Die Aufsichtsbehörden "wachrütteln"

Sven Giegold im Gespräch mit Katrin Heise · 04.03.2013
In zwei Kategorien kann nun jeder jährlich das gefährlichste Finanzprodukt Europas mitküren, erläutert Sven Giegold seine Aktion. Die Abstimmung soll die Sensibilität der Kunden steigern und die Gesetzgeber drängen, die ärgsten Missstände zu beseitigen, so der Europaabgeordnete der Grünen.
Katrin Heise: Verschleierte Risiken und Wucherkosten – Europas Verbraucher sollen das gefährlichste Finanzprodukt wählen. Heute werden die Kandidaten vorgestellt. Das Vorgehen ist bekannt: Gern knöpfen sich Verbraucherorganisationen einzelne Hersteller raus, um an ihnen aufzuzeigen, wo gemogelt, gepanscht oder vertuscht wird. Und jetzt werden Finanzprodukte genauer angesehen.

Der grüne Europaabgeordnete Sven Giegold und zwei Nichtregierungsorganisation wollen Jahr für Jahr das gefährlichste Finanzprodukt küren. Bürgerinnen, Organisationen, Verbraucherschützer waren aufgefordert, Vorschläge zu machen. Heute werden die vier Favoriten vorgestellt: in zwei Kategorien auch jeweils. Und dann gilt es für uns alle, online abzustimmen über das gefährlichste Finanzprodukt – und das soll dann auch verboten werden. Am Telefon ist jetzt Sven Giegold, Grüner im Europaparlament und Initiator des Projekts. Schönen guten Morgen, Herr Giegold!

Sven Giegold: Ja, guten Morgen, Frau Heise!

Heise: Was zeichnet denn die Favoriten, die jetzt ausgewählt wurden, aus? Was macht die zu gefährlichen Finanzmarktprodukten?

Giegold: Also, die sind jeweils recht verschieden. Aber es gibt eine Gruppe von Finanzmarktprodukten, die sind einfach intransparent oder haben überhöhte Kosten: also schädigen diejenigen, die sie selbst nutzen, also die dort investieren. Die zweite Kategorie schädigt entweder die Umwelt oder die Ärmsten auf der Welt oder unbeteiligte Dritte. Also, im ersten Bereich gibt es zum Beispiel den Vorschlag von Kreditkarten mit überhöhten Zinsen oder den Begriff der Aktienanleihe, wo man nicht genau weiß, ist das nun eine Aktie oder eine Anleihe, und das ist für den Verbraucher unklar. Im zweiten Bereich gibt es so etwas wie Nahrungsmittelspekulation.

Heise: Das heißt also nicht, risikoreich ist gleich gefährlich. Risiko ist durchaus zugelassen bei Finanzmarktprodukten Ihrer Meinung nach?

Giegold: Genau. Das Grundproblem ist nicht Risiko an sich. Solange derjenige, der investiert, die Risiken tragen kann ...

Heise: ... und überhaupt auch kennt ...

Giegold: ... genau. Und natürlich sollte dafür ein fairer Ausgleich sein. Und was wir bei Finanzprodukten immer wieder sehen, ist, dass Investoren gefragt werden, Risiken zu übernehmen, aber die Verzinsung oder die Vergütung das nicht vollständig abbildet, sondern sehr viel bei den entsprechenden Banken, Fondsmanagern und so weiter hängen bleibt.

Heise: Das kann man ja so in die erste Kategorie, die Sie genannt haben, einordnen. Bei Umweltschädigungen oder bei Schädigungen unbeteiligter Dritter, da ist gefährlich – hat mit dem Risiko ja sowieso gar nichts zu tun. Also ein Risiko wird da getragen, was eigentlich nicht von denen, die es dann auszuhalten haben, überhaupt diskutiert werden kann.

Giegold: Genau. Sehr interessant fand ich zum Beispiel Produkte wie das Ölsand-Zertifikat. Das ist ein spezielles Finanzmarktprodukt, damit investiert man in Firmen, die am Abbau von Ölsanden beteiligt sind. Das ist sehr umweltschädlich. Wenn Sie die Bilder mal gesehen haben, welch große Landstriche da verwüstet werden, um im Verhältnis wenig Öl zu gewinnen. Das sind Methoden, an denen kann man dann eben verdienen, aber die Schäden haben dann diejenigen, die in der Region leben.

