Die Arbeiter als herrschende Klasse

Moderation: Winfried Sträter |
Der Historiker Christoph Kleßmann hat sich vor allem mit der deutsch-deutschen Geschichte nach 1945 und Themen der Sozialpolitik und der Arbeiterbewegung beschäftigt. Anlass für das Gespräch ist sein gerade erschienenes Buch "Arbeiter im 'Arbeiterstaat' DDR". Er zeigt, dass die Realität nicht dem ideologischen Anspruch der SED entsprach.
Christoph Kleßmann gehört zu den Historikern der sogenannten "Bielefelder Schule", die in den 70er Jahren die Forschungslandschaft innerhalb der westdeutschen Historikerzunft aufbrachen. Als Gegenbewegung zum Historismus lehnte die von Hans-Ulrich Wehler und Jürgen Kocka maßgeblich beeinflusste "Bielefelder Schule" die althergebrachte Konzentration auf Politik- und Personengeschichte ab. Sie erweiterte die Geschichtsforschung um sozialwissenschaftliche Fragestellungen und begründete damit die historische Sozialwissenschaft.

Christoph Kleßmann wandte sich vor allem der deutsch-deutschen Geschichte nach 1945 zu, außerdem Themen der Sozialpolitik und der Arbeiterbewegung. Ein frühes Werk war eines seiner erfolgreichsten: "Die doppelte Staatsgründung". Jahrzehnte lang war es ein Standardwerk über die deutsche Nachkriegsgeschichte.

1976 - 92 war Kleßmann Professor für Zeitgeschichte an der Universität Bielefeld, 1993 wechselte er an die Universität Potsdam und leitete von 1997 bis zu seiner Emeritierung 2004 (zusammen mit Konrad Jarausch) das Zentrum für Zeithistorische Forschung in Potsdam. In dieser Zeit etablierte sich das ZZF als eines der bedeutendsten Forschungszentren zur DDR-Geschichte. Der Schwerpunkt liegt auch hier auf der historischen Sozialwissenschaft.

Das Buch über den Arbeiterstaat DDR, das Kleßmann jetzt veröffentlicht hat, umfasst 892 Seiten, ist im Verlag J. H. W. Dietz Nachfahren erschienen und reicht thematisch von der Vorgeschichte der DDR-Gründung bis zum Ende der Ära Ulbricht. Es ist der 14. Band der Reihe "Geschichte der Arbeiter und der Arbeiterbewegung in Deutschland seit dem Ende des 18. Jahrhunderts", die von Gerhard A. Ritter herausgegeben wird.

Das Gespräch
Christoph Kleßmann kommt in dem Buch wie auch im Gespräch mit Winfried Sträter zu einem widersprüchlichen Ergebnis: Auf der einen Seite wurde die Arbeiterklasse als führende Klasse "in einem unvorstellbaren Ausmaß stilisiert". Die Realität entsprach nicht dem ideologischen Anspruch der SED: Nicht die Arbeiter hatten das Sagen, sondern die selbsternannte Avantgarde, die Partei. Sie errichtete eine Erziehungsdiktatur, der sich auch die Arbeiter unterzuordnen hatten. Auf der anderen Seite verschaffte der ideologische Anspruch den Arbeitern reale Macht, so Kleßmann: "Man kann sehr wohl sagen, dass dieser Anspruch 'Arbeiterstaat' von Arbeitern aufgenommen worden ist. Sie haben sich den Schuh angezogen, der ihnen da hingestellt wurde und haben daraus versucht, ihre Interessen ein Stück weit wahrzunehmen." So änderten ideologische Instrumente im Alltag ihren Charakter. Die "sozialistischen Brigaden" verschafften den Werktätigen Möglichkeiten der innerbetrieblichen Interessenvertretung - und eine persönliche Bindung an den Betrieb, die auch zur Akzeptanz des Staates in der Bevölkerung beitrug.

Kleßmann spricht von einem "geheimen Sozialkontrakt" zwischen der SED und der Arbeiterschaft, der unausgesprochen schon nach dem Aufstand des 17. Juni 1953 wirksam wurde: Die SED respektierte bestimmte Grenzen, wenn sie den Arbeitern sozial oder wirtschaftlich etwas zumutete. Dadurch wurden seit den 60er Jahren notwendige Reformen des Wirtschaftssystems blockiert, was letztlich zum wirtschaftlichen Zusammenbruch des SED-Staates führte.


Das vollständige Gespräch mit Christoph Kleßmann können Sie im PDF-Format oder im barrierefreien Textformat nachlesen.