Die Autobahn-Flaneure

Von Ellen Häring · 18.07.2010
60 Kilometer Autobahn wurden zur Kulturbahn. Im Rahmen der Kulturhauptstadt Ruhr.2010 feierten rund zwei Millionen Menschen im Ruhrgebiet ein gigantisches Fest der Alltagskulturen.
Bei heißen Rhythmen und in heißer Luft drängeln sich auf beiden Spuren der Autobahn ausnahmsweise nicht Autos, sondern Menschen. Von Dortmund Richtung Duisburg fahren Radler, Skater und Einradartisten auf dem Asphalt, von Duisburg Richtung Dortmund stehen 20.000 Biertische in unendlich langen Reihen. Und jeder dieser Tische ist gleichzeitig Bühne. Eine Bühne, die die Menschen aus dem Ruhrgebiet selbst bespielen: der Schachklub zeigt hier seine Kunst genauso wie der Zauberer, die Kaffeetanten laden zur selbst gemachten Torte während der senegalesische Verein exotische Ingwergetränke ausschenkt und den Kindern Trommelunterricht gibt.

20.000 Bühnen waren zu vergeben, ein ambitioniertes Ziel. Schließlich sind alle Akteure freiwillig dabei, sie müssen sogar 25,- Euro pro Tisch bezahlen. Und dennoch: Es war gar nicht so einfach, einen Tisch zu bekommen, erzählt Tim Grotendorst. Er verteilt in orangefarbener Schlaghose und einer Perücke im Afrolook Brausepulver an die Besucher. Seine Gruppe feiert die Kultur der 70er-Jahre.

"Also wir sind nicht dabei gewesen, wir haben den ersten Start verschlafen, wir sind in die Verlosung gerutscht, in die zweite Welle, und da haben wir uns natürlich Mühe gegeben, ein besonderes Konzept aufzustellen, aber da das gut zu unserem Freundeskreis passt vom Thema her, war es eigentlich dann einfach für uns."

Um 11 Uhr morgens beginnt das Spektakel, zwei Stunden später ist die Autobahn auf beiden Spuren überfüllt, es kommt kurzzeitig auf der Radfahrspur und bei den Fußgängern zum Stau. Die Besucher nehmen es gelassen. Sie sind es schließlich gewohnt.

"Morgens, wenn ich so früh fahre, in diese Richtung geht's, aber in die andere Richtung ist immer Stau, hab ich noch nie erlebt, dass da kein Stau ist nach Essen rein."

Dortmund, Bochum, Gelsenkirchen, Essen, Mülheim, Oberhausen und Duisburg - 7 Anrainerstädte haben die Großveranstaltung zusammen gestemmt. Eines der vielen Projekte im Rahmen der Kulturhauptstadt , das versucht, die Region zu vereinen. Aber nicht nur die extrem aufwendige Logistik, bei der sieben Entsorgungsunternehmen, Feuerwehren, Technische Hilfswerke kooperieren müssen, fördert das Gemeinschaftsgefühl. Auch die Bürger feiern an der längsten Tafel der Welt, was sie verbindet. Jürgen Fischer von der Veranstaltungsleitung:

"Das war uns wichtig zu zeigen an diesem 18. Juli 2010, was das Ruhrgebiet kulturell prägt. Die Menschen sind die Protagonisten an diesem Tag, wir haben keine Künstler engagiert, keine Bühnen gebaut, die Tische sind die Bühne und man staunt, mit welchen schrillen, schrägen, zum Teil auch spießigen Ideen die Menschen hier sind."

Der senegalesische Verein unterbricht den Trommelunterricht, kredenzt gebackene Teigtaschen und zeigt den Autobahnflaneuren, wie eine Erdnusspflanze aussieht. Scheick Diallo ist in schwarz-weißer Landestracht und mit rotem Hut erschienen. Aber eigentlich ist er "Ruhrgebietler":

"Ich lebe seit 20 Jahren im Ruhrgebiet, ich kenne das Ruhrgebiet besser als den Senegal. Ich kenne die A40, ich fahre die A 40 jeden Tag, ich arbeite an der Uni. Und dann ist da Stau, da sind Baustellen, aber es gibt auch Menschen, die an der A40 leben, und das ist das, was die Autobahn menschlich macht im Vergleich zu anderen Autobahnen."

Wenige Tische weiter zieht ein intensiver Duft nach Kokos über den Asphalt direkt in die Nase der Besucher. Der Betreiber einer Gesundheitstherme macht am Tisch einer Krankenkasse ungeachtet der Temperaturen Werbung für die Sauna. Den Aufguss mit Kokosduft kippt er direkt auf den heißen Asphalt - und bekräftigt seine Idee:

"Wir haben ein wenig den Aufguss verwedelt auf der Autobahn und die Leute haben begeistert geklatscht. Ob die Saunakultur jetzt zur Kulturhauptstadt zählt, das denken wir schon, weil wir aus Essen von der Therme sind und wir wollen die Kultur des Saunierens auf der Autobahn vorstellen."

Auch Sport wie Aikido; Karate oder Yoga zeigen die Akteure auf ihren ungewöhnlichen Bühnen, und die Besucher lassen sich nicht zweimal bitten und machen mit.

Nach 17 Uhr geben die Menschen die Autobahn frei – nicht nur mit Freude im Herzen, sondern manche sogar mit gestärktem Rücken.
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