Die Angst in Niger vor der Krise in Mali

Von Bettina Rühl · 30.01.2013
In der Vergangenheit gab es bereits zwei Revolten unter den bettelarmen Tuareg im Niger, die viel Leid und noch mehr Armut brachten. Jetzt fürchten die Menschen, dass die Gewalt aus Mali übergreift. Friedensforen überall im Land sollen helfen, das zu verhindern. Auch ehemalige Tuareg-Kämpfer engagieren sich.
Alhousseini Anivolla: "Ich finde das, was dort passiert, sehr beunruhigend. Es ist, als würden die Islamisten zu jedem Einzelnen sagen: 'Lösche aus, was Du bist!' Und damit sagen sie im Grunde: 'Bring Dich um!' Meiner Ansicht nach ist es genau das, was sich in Mali abspielt."

Alhousseini Anivolla wurde zwar in Niamey geboren, aber seine Familie stammt aus Mali. Noch immer hat er dort nahe Verwandte. Doch selbst, wer im Niger lebt und keine Familienbande nach Mali hat, verfolgt mit Sorge, was dort geschieht. Die Angst vor dem Übergreifen der Gewalt ist groß. Denn viele Probleme sind in Mali und im Niger die gleichen: Die Arbeitslosigkeit, die vor allem unter Tuareg groß ist, die vergleichsweise niedrige Bildung der Nomaden, die den Schulbesuch früher abgelehnt haben. Zudem ist der wüste Norden beider Länder kaum entwickelt. In Mali und im Niger gab es seit den 1990er Jahren bis zu dem jüngsten Aufstand schon zwei Rebellionen, ohne dass sich dadurch die Lage für die Tuareg grundlegend geändert hätte. Viele der ehemaligen Rebellen haben außer Kämpfen nichts gelernt. Sie sind leichte Beute für Anwerbungsversuche durch Islamisten oder kriminelle Banden.

Es ist heiß an diesem Nachmittag in Niamey, der Hauptstadt des Niger. Drahmane Ag Ibrahim sitzt mit seinen Kindern auf Matten und Teppichen vor seiner Hütte, vor der Sonne durch eine Plane und Wände geschützt, die aus Weiden geflochten sind.

Drahmane ist 48 Jahre alt und Musiker, ein Griot. Das heißt, er spielt die traditionelle Musik seines Volkes, der Tuareg. Sein Besucher, auch im traditionellen Gewand der Tuareg, hat eine moderne akustische Gitarre dabei.

Er heißt Alhousseini Anivolla und ist ebenfalls Musiker. Während Alhousseini Anivolla auf der akustischen Gitarre spielt, hat Drahmane Ag Ibrahim sein traditionelles Instrument aus der Hütte geholt. Es ist sehr bauchig, hat drei Saiten und heißt "Tehardent".

Drahmane Ag Ibrahim: "Mein Instrument hat eine lange Tradition. Alhousseini dagegen benutzt eine moderne Gitarre, eine Weiterentwicklung von meiner. Aber egal, mit welchem Instrument wir spielen – es bleibt die Musik der Tuareg, die wir nur etwas modernisiert haben. Wenn wir zusammen musizieren, ist das auch ein Bild für die Veränderungen, die das Leben mit sich bringt. Aber in dem, was wir machen, sind die Wurzeln noch erhalten und darauf kommt es an. Wenn wir zusammen spielen, findet sich Alhousseini in unseren traditionellen Liedern sofort zurecht.
Du hast ja gehört, was er gesagt hat. Was immer Du im Leben machst, ist ganz egal, wenn Du nur das Bewusstsein für Deine Wurzeln bewahrst. Wenn Du nicht vergisst, wo Du herkommst. Dann kannst Du ein noch so modernes Leben führen, aber Du wirst Dein Gesicht nie verlieren. Deine Identität bewahren, Deine Kultur, Deine Tradition und alles, was damit zusammen hängt."

Umso bedrückender finden die Musiker die Entwicklung in Mali, dem Nachbarland des Niger. Seit Ende März kontrollieren dort bewaffnete islamistische Gruppen den Norden des Landes. Auch eine Revolte weltlicher Tuareg, die sich Anfang 2012 unter dem Namen "Nationale Bewegung für die Befreiung des Azawad" erhoben, beförderte den Vormarsch der Islamisten.

Viele dieser Tuareg-Rebellen hatten als Söldner für Libyens gestürzten Herrscher Muammar al-Gaddafi gekämpft. Nach dem Umbruch dort kehrten sie in ihre Heimatländer zurück. Dank der Waffen und der Munition, die sie aus Libyen mitgebracht hatten, konnten die Tuareg, die aus Mali stammten, den Norden des Landes erobern, gemeinsam mit islamistischen Gruppen. Eine von ihnen wurde ebenfalls von einem Tuareg angeführt: Von Iyad Ag Ghali, prominenter Rebell früherer Tuareg-Aufstände in Mali. Heute steht er an der Spitze der islamistischen Ansar Dine.

