Die Angst vorm Telefon

Von Annegret Faber |
Seit drei Jahren weiß man: Es gibt Menschen, die von Geburt an keine Stimmen unterscheiden können, sogenannte Phonagnosiker. Die Neurologin Katharina von Kriegstein untersucht dieses Phänomen - und hat über einen Test im Internet Betroffene ausfindig gemacht.
Die 30-jährige Elisa S. studiert in Köln Psychologie. Hin und wieder hört sie Musik.

"Ich finde sie angenehm, ich kann, glaube ich, schon unterschieden, wenn etwas a-melodisch oder melodisch ist."

Trotzdem würde ihr Mann behaupten, dass Sie keinen Sinn für Musik hätte, fügt sie lachend hinzu. Elisa S. sitzt an einem Tisch im Max-Planck-Institut in Leipzig. Die zierliche Frau trägt braunes, schulterlanges Haar und wirkt sehr entspannt.

"Es klingt unterschiedlich. Also zum Beispiel wenn jetzt etwas im Duett gesungen wird, oder zwei verschiedenen Sänger in einem Lied singen. Aber wiederum wüsste ich dann jetzt nicht, wer jetzt welcher Sänger ist, also so was ist schwierig."

Trotzdem würde sie in einer vielschichtigen Klangwelt leben, sagt sie. Wissenschaftler gehen davon aus, dass die Musikwahrnehmung bei Phonagnosikern nicht eingeschränkt ist. Nur die Stimmen seien ein Problem.

"Jetzt am Vorabend vor der Testung hat mich noch mal 'ne Freundin angerufen mit einer mir unbekannten Telefonnummer und für mich war da ein Fremder am Telefon. Ich hab nicht gewusst, dass ich die Stimme überhaupt kenne."

Anders sei es, wenn Sie den Gesprächspartnern direkt gegenüber sitzt. Kann sie die Menschen sehen, würden auch ihre Stimmen unterschiedlich klingen.

"Das heißt, wenn ich in einem Gespräch bin, erlebe ich auch die volle Vielfalt des Stimmklangs von verschiedenen Personen. Vielleicht habe ich es fünf Sekunden später vergessen."

Denn würde sie kurz nach dem Gespräch einen Anruf von einer dieser Personen bekommen, würde sie die Stimme vermutlich nicht erkennen. Vielleicht, vermutlich und eventuell sind Worte, die die Kölnerin oft verwendet. Eines weiß sie aber genau:

"Mir ist schon früher aufgefallen, dass ich am Telefon gute Freunde oder auch Familienmitglieder nicht erkenne. Wenn sie mit verdeckter Nummer anrufen oder eben nichts Inhaltliches preisgeben, dann weiß ich oft nicht, wer das ist. Das geht dann auch zum Teil so weit, dass, wenn ich zwei Kinder im Kinderzimmer habe, dass ich nicht weiß, wer der Gast und wer meine Tochter ist, wenn ich in einem anderen Raum bin."

Bis zu ihrem 20. Lebensjahr sei ihr dieses Defizit nicht bewusst gewesen. Freunde, die sich über ihre Unaufmerksamkeit beschwerten, gab es schon immer. Mit der ersten eigenen Wohnung und dem Leben außerhalb des geschützten Elternhauses häuften sich dann Situationen, die sie stutzig machten. Zum Beispiel:

"Dass mein Mann zum Beispiel gesagt hat, dass das die Synchronstimme von Alf ist und ich mir da gedacht hab, was redet der da. Das konnte ich mir gar nicht vorstellen. - Alf hat eine sehr markante Stimme… - Wirklich? Okay… (lacht)"

Vielleicht und eventuell sind auch Worte, die Dr. Katharina von Kriegstein oft nutzt. Denn das Gebiet der Phonagnosie ist noch nicht vermessen, die Landkarte hat erst ein paar Linien. Bisher ist nur wenig bekannt:

"Da gibt es verschiedene Regionen im Gehirn, die sehr, sehr selektiv sind, für die Stimmerkennung oder Stimmverarbeitung. Die sind im rechten Temporallappen lokalisiert. Es kann durchaus sein, dass eben Leute, die phonagnostisch sind, Defizite in dieser Region haben. Es kann sein, dass bestimmte Zellen nicht richtig funktionieren oder das diese Region nicht richtig da ist oder dass sie für etwas anderes benutzt wird. Das sind aber alles Spekulationen."

