"Die Angst vor dem Wort"

Moderation: Norbert Sperling · 13.04.2005
Die DDR bezeichnete sich gerne als Lese- und Buchland. Doch einige Werke ostdeutscher Autoren wurden aus politischen Gründen nie gedruckt. Das "Archiv unterdrückter Literatur in der DDR" hat sich zur Aufgabe gemacht, an die Opfer der Zensur zu erinnern.
Sperling: Literarische Gegenwelten, das ist unser Thema. Das "Archiv unterdrückter Literatur in der DDR" versammelt Texte von rund 100 Autoren. Prosa, Lyrik, Dramatik, dazu biographisches und zeithistorisches Material. Das sind sehr unterschiedliche Texte, die jedoch eines gemeinsam haben: Sie hatten nie eine Chance vor dem Begutachtungs- und Druckgenehmigungsverfahren, so der offizielle Name des Zensursystems der DDR. Die Schriftstellerin Professor Ines Geipel hat dieses Archiv gemeinsam mit Joachim Walter gegründet und betreut das Projekt. Heute Abend wird das "Archiv unterdrückter Literatur in der DDR" an die Stiftung Aufarbeitung übergeben. Ines Geipel ist nun hier im Studio von Deutschlandradio Kultur. Frau Geipel, was sind das denn nun für Autoren, denen man im "Archiv unterdrückter Literatur in der DDR" begegnen kann?

Geipel: Sie sagten es, Joachim Walter und ich haben etwa 100 Autoren versammelt in diesem Archiv und ich glaube, darüber zu sprechen funktioniert immer am besten konkret. Wir starten jetzt im Frühjahr bei der Edition Büchergilde mit einer auf 20 Bände angelegten Reihe, "Verschwiegene Bibliothek", die erste Dichterin Edeltraud Eckert, 1950 als 20-Jährige verhaftet, 25 Jahre Haft wegen Flugblättern für Freiheit und Demokratie. Ich sage es etwas deutlich, für mich ist das im Grunde die Sophie Scholl der DDR. Mit 24 ein schwerer Haftunfall, sie wird skalpiert, zwei Monate später ist sie tot, sie wird medizinisch nicht betreut im Haftkrankenhaus Meusdorf bei Leipzig.

Was wir haben, ist eine Kladde, die sie einmalig bekommen hat, Haftgedichte. Was wir im Archiv auch haben, sind ihre Briefe, die sie schreiben durfte einmal im Monat 20 Zeilen zensiert an die Eltern. Sehr berührende Gedichte, in denen sie über ihren ganz konkreten Haftalltag schreibt. Aber im Grunde auch aus dieser Enge, aus diesem existenziellen Druck Haft heraus durchbuchstabieren muss, was ist ihr Leben, was will sie von diesem Leben in dieser Haftsituation noch. Man spürt, dass dieser Ton ihrer Gedichte immer poröser wird, je länger sie im Gefängnis sitzt. Sie sucht sich ein imaginäres Duo in diesen Gedichten, versucht ein Gegenüber zu finden in der Sprache. Ich glaube, jeder, der diesen Band in die Hand nimmt, weiß sehr schnell, was diese frühe DDR bedeutet hat. Man versteht natürlich sofort auch, dass ein solcher Text, diese Gedichte nie zur Öffentlichkeit werden konnten, nicht zur Öffentlichkeit kommen konnten. Wir sind über dieses einmalige Dokument natürlich sehr froh.

Der zweite Band in dieser Bibliothek, Radjo Monk, das sind im Grunde für uns, da haben wir uns entschlossen, die Pfosten für eine solche Edition, einen sehr, sehr frühen Text zu nehmen mit einem literarischen Tagebuch, Herbstdemonstrationen in Leipzig, also im Grunde fast der Schlusstext DDR. In diesen Brückenbogen im Grunde stellen wir jetzt sehr verschiedene Namen, Gesichter, literarische Gesichter auch. Unser Kriterium ist zu sagen, Bezug zur literarischen Moderne. Wir suchen nicht politischen Pamphletismus, auch nicht so ein Alltagstagebuch, sondern die Texte sollen geformt sein, einen Ausdruck haben.

