Die Angst vor dem Islam

Von Peter Heilbrunner |
Obwohl es den Niederländern bei nur vier Prozent Arbeitslosigkeit wirtschaftlich vergleichsweise gut geht, sind sie, die sich lange Zeit in einem liberalen multikulturellen Land ohne Gewalt wähnten, tief verunsichert. Einer, der vom Unbehagen der Bevölkerung besonders profitiert, ist der Filmemacher und Politiker Geert Wilders, der vor einigen Jahren mit einem Propagandastreifen gegen Muslime auf sich aufmerksam machte.
Geert Wilders kennt kein Halten mehr - nach seinem Erfolg bei den Kommunalwahlen im März strotzt der niederländische Rechtsaußen nur so vor Selbstbewusstsein.

Wilders: "Dieser Erfolg ist gewaltig, ruft der Einwanderungsgegner und Islamkritiker. Er sei ein Sprungbrett für den Sieg auch bei den Parlamentswahlen am 9. Juni. Heute Almere und Den Haag, morgen die ganzen Niederlande."

"Was Geert Wilders will, das ist nicht mein Holland. Wilders ist auch nicht meine Sorte Mensch. Er bringt die Leute gegeneinander auf, er bringt die gesellschaftlichen Gruppen gegeneinander auf. Sein einziges Thema: Einwanderung und immer wieder Moslems, Moslems und noch mal Moslems."

Geert Wilders spielt mit dem Feuer. Sein Anti-Islam-Film – anzuschauen im Internet - beginnt mit einer Provokation, so wie jeder Auftritt des Rechtspopulisten mit einer Provokation beginnt. Der Koran wird aufgeschlagen, der Blick fällt auf die umstrittenen Mohammed-Karrikatur des dänischen Zeichners Kurt Westergaard.

Der Prophet trägt eine Bombe als Turban – in Wilders Propaganda-Streifen glimmt zusätzlich die Zündschnur der Bombe, der Countdown läuft, die Uhr tickt - noch 15 Minuten. Solange dauert der Film.

"Wat Nederland nu nodig heeft is een Immigratie Stop van Mensen uit Muslimlanden. De Partij voor de vrijheid kiest voor meer veiligheid en minder immigratie."

Islam gleich Islamismus, Muslime gleich Verbrecher, Einwanderung gleich Gefahr.

Es sind diese Assoziationen, mit denen Wilders - auf allerdings sehr plumpe Weise - arbeitet, in diesem Film, in seinen Wahlwerbespots, bei seinen Auftritten. Innerhalb von gerade mal fünf Jahren hat der 46-Jährige es damit vom No-Name zum Shooting-Star der niederländischen Politik gebracht.

Aus dem Stand heraus hat seine Ein-Mann-Gruppierung, die Partei für die Freiheit, bei den Europawahlen im vergangenen Jahr knapp 15 Prozent der Wählerstimmen eingesammelt. Bei den Kommunalwahlen Anfang März ist die PVV in der Retortenstadt Almere vor den Toren Amsterdams auf Anhieb stärkste politische Kraft geworden.

Wilders: "Vandaag Almere en Den Haag, morgen heel Nederland ..."

Mehr als eine Million Muslime leben in den Niederlanden mit ihren 16 Millionen Einwohnern. Sie sind seit gut zehn Jahren Gegenstand einer politischen Auseinandersetzung, die selten sachlich und meistens polemisch geführt wird.

Die Niederlande sind ein Einwanderungsland - und anders als die Deutschen haben die Niederländer diese Tatsache nie in Frage gestellt. Knapp 20 Prozent der Bevölkerung des Polderlandes sind entweder selbst Zugewanderte oder ihre Kinder – ein Erbe auch der Kolonialzeit.

Eine Integrationspolitik aber gab es auch in den Niederlanden nicht, vielmehr hoffte die Politik entweder darauf, dass die Gastarbeiter in ihre Heimat zurückgehen würden oder aber darauf, dass sich die Einwanderer unterschiedlichster Herkunft und Religion im Laufe der Zeit zu einer mehr oder weniger homogenen Bevölkerungsgruppe entwickeln würden – und so neben Katholiken, Protestanten, Sozialdemokraten und Liberalen ein Teil des "Hauses Niederlande" würden, wie der Schriftsteller Hans-Maarten van den Brink erklärt.