Heise: Wie groß war die Beteiligung an diesem Wettbewerb bisher? Also wie viele haben sich tatsächlich, ja, die Mühe gemacht und auch den Sachverstand gehabt, Finanzmarktprodukte Ihnen vorzuschlagen?

Giegold: Oh, das waren erstaunlich viele. Also, es haben sich an den Vorschlägen und Kommentaren 150 Personen beteiligt, dabei sind dann über 50 wirklich seriöse Vorschläge herausgekommen. Es gab natürlich auch einige Provokationen, wie eine Steuer zum Finanzmarktprodukt zu erklären und so weiter. Aber im Grunde, erst mal waren es über 50, und häufig auch sehr genau benannte Fonds, Zertifikate und dergleichen.

Heise: Hatten Sie den Eindruck, dass auch Bürger sich beteiligen und eben nicht nur Verbraucherschutzorganisationen, also Betroffene sich tatsächlich beteiligt haben. Oder hat sich gezeigt, dass eben der in Anführungsstrichen "normale Bürger" gar nicht mehr durchsteigt und gar nicht mehr versteht?

Giegold: Nein, nein, nein. Das meiste waren Vorschläge nicht von Organisationen, sondern ganz klar von Einzelpersonen. Sowohl Einzelpersonen, die im Finanzsektor Expertise erworben haben, als auch solche, die sich über Finanzprodukte geärgert haben oder sogar geschädigt waren.

Heise: Sie wollen ja sicherlich mit diesem Wettbewerb vor allem Interesse wecken, aufklären, das Gefühl erzielen, ich habe Mittel, mich zu wehren. Oder habe ich das falsch verstanden?

Giegold: Genau. Also, mir geht es um zwei Dinge. Erst mal, Sensibilität dafür zu erhöhen, dass viele Produkte im Markt sind, die nicht gut sind und über die man sich wirklich kritisch Gedanken machen muss. Das Zweite ist, dass es auch befremdlich ist, dass in allen möglichen Märkten wir Grenzen setzen, welche Produkte auf dem Markt sein dürfen. Also, Sie dürfen kein Spielzeug auf den Markt bringen, das giftig ist, oder Sie dürfen, sollten zumindest keine Nahrungsmittel auf den Markt bringen, die nicht für den Verzehr geeignet sind. Im Bereich der Finanzprodukte darf man eigentlich fast alles. Sie dürfen, Sie müssen zwar bestimmte Anforderungen erfüllen, einen Prospekt veröffentlichen, aber ob das Projekt was taugt oder toxisch ist, wird eigentlich nicht überprüft. Und die europäischen Finanzaufsichtsbehörden haben das Recht, Finanzprodukte vom Markt zu nehmen, sie haben dieses Recht aber noch nie so richtig genutzt. Also die neuen europäischen Behörden sollen auch gesetzlich noch stärkere Kompetenzen dieses Jahr bekommen, aber bisher haben sie die begrenzten Möglichkeiten nicht genutzt. Und das heißt, uns geht es auch mit dem Wettbewerb darum, die Aufsichtsbehörden ein wenig wachzurütteln.

Heise: Wettbewerb – das gefährlichste Finanzprodukt stellt heute die Favoriten vor. Mitinitiator erklärt uns das. Eine Jury, Herr Giegold, aus Journalisten, Verbraucherschützern, NGOs und aus der Wissenschaft haben gesiebt und ausgewählt aus den eingereichten Vorschlägen. Wurde auch überprüft, ob das alles stimmt, was da kritisiert wurde?

Giegold: Ja. Die haben sich natürlich die Vorschläge genau angeguckt und auch eine eigene Begründung geschrieben, warum sie dieses Produkt aufs Treppchen heben. Aber jetzt sind die Internetnutzer dran, im Grunde auf der Webseite "Gefährlichste Finanzprodukte" auch ihre eigene Stimme abzugeben.

Heise: Das heißt, jetzt wird ein Gewinner ausgewählt oder zwei Gewinner, jeweils in der Kategorie nämlich. Wenn diese finalen Sieger gekürt sind, dann müssen Sie sich als grüner EU-Parlamentarier dafür einsetzen, dass die EU das gewählte Produkt verbietet. Wie groß ist da die Chance, dass das tatsächlich gelingt?