Wir haben dort natürlich unendlich Verschiedenes, das ist klar bei 100 Autoren. Ein Romanfragment, im Grunde ein ästhetisches LTI von Thomas Körner, 6000-7000 Manuskriptseiten. Oder eben auch nur einen existentiellen Text, der nach drei, vier Jahren Haft entstanden ist.

Ich glaube, das Projekt heißt vor allen Dingen: die Angst vor dem Wort in einer Diktatur. Man sieht wie karstig Lebensschicksale oft endeten, wenn man versucht hat, in einer solchen Drucksituation nach seinem künstlerischen Ausdruck zu suchen.

Sperling: Das ist ja sehr erschütternd. Es geht ja nicht nur um den puren literarischen Fund, sondern da ist ja mit jeder Person eigentlich ein Schicksal verbunden, ein Dokument. Inwieweit koppelt denn diese Literatur zurück auf die gesellschaftliche Wirklichkeit der DDR?

Geipel: Was wir mit diesem Archiv, meine ich, zeigen können, Stoffe, die nie veröffentlich werden durften, Armeezeit, über die Wahlen in der DDR, über die Haftbedingungen und, und, und. Aber was wir natürlich auch zeigen können, sind Autoren, die aus ästhetischen Gründen nicht veröffentlichen durften, wenn sie sich zum Beispiel auf die literarische Moderne bezogen haben. Die war ja spätestens 49 schon verfemt, also mit Gründung der DDR, also Jutta Petzold, eine Berliner Dichterin, die sich ausdrücklich auf Klabund, Kolmar, (...) bezogen hat und mit diesem ästhetischen Ausdruck und Anspruch nicht zur Veröffentlichung kam. Die Spannbreite ist einfach sehr groß und zeigt einerseits, ich glaube, das sagt Hölderlin immer noch sehr wahr, was bleibt, stiften die Dichter. Die Texte sind authentische Texte aus der Zeit der DDR, sagen sehr viel von der Lebenswirklichkeit und das weiß ja jeder, in einer Diktatur kann natürlich auch das Privateste sehr politisch werden. Andererseits zeigt dieses Archiv eben auch, was an Ästhetiken nicht möglich war.

Sperling: Stichwort: nicht möglich war. Erfährt man da auch etwas über die Mechanismen und Praktiken der DDR-Zensur?

Geipel: Unser Anspruch ist es, dass wir neben den Primärtexten, den unveröffentlichten Primärtexten, eben auch die Rahmenbedingung ein bisschen zeigen, also Autoren, die an Verlage geschrieben haben und ihre Abweisungen qua Brief noch haben. Oft sind das sehr traumatische Situationen, die die Autoren auch noch sehr in sich tragen. Ich habe zum Beispiel 1999 eine Dichterin kennen gelernt, als ich den Band "Die Welt ist eine Schachtel" veröffentlichte, die mir dort sagte, in der Situation, nein, ich gebe jetzt meine Texte nicht weg, ich will nicht wieder Objekt werden. Jetzt sechs Jahre später sagt sie, nein, ich glaube, das Archiv ist der richtige Ort für mich. Ich glaube, man muss bei diesen Wegen, Schreibwegen, Lebenswegen eben auch Zeit lassen. Es ist nicht möglich, an die Tür zu klopfen und zu sagen, so, ich will jetzt ihre Texte haben.

Sperling: Sie müssen den Leuten auch ein gutes Gefühl geben. Wie geht man eigentlich mit ihnen um?

Geipel: Man muss ein Stück Vertrauen auch schaffen.

Sperling: Wie sind Sie da generell vorgegangen, um diese umfangreiche Sammlung aufzubauen?