Brink: "Diesen Versuch hat es noch gegeben vor allem bei den Christdemokraten. Ruud Lubbers, ehemaliger Premier hat gesagt: Also wenn ihr integrieren wollt, dann integriert ihr nicht bei uns, sondern ihr stiftet eine eigene Säule."

Entzinger: "Verstehen Sie? Es sah aus wie Liberalismus und Toleranz. Aber in Wirklichkeit war die Mainstream-Gesellschaft abgeschlossen für die Eingewanderten."

Eine Ausnahme: die Parteien. Sie haben sich bereits in den siebziger Jahren darum bemüht, Einwanderer für die Politik zu gewinnen. Mit der Folge, dass Allochtone – das bedeutet im Niederländischen soviel wie Nicht-Einheimische - aus den Gemeinderäten der meisten holländischen Städte kaum mehr wegzudenken sind. Mustafa Okcuoglu. Er sitzt seit vier Jahren für die Partei für die Arbeit, das sind die niederländischen Sozialdemokarten, im Stadtparlament von Den Haag. Der dreifache Familienvater ist im Hauptberuf Lehrer.

Okcuoglu: "Natürlich musst du deine eigene Kultur respektieren, deine eigene Religion, deine eigenen Landsleute und deren Mentalität. Aber wir leben, wohnen und arbeiten eben in den Niederlanden, wir sind Bürger von Den Haag. Und deshalb muss man die Mentalität, die Kultur und die Werte der Niederländer auch genauso respektieren wie die eigenen Werte."

Mustafa Okcuoglu ist Mitte der Achtzigerjahre mit seinen Eltern aus der Türkei nach Den Haag gekommen. Von Anfang an hat er sich politisch engagiert, seit 20 Jahren ist er Mitglied seiner Partei. Im Gemeinderat kümmert sich der Mittvierziger um Mittelstandsförderung und Bildungsfragen.

Okcuoglu: "Migrantenkinder , deren Eltern nicht ausreichend Niederländisch sprechen, hinken den Muttersprachlern bei der Einschulung zwei bis drei Jahre hinterher. Dadurch kommen sie natürlich auch in der Grundschule schlechter mit. Das wieder aufzuholen, ist sehr schwierig. Zumal von zu Hause keine Unterstützung kommen kann - das ist doch unbestritten. Deshalb brauchen wir guten Unterricht in guten Schulen, um diesen Rückstand wettzumachen. Damit diese Kinder auf ein sprachliches Niveau kommen, wie wir uns das in den Niederlanden wünschen."

Aus falsch verstandener Toleranz sind die Zuwandererkinder bis in die 90er-Jahre hinein vor allem in der Sprache ihrer Eltern unterrichtet worden – während ein Klassenzimmer weiter die Kinder von Niederländern dem Niederländisch-Unterricht folgten. Gefördert wurde auf diese Weise ein Nebeneinander, nicht ein Miteinander.

Der wirtschaftliche und gesellschaftliche Aufstieg blieb dieser Einwanderergeneration verwehrt – ohne Sprachkenntnisse keine Chance auf eine Lehrstelle, ohne Ausbildung keine Chance auf einen ordentlich bezahlten Job. Die Folge: Jeder dritte Marokkaner oder Türke lebt von Sozialleistungen des Staates, Jugendliche mit marokkanischer Abstimmung tauchen deutlich häufiger in den Polizeistatistiken auf als ihre niederländischen Altersgenossen.

Bereits vor gut zehn Jahren leitete die Politik deshalb einen Kurswechsel ein: Der Unterricht in der Muttersprache der Einwandererkinder wurde eingeschränkt. Wie sich überhaupt vieles verändert hat im Umgang mit den "Allochtonen", meint Hans-Maarten von den Brink. Der Essayist und Schriftsteller stellt fest,

Brink: "dass in den letzten zehn, vielleicht fünfzehn Jahren Gesetze strenger geworden sind, das Klima sich geändert hat, dass wir auch bestimmte Ansprüche jetzt wichtig finden."

