Clara Törnvall: "Die Autistinnen"

Einblicke in den weiblichen Autismus

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Buchcover: Die Autistinnen von Clara Törnvall
© Hanser Verlag

Clara Törnvall, aus dem Schwedischen von Hanna Granz

"Die Autistinnen"Hanser Berlin, Berlin 2024

240 Seiten

24,00 Euro

Von Susanne Billig  · 15.02.2024
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Erst in jüngerer Zeit geraten Frauen mit hoch-funktionalem Autismus in den Blick der Medizin - zuvor waren es fast nur autistische Jungen und Männer. Clara Törnvalls Buch beschreibt die Gefahr von Fehldiagnosen bei Frauen in Medizin und Psychiatrie.
Elfriede Jelinek, Patricia Highsmith und Greta Thunberg sind prominente Beispiele für Frauen mit „hoch-funktionalem Autismus“. In ihrem neuen Buch „Die Autistinnen“ stellt die schwedische Journalistin Clara Törnvall sie, aber auch weniger bekannte Frauen vor, beschreibt Lebenswege und die besonderen Herausforderungen eines Lebens mit Autismus. Dabei bringt sie immer wieder auch – sehr persönlich und in einer oft starken und poetischen Sprache – ihre eigenen Erfahrungen ein.

Intellektuell nicht eingeschränkt

Hoch-funktionale Autistinnen und Autisten sind intellektuell nicht eingeschränkt, dennoch nehmen sie sich selbst und ihre Umwelt – aus hirnbiologischen Gründen, die das Buch ausführlich erläutert – deutlich anders wahr als neurotypische Menschen. Auch wenn Autismus-Spektrum-Störungen viele individuelle Ausprägungen annehmen, gibt es Überschneidungen, wie die Autorin herausarbeitet: Dazu gehören meist das starke Bedürfnis, in einer geordneten, leisen, reizarmen und möglichst überraschungsfreien Welt viel mit sich allein zu sein, aber auch die Sehnsucht nach Kontakt mit Menschen, die das autistische Lebensgefühl verstehen und gewillt sind, darauf einzugehen.
Die Gepflogenheiten der Neurotypiker – Small Talk, Ironie, uneindeutige und interpretationsbedürftige Botschaften, eine Sprache voller Metaphern, Mimik als Ausdrucksmittel, soziale Notlügen – erschließen sich autistischen Menschen erst, wenn sie lange darüber nachgrübeln. Im Gegenzug können letztere mit schonungsloser Ehrlichkeit aufwarten – für Clara Törnvall ein großer Wert, allerdings mit einem normalen Berufsleben meist nicht vereinbar.

Sensible, zurückgezogene Frauen fallen nicht auf

Warum aber ein Buch vor allem über Autistinnen? Viele Jahre, so führt die Autorin aus, gab es in der Medizin die Vorstellung, Autismus schließe vor allem Jungen und Männer auf schwerste Weise in sich selbst ein und mache sie weitgehend lebensunfähig.

Als zunehmend auch der hoch-funktionale Autismus – früher Asperger-Syndrom genannt – psychiatrisch verstanden und diagnostiziert wurde, blieben die normalbegabten Mädchen und Frauen mit Autismus auch hier außen vor: Frauen, die sich sensibel und still in ihre vier Wände zurückziehen, vielleicht als Hausfrauen ohne Beruf, schienen eben doch „ganz normale Frauen“ zu sein. Darum möchte Clara Törnvall mit ihrem Buch Aufklärung leisten, denn bis heute erhalten viele Frauen erst nach einer meist langen Odyssee durch medizinische und psychologische Praxen eine Autismus-Diagnose.

Die Diagnose als Erleichterung

Obgleich die Autorin nachdrücklich dafür plädiert, dass hoch-funktionale autistische Menschen im Spektrum des Normalen angesiedelt werden – immerhin könnte laut aktuellen Schätzungen nicht weniger als jeder fünfte Mensch davon betroffen sein –, betont sie auch, dass eine solche Diagnose doch oft eine große Erleichterung mit sich bringt. Sie selbst sei dadurch von einer misslungenen Neurotypikerin zu einer normalen Autistin geworden – eine Befreiung. „Die Diagnose ist das Beste, was meinem Selbstwertgefühl je widerfahren ist.“