Geipel: Ich hatte eben, wie gesagt, mit der Inge-Müller-Herausgabe und dieser Herausgabe zu unveröffentlichten Autorinnen in der frühen DDR so einen Grundstock. Und hatte zwei, drei Jahre schon in Archiven gelesen und gesessen. Aber wie sucht man da bei Autoren, die im Grunde eben namenlos sind?

Sperling: Da gibt es ja keine Bojen, die irgendwie herausstechen.

Geipel: Aber es gibt in den offiziellen Archiven, Akademie der Künste, in den Nebennachlässen oder Fremdnachlässen, bei Fühmann, der sich sehr für Autoren eingesetzt hat, auch bei Heiner Müller Namen und es taucht ab und an mal zum Beispiel im Bundesarchiv ein Name auf und dann fängt die Suche an. Wie sucht man zum Beispiel nach Hannelore Becker? Nach dem Namen Becker in Deutschland? Das ist ja wie Müller, Meier, Schmidt. Das ist manchmal richtig kriminalistisch auch und es ist schön, wenn man diese Namen dann findet, benennen kann, die Geschichte dahinter auch, die Lebensgeschichte dahinter auch kenntlich machen kann und ich glaube, dass gerade, natürlich ist die DDR-Geschichte derzeit nicht besonders im Schwange, aber ich nehme schon an, dass sich das in 10, 15, 20 Jahren verändert und ich spüre das an meinen Studenten, dass die Jungen wissen wollen, na, was ist das denn nun mit dieser Idee gewesen, warum gibt es so viel Schweigen über diese Zeit und dieses Schweigen wird ausgefüllt werden, da bin ich ganz sicher.

Sperling: Es gab ja auch etliche Autoren der DDR, die zensiert wurden, die dann in Westverlagen publiziert haben. Bei den Autoren, die Sie im "Archiv unterdrückter Literatur in der DDR" gesammelt haben, ist das nicht der Fall, warum?

Geipel: Naja, zum Beispiel Lutz Rathenow als literarischer Tausendsasser hat natürlich sehr schnell auch gesehen wie er sich schützen kann, indem er im Westen veröffentlicht. Aber das können wir in dem Archiv auch zeigen, dass manche Autoren doch sehr am Rand und fast über den Rand hinaus gelebt haben. Also, es ist ein Unterschied gewesen, ob man in Berlin saß oder in Greiz. Also, Günter Ullmann, der Dichter, der derart von der Staatssicherheit observiert wurde, dass er sich dann am Ende hat alle Zähne ziehen lassen, weil er glaubte, man hat ihn sozusagen verwanzt. Das hat mit der extremen Bespitzelung seines Freundes Ibrahim Böhme zu tun gehabt. Das sind natürlich sehr drastische Geschichten. Das Wunderbare an diesem Archiv, denke ich, ist, dass wir die Texte haben und Texte sind immer Leben.

Sperling: Wenn Sie es jetzt vom literarischen Befund einschätzen müssten, was erwartet das Publikum da? Sind da, ich sage es mal ganz salopp, Bestseller darunter? Hat es eher dokumentarischen Charakter?

Geipel: Ich sagte schon, für uns war wichtig das Kriterium Bezug zur literarischen Moderne, Dichte, Sprache, ein Ring um Form und um Stil. Es gibt große Texte, die sich sicherlich neben eine Qualität Heiner Müller stellen lassen, wie Thomas Körner und es gibt wiederum sehr Berührendes. Ich möchte nicht schon wieder dieses Kriterium haben. Ich finde sehr Berührendes wie Edeltraud Eckert, wo ich glaube, die Texte zu lesen und ihr Schicksal wahrzunehmen. Das gehört in diese Zeit.

Sperling: Professor Ines Geipel hier im Studio von Deutschlandradio Kultur. Sie hat das "Archiv unterdrückter Literatur in der DDR" gegründet und aufgebaut. Heute Abend wird das Archiv an die Stiftung Aufarbeitung übergeben.