Giegold: Also gut, der erste Schritt ist schon vereinbart, denn die beiden Gewinner, die lade ich nach Paris ein, also die, die vorgeschlagen haben die Finanzprodukte. Und dort haben wir dann einen Termin bei der zuständigen Behörde, der Europäischen Börsen- und Marktaufsichtsbehörde ESMA, und werden mit denen diskutieren, was man gegen diese Finanzprodukte unternehmen kann.

Heise: Das ist aber erst mal nur eine Diskussion. Sie wollen doch eigentlich auch, dass es verboten wird.

Giegold: Ja sicher, aber ein einzelner Parlamentarier trifft ja keine Entscheidung. Sondern das, was ich tun kann, ist, genau dieses Gespräch herzustellen, was vielleicht ein einzelner Anleger erst mal so nicht bekommen könnte. Und dazu hat sich ESMA gern bereiterklärt. Und danach werden wir eben auch dieses Jahr ja verhandeln über die Reform der Marktrichtlinie MiFID. Und in dieser Richtlinie steht drin in Zukunft die Ermächtigung für die europäischen Aufsichtsbehörden, dort sehr viel einfacher zum Verbot schreiten zu können. Sie können auch jetzt schon die EU-Kommission auffordern, entsprechende Maßnahmen zu ergreifen, aber sie können das nicht selber machen. In Zukunft werden sie das auch selber können, zumindest, wenn sich die Meinung des Parlaments, die fraktionsübergreifende Mehrheit gegenüber dem Rat der Mitgliedsländer durchsetzt.

Heise: Wie sind überhaupt bisher die Reaktionen vom Finanzmarkt gewesen? Haben Sie da – ich meine, die mögen ja auch nicht so gerne am Pranger stehen. Gab es da schon Reaktionen? Oder auch schon Konsequenzen, die gezogen wurden?

Giegold: Nun gut. Also, was wir sehen derzeit, ist, dass sich in verschiedenen Ländern Finanzmarktakteure aus bestimmten fragwürdigen Geschäftsfeldern zurückziehen. Also zum Beispiel bei der Nahrungsmittelspekulation ist es so, dass in Frankreich die meisten Banken jetzt aufgehört haben, in Deutschland leider Deutsche Bank und Allianz weiterhin in diesem Bereich aktiv sind, das ist sehr bedauerlich. Wir sehen also schon eine gestiegene Sensibilität. Aber gerade bei der Frage, wie viel Kosten sind für den Investor mit den Produkten verbunden, da gibt es immer noch sehr große Unterschiede. Und auch immer noch viel zu viele teure Produkte, die zu viel Kosten bei den Anlegern abladen.

Heise: Gerade durch so einen ja öffentlichkeitswirksamen Wettbewerb – hoffen Sie ein bisschen auf Einsicht der Anbieter?

Giegold: Also ich glaube erst mal – ich sag's mal knallhart – das hoffe ich immer, und es gibt ja auch viele Anbieter, die versuchen, im Interesse der Kunden unterwegs zu sein. Gleichzeitig wird tendenziell gemacht, womit man Geld verdienen kann. Und es ist die Aufgabe des Gesetzgebers, hier Grenzen zu definieren, und die Aufgabe der Kundinnen und Kunden, sich vernünftig zu informieren. Also es gehören immer beide dazu. Es gibt ja auch sehr viel Gier vonseiten der Anleger. Und wenn Leute sechs, sieben Prozent Zinsen in dem jetzigen Marktumfeld haben und sich hinterher beschweren, wenn die entsprechende Bank Probleme bekommt, dann liegt das natürlich auch an den Kunden. Aber es liegt auch am Gesetzgeber, die ärgsten Missstände zu beseitigen.

Heise: Wir können alle mithelfen, die ärgsten Missstände zu beseitigen, indem wir uns am Wettbewerb um das gefährlichste Finanzprodukt beteiligen. Das ist möglich auf der Internetseite www.gefaehrlichstes-finanzprodukt.eu. Sven Giegold, einer der Initiatoren – ich danke Ihnen für dieses Gespräch!

Giegold: Vielen Dank, Frau Heise, gerne!

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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