"Gesetz zur staatsbürgerlichen Integration von Neuankömmlingen" heißt das Gesetz etwas sperrig. Es schreibt insgesamt 600 Stunden Sprachkurse und Landeskunde vor.

Im Gegenzug übernimmt der Staat die Kosten für die Sozialversicherung, gewährt Sozialhilfe und hilft bei der Jobsuche. Das Prinzip "Fordern und Fördern" wird zum Leitmotiv der neuen niederländischen Integrationspolitik.
Am sechsten Mai 2002 wird Pim Fortuyn ermordet.

NOS-Journal : "Goede Avond. Pim Fortuyn is dood”"

Der Mörder ist ein fanatischer Tierschützer und Umweltaktivist, nicht etwa ein hasserfüllter Dschihadist. Die Niederlande stehen unter Schock - seit Menschengedenken hatte es in dem Polderland keinen Mord mehr an einem Politiker gegeben.

Nur zwei Jahre später wird das Enfant Terrible unter Hollands Filmemachern, der Dokumentarfilmer Theo Van Gogh, auf offener Straße zuerst niedergeschossen, dann erstochen - abgeschlachtet von einem islamischen Fundamentalisten, weil Van Gogh in seinem gerade gedrehten Film gegen Muslime gewettert hatte.

Wie ein Virus breitet sich die Botschaft, die hinter diesem Mord zu stecken scheint, in der Gesellschaft aus, infiziert die Parteien und ihre Programme. Sicherheit und Freiheit werden zu den beherrschenden Themen der kommenden Wahlkämpfe:

""Ausländer sorgen doch nicht nur hier im Viertel für Probleme, das ist doch in allen Großstädten so, sagt eine Passantin. Ihre Freundin betont zwar, dass es in ihrem Bekanntenkreis viele Ausländer gebe. Dennoch findet sie, das Boot sei voll."

Anfang Mai 2010. Der Wahlkampf nimmt langsam Fahrt auf. Auftritt Geert Wilders in Groningen, im Norden der Niederlande. Dass der Chef der rechtspopulistischen PVV gleich in der Fußgängerzone erwartet wird, kündigt sich mit Sirenengeheul an; wie aus dem Nichts tauchen plötzlich muskelbepackte Bodyguards auf; die Menschen bleiben stehen. Wilders steigt aus.
Pfui, Pfui rufen die einen; ein anderer verwickelt den bestbewachten Politiker in ein Gespräch über Briefwahlunterlagen - Wilders bedankt sich artig.

Die Rezepte des holländischen Rechtsaußen sind einfach: Wilders will erstens den Zuzug von Muslimen nach Holland stoppen, zweitens die Anhebung des Rentenalters verhindern, drittens eine PKW-Maut auf niederländischen Autobahnen bekämpfen und viertens den Bau von Moscheen und das Tragen von Kopftüchern in der Öffentlichkeit verbieten.

Wilders: "Wir sind populär. Viele Leute möchten eine große Partei für die Freiheit sehen. Also, ich bin sehr motiviert, um weiterzumachen und etwas zu ändern in den Niederlanden. Damit die Leute ihr Land zurückbekommen."

Rund um die Uhr wird Geert Wilders beschützt, seine Adresse ist das bestgehütete Geheimnis der Niederlande.

Scheffer: "Was ihm passiert, das ist natürlich traurig. Das ist auch ein bisschen das Ende der Unschuld dieser Gesellschaft, weil wir natürlich immer mit diesem Gefühl der Unverletzlichkeit gelebt haben: kleines Land, ziemlich offen, ziemlich liberal. In den 30, 40 Jahren nach dem Krieg immer auch gelebt, unsere Freiheiten sind eigentlich selbstverständlich, die können sich eigentlich nur vertiefen. Diese Gesellschaft hat eigentlich kaum politische Gewalt gekannt, natürlich unvergleichbar mit Deutschland oder Spanien mit der ETA oder in Großbritannien die IRA."

