Die Auswanderer

Von Friedrich Thelen · 02.07.2008
Die Deutschen sterben nicht aus - sie wandern nur aus. Und warum sie das tun, hat eine Studie des in Köln beheimateten Instituts der Deutschen Wirtschaft akribisch ermittelt. Immerhin waren es allein im Jahre 2006 fast 160.000 Deutsche, die der Bundesrepublik den Rücken gekehrt haben. Und das ist erstens die höchste Zahl seit 1954, und zweitens sind es dreimal so viele Auswanderer als je zuvor.
Natürlich haben die Forscher des Wirtschaftsinstitutes die Gründe des Fortganges aufgelistet, die Motivationslage erforscht und herausgefunden, um wen es sich bei diesen Emigranten handelt. Hauptgrund für die Auswanderung sind die besseren Berufs- und Einkommensmöglichkeiten, die das Ausland diesen Deutschen bietet. Aber das ist bei Weitem noch nicht alles. Schon bei genauerer Analyse stellt man fest, dass es für viele emigrationswillige Akademiker gar nicht in erster Linie auf die Einkommensbedingungen ankommt, warum sie zum Kofferpacken ansetzen. Vielmehr bieten viele Universitäten und akademische Institute großzügigere Forschungs- und Lebensbedingungen.

In Auftrag gegeben hat die Studie das Bundeswirtschaftsministerium. Und deshalb stellte auch der Staatssekretär im Bundeswirtschaftsministerium Walter Otremba die Ergebnisse vor. Nun könnte man sich zurücklehnen und sagen: Na und, ausgewandert sind die Deutschen auch schon früher. Deutsche Siedlungen und Wohngebiete gab und gibt es überall auf der Welt, von Amerika über Russland bis nach Australien und Brasilien.

Indes, die Probleme liegen heute anders. Denn nicht mehr der Hunger nach religiöser oder politischer Freiheit oder der Ausbruch aus starren Sozialstrukturen ist es heute, der junge und vor allem gut ausgebildete Deutsche zur Weltwanderung treibt. Über 83 Prozent der Emigranten können einen akademischen Abschluss vorweisen. Und auf diese Menschen kann das Land nicht verzichten. Denn, so sagt Otremba, diesen Aderlass können wir auch durch eventuelle Einwanderer nicht ausgleichen. Denn diese sind in der Regel schlechter qualifiziert. Und im Übrigen gibt es zu wenig von ihnen. Also fehlen nach den Untersuchungen der Bundesregierung bis zum Jahr 2013 über 330.000 Akademiker, darunter 85.000 Ingenieure und 70.000 Naturwissenschaftler. Ohne diese als Funktionselite qualifizierten Kräfte wird sich der derzeitige hohe Lebensstandart in unserem Lande nicht halten lassen. Die unangenehmen Konsequenzen dieser Entwicklung kennen im Grunde genommen alle hierzulande. Aber das heißt nicht, dass es Abhilfe gibt. Und umgehend tauchen sogar Beschwichtiger auf, die erklären, mit Chancenlosigkeit in Deutschland habe der Emigrationstrend nicht das Geringste zu tun.

Vielmehr seien es vornehmlich solche Deutsche, die bereits Erfahrung im Ausland gesammelt hätten und diese wiederholen oder fortsetzen möchten. Zusätzlich seien die jungen Deutschen heute eben viel mobiler als ihre Landsleute vor 20 oder 30 Jahren. Und zum guten Schluss haben die gleichen Stimmen auch noch das Argument zur Hand, dass nach der Statistik immerhin 46 Prozent der Ausreisenden sich auch eine Rückkehr nach Deutschland vorstellen könnten.

Da kann man - auch ohne zynisch zu werden - antworten: Vorstellen kann man sich Vieles, nur Realistisch ist das eben nicht. Denn wie die Statistik belegt, kehren von denen, die auswandern, allenfalls 20 Prozent in die teure Heimat zurück. Und zwar sind dies hauptsächlich solche, die im Ausland nicht reüssiert haben. Ob wir uns diese zurückwünschen? Nein, es gilt vielmehr, der Wahrheit nüchtern ins Auge zu schauen. Deutschland ist derzeit kein Land mehr, das attraktiv auf junge Menschen wirkt, die die Zukunft gestalten möchten. Für die bereits fest etablierten Fachkräfte ist es angenehm, in der wohlgepolsterten sozialen Welt der Bundesrepublik Deutschland zu leben. Aber für aufsteigende, tüchtige Zukunfts-Leistungsträger ist es dies eben nicht. Eine Unzahl von Vorschriften in allen Lebensbereichen, ein starres und hohes System bei Steuern und Abgaben sowie der Unwille der deutschen Politik und ihrer Gesellschaft, die Zukunft mit mutigen Reformen zu verändern, mobilisiert die Auswanderung.

Das ist ein klares Votum der 160.000 Auswanderer gegen den lähmenden Ist-Zustand des Landes. Aber eine schweigende, schwer zu mobilisierende und reformscheue Mehrheit beschließt, diese Defizite einfach nicht zur Kenntnis zu nehmen und die Emigrationslustigen eben ziehen zu lassen.

Die Beschwichtiger machen es sich zu einfach, wenn sie den Auswanderern allein pekuniäre Motive unterstellen. Sicherlich spielt das Einkommen auch eine Rolle, aber die Kernproblematik liegt doch anderswo. Wenn man die Hoffnung aufgegeben hat, dass sich die Dinge hierzulande ändern lassen, unternimmt man den Versuch, sein Leben anderswo mit größeren Chancen zur Veränderung zu führen. Dort nämlich, wo Reformen und Herausforderungen nicht nur möglich, sondern auch gewünscht sind.

Dieses Votum gegen die Erstarrung unseres Landes sollte uns erschrecken. Tut es aber nicht. Erst wenn die Wirtschaft und Gesellschaft sicht- und spürbar leiden, wird der Ruf nach richtigen Reformen laut werden. Aber bis zur Heilung dauert es dann wieder eine Generation. Fragt sich nur, ob wir noch so viel Zeit haben?

Dr. Friedrich Thelen, Jahrgang 1941, studierte Rechtswissenschaft, Geschichte und Philosophie. Er ist jetzt als Publizist tätig und war bis vor kurzem Büroleiter Berlin der "Wirtschaftswoche". Er hat langjährige berufliche Erfahrungen im angelsächsischen Raum.