Die 30-jährige Elisa S. ist der erste Fall in Deutschland, den die Ärztin genau untersuchen kann. Zwei weitere auffällige Personen werden noch in diesem Jahr getestet. Eine Homepage mit einem Stimmerkennungstest half der Wissenschaftlerin, Betroffene zu finden. Bei diesem Test müssen die Stimmen von drei Männern und drei Frauen unterschieden werden.

Circa 400 Menschen haben die Seite seit Anfang des Jahres besucht, den Onlinetest gemacht - jeder kann darauf zugreifen. Von den 400 Personen waren 50 auffallend und wurden vom Max-Planck-Institut angeschrieben. Nur drei haben auf die Post reagiert. Die Suche nach Betroffenen läuft schleppend, sagt Katharina von Kriegstein. Sie sei aber absolut notwenig, um auf diesem sehr speziellen Gebiet voranzukommen:

"Es ist ja so, dass es noch gar nicht so viele Beschreibungen von Leuten gibt, die Stimmerkennungsschwierigkeiten haben. Und deswegen gibt es noch keine klaren Kriterien, um zu sagen, das ist jemand, der Phonagnosie hat und das ist jemand, der keine Phonagnosie hat. Also das ist im Moment noch im Werden."

Im Fall von Elisa S. ist sich die Ärztin trotzdem sehr sicher, dass sie Phonagnosisch ist. Ihr Stimmerkennungstest war zwei Standardabweichungen schlechter als das Gruppenmittel, also auffallend schlecht. Über zwei Prozent der Bevölkerung könnten ähnlich abschneiden, schätzt die Neurologin. Diese Leute würden vermutlich nichts von ihrem Defizit wissen und mit unbewussten Kompensationsstrategien ganz gut durchs Leben kommen. Typisch wäre, Telefonate zu vermeiden.

Die zwei Prozent leitet Dr. Katharina von Kriegstein von einem ähnlichen Phänomen ab - der Prosopagnosie, der Unfähigkeit, Gesichter zu erkennen, auch Gesichtsblindheit genannt:

"Da hat man sehr, sehr lange gedacht, dass es so selten ist, dass es sich nicht lohnt, darüber Forschungen zu machen. Und erst in den letzten zehn Jahren ist man darauf gekommen, dass es doch sehr häufig ist, also dass zwei Prozent der Bevölkerung Schwierigkeiten haben mit der Gesichterkennung."

Zwei Prozent wären in Deutschland über anderthalb Millionen Menschen. Eine Diagnose könnte für diese Gruppe sehr wichtig sein, glaubt Elisa S., die selbst betroffen ist:

"Weil man ja sonst immer sich über sich ärgert und denkt: Mensch, streng dich ein bisschen mehr an, merk dir die Leute besser, dass man da wieder nicht richtig aufgepasst hat und Leute vor den Kopf stößt. Und wenn man da jetzt auf der zerebralen Ebene ein Defizit hat, könnte man sich damit auf jeden Fall leichter entschuldigen."

Mitunter fühlen sich ihre Freunde vor den Kopf gestoßen, erzählt die Studentin, wenn sie nach mehreren Jahren immer noch fragen muss, wer am anderen Ende der Leitung spricht:

"Dann kläre ich sie auf, dass ich jetzt an einem Forschungsprojekt teilnehme und dann sind die meistens wieder beruhigt."

Männliche und weibliche Stimmen kann Sie gut unterscheiden, auch Emotionen wie Trauer, Wut oder Freude. Das ergaben Tests am Max-Planck-Institut. Das Problem scheinen die Tonlagen zu sein, die Tonfärbung. Das, was eine Stimme ausmacht. Die Kölnerin Elisa S. hält sich deshalb an Dialekte, Besonderheiten in der Aussprache, um Stimmen zu unterscheiden:

"Mein Vater zum Beispiel hat einen italienischen Akzent. Wenn ein anderer Mann mit einem italienischen Akzent anrufen würde, möglicherweise hätte ich dann Probleme."