Die Unzufriedenheit mit der bisherigen Einwanderungspolitik, die Morde an zwei populären Islam-Kritikern, dazu eine diffuse Angst vor den Folgen der Globalisierung für den eigenen Lebensstandard - das politische Klima in den Niederlanden hat sich nachhaltig verändert.

Brink: "Jeder Ausländer, der länger in Holland wohnt, wird sagen: so wunderbar wie ich aufgenommen wurde. Aber nach zehn Jahren weiß man, dass man nicht wirklich durchgedrungen ist in unsere Gesellschaft. Es gibt hier sehr viele geheime Codes, Verhaltensweisen, die man nicht in einem Buch finden kann. Aber die dann doch mitbestimmen."

Die niederländische Gesellschaft ist aus dem Gleichgewicht geraten, sagen Sozialwissenschaftler. Die muslimischen Einwanderer fordern gesellschaftliche Teilhabe ein, während eine Minderheit unter ihnen sich immer weiter von der Gesellschaft entfernt. Gleichzeitig spürt eine Mehrheit der Niederländer, dass der Druck im Kessel steigt, ohne ihrerseits Rezepte parat zu haben, wie mit der neuen Situation umgegangen werden soll.

Entzinger: "Das Problem kommt eben: Was tut man mit der Toleranz im Fall von Nicht-Toleranten? Muss man auch tolerant sein gegenüber Nicht-Toleranten? Das war bis vor Kurzem ein theoretisches Problem. Aber jetzt ist es ein praktisches Problem. Was macht man mit Burkas, was macht man mit Männern, die Frauen die Hände nicht schütteln? Was macht man, wenn die Mädchen nicht mit ins Schwimmbad dürfen oder wenn Lehrer in der Klasse nicht mehr frei über Homosexualität reden können."

Geert Wilders liefert die simplen Antworten auf diese Fragen, die sich allen westlichen Einwanderungsgesellschaften stellen. Kein anderer Kontinent der Erde steht derart unter Einwanderungsdruck aus muslimischen Ländern wie Europa. Und nirgendwo leben Einwanderer und Einheimische auf engerem Raum zusammen als in den Niederlanden.

Zur Eingliederung der Niederländer türkischer oder marrokanischer Herkunft in die Gesellschaft gibt es deshalb keine Alternative. Wer sich dagegen wehrt, wählt Geert Wilders.
Scheffer: "Diese Parteien kommen und gehen. Aber die gesellschaftlichen Spannungen, die da thematisiert werden, die haben etwas mehr Substanz und Kontinuität. Ich glaube, dass man in den Niederlanden damit rechnen muss, wenn es Wilders nicht gelingt, dass es dann neue Parteien gibt.

Weil sich wie in anderen europäischen Ländern einer von fünf Wählern sich angezogen fühlt von einem Programm gegen Migration, gegen Europa, für ein härteres Rechtsklima und soziale Abschirmung. Solche Themen spürt man auch in den anderen europäischen Ländern."

Eines allerdings gerät in der ganzen Debatte über Einwanderung und Integration, im Streit über Kopftücher und Minarette zu kurz: Viele Zuwanderer haben sich längst auf den Weg gemacht in die Mitte der Gesellschaft, das ist in den Niederlanden nicht anders als in Deutschland.

Zwar verlassen im Vergleich zu Kindern alteingesessener Niederländer noch immer doppelt so viele Einwandererkinder die Schule ohne Abschluss. Und während jeder zweite Schulabgänger mit Wurzeln ausschließlich in den Niederlanden eine Universität oder Hochschule besucht, trifft dies nur auf jeden vierten Türkisch- oder marokkanischstämmigen Jugendliche zu. Doch langsam, aber stetig beginnt diese Kluft kleiner zu werden.

"Wenn ich Migrationsgeschichte studiere, dann glaube ich, dass ich mit einiger Sicherheit sagen kann, dass wenn wir in zehn, fünfzehn Jahren zurückblicken werden, dass wir das dann eher sehen als ein Übergangzeit. Eine Gesellschaft, die sehr viele Spannungen aufzeigt. Aber diese Spannungen sind auch eine Suche nach einem neuen Gesellschaftsvertrag."