heute nicht mehr ankommen (lacht)."


Rüterberg - Von Alexa Hennings

Mancher Briefmarkensammler hat sich diesen besonderen Brief mit dem Markenstempel dieses einen Tages besorgt: 9. November 1989, abgestempelt in Rüterberg, in der "Dorfrepublik Rüterberg". Welchen Wert dieser postalische Tagesstempel hat, dies wissen wir nicht, wohl aber, dass er uns so manche Geschichte erzählen kann. Eben die der "Dorfrepublik Rüterberg", der wohl einzige Ort in den DDR, den ein Sicherheitszaun von seiner DDR trennte. Ein seltsames Gebaren, dass wer aus der DDR in die DDR wollte erst mal einen Passierschein zeigen musste. Und Besucher aus der DDR, die dort in die DDR wollten, sowieso!

Dunkelgrau, engmaschig, keinerlei Anzeichen von Rost, nichts ist verbeult oder verbogen: Wenn irgendetwas Qualität hatte in der DDR, dann waren es die Grenzzäune. Noch 20 Jahre später sehen sie fast wie neu aus, und weil man sie doch nicht einfach wegschmeißen kann, zäunten die Rüterberger kurzerhand ihre Hühner damit ein - und auf dem Friedhof ihre Toten, damit sich nicht etwa die Rehe des Grabschmucks bemächtigen.

Vor 20 Jahren, im Herbst, als sich wie in jedem Jahr die Graugänse auf der Elbwiese zum Abhauen sammelten und die Rüterberger dies – wie in jedem Jahr – mit Ingrimm registrierten, da geschah es, dass diesen bis dahin sehr duldsamen DDR-Bürgern endgültig der Kragen platzte. Seit 1967 war das Dorf nicht nur an der Elbseite mit Stacheldraht gen Westen abgeschottet, sondern auf allen Seiten standen Zäune. Der Elbbogen, in dem Rüterberg liegt, war komplett abgeriegelt. Der Ort war nur durch ein Tor und mit Passierschein zu betreten, an ein Bier in der Nachbarstadt Dömitz war nicht zu denken, 23 Uhr schloss sich das Tor zum Dorf. Zutritt hatten selbst ostdeutsche Verwandte nur ausnahmsweise, wer nach 23 Uhr ein Kind bekam und raus wollte aus dem Dorf ins Krankenhaus, musste gut atmen. An den Fluss durften die Bewohner des Elbdorfes nie.

Schmechel: "1988 hat man uns noch ein klein wenig mehr eingezäunt. Wir hatten immer so ’ne Auslaufzone fünf Kilometer mal einen Kilometer. So. Das war unsere Freiheitszone."

Auslaufzone, das klingt wie auf dem Hühnerhof, und so fühlten sich die Rüterberger damals auch. Meinhard Schmechel, Landmaschinenschlosser, Bürgermeister von 1981 bis 2004, hatte sich wie viele andere zwar eingerichtet mit Hof und Garten in der "Auslaufzone". Doch als die "Organe" noch 1988 Maßnahmen ergriffen, um die Rüterberger noch mehr einzuschließen, als sie es ohnehin schon waren, und elf Millionen DDR-Mark in neue Zäune und Grenzsicherungsanlagen rund um das Dorf investierten, reichte es: Schneidermeister Hans Rasenberger beantragte bei Bürgermeister Schmechel eine Bürgerversammlung. Am 8. November 1989 fand sie statt. Im Archiv der Heimatstube findet sich eine Radiosendung mit Hans Rasenberger, der inzwischen verstorben ist.

Rasenberger: "Wir wollten frei sein zur DDR hin. Wir wollten genau dieselben Bürgerrechte haben wie die Bürger in der DDR. Wir wollten nicht die Grenze durchbrechen hier an der Elbe, die Westgrenze, sondern die zur DDR hin, das sollte frei werden! Die Menschen sollten frei zu uns kommen können, ohne Passierschein. Vor allen Dingen die Menschen aus dem westlichen Teil Deutschlands, die ja grundsätzlich nicht in dieses Grenzgebiet hinein durften."

Immerhin konnte man am 8.November 1989 noch nicht wissen, was einen Tag später Welterschütterndes geschehen sollte. Aber man war vom Eingeschlossensein so genervt, dass man der Idee des Schneidermeisters zustimmte, analog dem Rütli-Schwur eine eigene Gemeinschaft auszurufen, fortan eigene Gesetze zu schaffen und sich nicht länger von der DDR-Führung bevormunden zu lassen. Eine unerhörte Begebenheit in der Geschichte der DDR. Im Hochgefühl des Sieges, aber auch mit ein wenig Bangen ging man an diesem Tag schlafen.

Schmechel: " Wir haben nachher noch über eine Stunde zusammen gesessen, wo alle aus dem Dorf weg waren. Und haben gesagt: Was haben wir jetzt eigentlich gemacht? Was passiert uns? Können wir heute Nacht in Ruhe schlafen? Sind wir morgen noch zu Hause oder sind wir schon woanders?"

Kein Rüterberger kam "woanders" hin, am nächsten Tag fiel die Mauer, und weil hier der Grenzzaun erst zwei Tage später geöffnet wurde, kamen die ersten Westbesucher per Leiter. So wie Hans-Joachim Mück aus Damnatz auf der Westsseite der Elbe, dem es dann in Rüterberg so gut gefiel, dass er hierher zog.

Mück: "Ich glaub, wir haben uns eher an den Zaun rangetraut als ihr!"

Schmechel: "Wir haben uns das gar nicht getraut! Ihr seid ja gleich rüber gekommen! Die am anderen Tag gekommen sind, die hatten ja einen Spaten mit und haben sich unten durchgewühlt! Die sind unterm Zaun durchgekrochen, die haben gar keine Leiter mitgebracht."

Mück: "Und von da an bestand dann ein ganz inniges Verhältnis, da gab's Besuche hüben, drüben. Ja, und heute hat sich das alles normalisiert."

Ein westdeutscher Polizist und ein ehemaliger ostdeutscher Grenzsoldat sind Freunde geworden. Jahrlang durften sie sich nicht mal zuwinken.

Mück: "Bei uns war natürlich die große Besonderheit, dass wir direkt an der Nahtstelle gewohnt haben. Direkt an der Nahtstelle, an der die beiden Blöcke zusammen stießen. Für uns war, von drüben gesehen, die Welt hier zu Ende. Wie für die hier die Welt zu Ende war. Hier war weiß, nichts, aus, Ende! Niemals haben wir gedacht, hier jemals herzukommen. Und plötzlich: peng."

Schmechel: "Stimmt. Und plötzlich peng."

Am 8. November wird die Gründung der Dorfrepublik in Rüterberg groß gefeiert, es singt der Shantychor, der ebenso wie das ganze Dorf eine Ost-West-Mischung ist. Auch der ehemalige Polizeikommandant ist eingeladen. Jener Kommandant, der auf der Rüterberger Versammlung am 8. November 1989 keine Zugeständnisse an die Eingeschlossenen machen wollte. Heute ist er ein hoher Polizeibeamter. Verziehen haben ihm die Rüterberger schon längst. Ihnen hat ja die Geschichte geholfen.

Gesang Shantychor: "... das kann doch einen Seemann nicht erschüttern, keine Angst, keine Angst Rosmarie. Wir lassen uns das Leben nicht verbittern, keine Angst, keine Angst Rosmarie ..."