Phonagnosie ist keine Krankheit, sagen Ärzte. Es ist eine Abweichung im Gehirn. Ein Phänomen, dass bis vor drei Jahren nur bei Patienten nach einem Schlaganfall oder anderen Hirnläsionen beobachtet wurde. In diesem Zusammenhang entstand auch der Begriff der Phonagnosie. Phon aus dem Griechischen steht für Stimme und Agnosie für das Nicht-Erkennen. Amerikanische Wissenschaftler prägten ihn 1982. Dass es angeborene Phonagnosie gibt, ahnte damals noch niemand. Erst 2009 gab es einen ersten Fall in England. Diese Frau hat sich selber diagnostiziert.

von Kriegstein: "Und zwar hat sie einen Bericht im Internet gelesen darüber, dass es Leute gibt, die Gesichter nicht erkennen können. Und da hat sie selber gesagt, also ich kann Gesichter wunderbar erkennen, aber ich habe Probleme, Stimmen zu erkennen. Und dann hat sie Wissenschaftler im University College London kontaktiert und die haben dann einige Tests etabliert und dann haben sie festgestellt, dass sie Stimmen nicht erkennen kann."

Von 96 Stimmen erkannte die Engländerin einzig Sean Connery. Wieso, kann keiner der Ärzte sagen. Sie selbst auch nicht. Krank sei diese Frau trotzdem nicht. Sie habe keine Gehirnschäden und sie könne normal hören. Elisa S. ist nun der zweite Fall.

"Ich habe jetzt im Stimmerkennungstest Till Schweiger wiedererkannt. Ich finde, dass er eine sehr hohe, fast weibliche Stimme hat und das war der einzige Mann und vorher war auch die Rede von Prominenten, sodass ich mir das einfach denken konnte. Und andere Tests mit sehr ähnlichen Stimmen, also auch unbekannten Stimmen, da hatte ich echt Schwierigkeiten die Stimmen auseinanderzuhalten."

Von 30 Stimmen erkannte sie 13. Tonhöhen musste Elisa S. unterscheiden, Stimmen in Verbindung mit Bildern erkennen, ebenso ohne Bilder. Sie musste Emotionen in der Stimme richtig deuten. Außerdem wurde von ihrem Gehirn ein MRT gemacht.

"Ich hab gestern mein Gehirn gesehen. Es scheint ein sehr kleines Gehirn zu sein, was aber mit der Körpergröße zu tun hat, also es füllt den Kopf aus. (lacht)"

Könnte Katharina von Kriegstein mehrere Phonagnosiker untersuchen, wären die Ergebnisse für die Gehirnforschung grundsätzlich interessant. Denn viele neurowissenschaftlichen Methoden können die Vorgänge im Gehirn zwar abbilden, aber nicht genau sagen, wofür ein bestimmter Vorgang relevant ist. Das geht nur, wenn man diesen Vorgang an- und abschalten kann.

Mit einem Phonagnosiker wäre das Abschalten möglich. Das fehlende Puzzleteilchen, das diese Menschen bei ihrer Geburt nicht mitgeliefert bekamen, könnte eine neue Eintrittspforte zur Erkennung von Gehirnmechanismen sein. Und wie stellt sich Elisa S. das Gehör ihrer Mitmenschen vor?

"Ich stelle es mir einfach so vor, dass man nach dem ersten oder zweiten Wort weiß, wer da am Telefon ist. Oder wenn man hört, dass Menschen sich in einem anderen Raum unterhalten, weiß man, wer jetzt was gerade sagt und kann dann die Informationen demjenigen zuordnen. Nehmen wir mal an, fünf Leute sind in einem Raum und sprechen jetzt über Sie und einer sagt was schlechtes und Sie wissen nicht, wer ist jetzt der Böse. Das wäre ganz interessant, das zu wissen. Aber generell habe ich so eine Erfahrung noch nicht gemacht. Und ich komme ganz gut zurecht."

Stimmen und Musik werde im Gehirn getrennt voneinander verarbeitet, so Dr. Katharina von Kriegstein. Insofern glaubt die Ärztin, dass auch Elisa S. uneingeschränkt Musik genießen kann.


Links:

Seine Stimmerkennungsfähigkeiten kann man auf der Internetseite des Max-Planck-Instituts Leipzig testen.