Die weltlichen Tuareg-Rebellen wurden allerdings bald von den islamistischen Gruppen überrannt, neben der Ansar Dine auch von der "Al-Qaida im Maghreb" und der MUJAO. Sie alle unterwerfen die Bevölkerung im Norden Malis mit Gewalt, verbieten neben Musik auch jede andere Form des kulturellen Lebens, reglementieren die Kleidung: Statt ihrer traditionellen Gewänder sollen die Tuareg ebenso wie auch Angehörige anderer ethnischen Gruppen im Norden von Mali arabische Gewänder tragen.

Drahmane Ag Ibrahim: "Mir macht das Angst. Dass sie die Tradition zerstören, die sie vorgefunden haben. Die islamischen Heiligtümer. Ich finde das immer noch unvorstellbar, absolut verwerflich. Sie geben sich als Muslime aus, aber der Islam verbietet niemandem, seine Tradition zu bewahren. Er verlangt von keinem, dass er seine Identität aufgibt. Jeder, der so etwas hört, bekommt Angst. Man kann nicht von einer Minute auf die andere alles wegwerfen, was einen ausmacht."

Ein Dorf im Air-Gebirge, im Norden von Niger. Abends spielen Kinder im Dorfzentrum Fußball. Die untergehende Sonne taucht alles in ein warmes Licht.

Bis zu Beginn der zweiten Tuareg-Rebellion im Niger 2007 war die landschaftlich reizvolle Gegend ein beliebtes Reiseziel. Aber seit Entführungen von Ausländern und das Erpressen von Lösegeld im Sahel fast so etwas wie ein Wirtschaftszweig wurden, bleiben die Touristen weg. Darunter leidet die gesamte Region, denn der Tourismus war eine wichtige Einnahmequelle. Genauer gesagt: Die wichtigste neben der Viehhaltung der Nomaden und dem Gemüseanbau in den Oasengärten des Air.

Vor allem Iferouane war früher bei Touristen beliebt. Kleine Verkaufsstände säumen die Lehmpiste, die durch das Dorf führt. Im Hintergrund erhebt sich der "Tamgak", mit gut 1900 Metern der zweithöchste Berg im Niger.

Von den Verkaufsständen zieht der angenehme Geruch gegrillter Hühner- und Hammelteile durch die Luft. Musikverkäufer locken mit Kostproben aus ihrem Angebot. Ein Idyll. Doch das Dorf war Zentrum der letzten Rebellion der Tuareg im Niger, die 2007 ihren Anfang nahm. Der Aufstand endete zwei Jahre später mit einem Waffenstillstand, vermittelt von Libyens ehemaligem Herrscher Gaddafi. Rund 4000 nigrische Rebellen gaben ihre Waffen ab - und sind seitdem ohne Lohn und Brot.

"Iferouane war 2007 und 2008 die Hölle. Ständig hörten wir Schüsse, meist von Maschinengewehren. Wir konnten gar nicht anders als fliehen. Schon um den Ohren etwas Ruhe von dem ständigen Gefechtslärm zu gönnen."

Die Frau, die im Schatten einer Lehmmauer hockt, möchte anonym bleiben. Sie hat Angst, dass Islamisten längst auch hier im Niger jeden Schritt der Menschen beobachten. Ihre Furcht ist gut begründet. Denn die Grenze zwischen den beiden Sahelstaaten ist durchlässig: Seit Jahrhunderten ziehen nomadisch lebenden Tuareg mit ihren Kamelen zwischen beiden Ländern hin und her. Heute allerdings weniger mit Kamelkarawanen, sondern in Konvois mit modernsten Pick-Ups. Viele sind schwer bewaffnet. Manche haben im Gepäck statt Salz, Drogen und Schmuggelwaren aller Art. Einige dieser Kriminellen sind zugleich Mitglieder Islamistischer Milizen in Mali.

"Jetzt ist bei uns endlich Frieden. Aber die Menschen haben während des Krieges alles verloren und bis heute nicht geschafft, alles neu aufzubauen. Nach der Flucht kamen sie mit leeren Händen zurück, ihren Besitz und ihre Tiere mussten sie ja zurückgelassen. Aber damit kann man klarkommen. Das, was uns nun wirklich Angst macht, ist die Entwicklung in Mali."

Die Frau trägt ein Gaze-Kopftuch, das fast transparent ist, eher kleidsam, statt verhüllend. Sie hat einen Job – trotz ihrer vier Kinder. Sie ergreift in Versammlungen des Dorfes auch mal das Wort – Freiheiten, mit denen unter den Extremisten Schluss wäre. Dazu kommt, dass jeder in Iferouane weiß, was Krieg bedeutet. Welches Elend er mit sich bringt.

"Humanitäre Organisationen sind dabei, die Menschen bei uns aufzuklären und ihnen zu raten, ruhig Blut zu wahren, nicht mitzumachen, vor allem den Tuareg. Denn bei uns gibt es ein Sprichwort: 'Wenn der Bart deines Nachbarn Feuer fängt, machst du deinen Bart am besten nass, damit er nicht ebenfalls anfängt zu brennen.'"

Über den Dorfplatz scheppert eine Mischung aus traditioneller und moderner Musik. Die nigrische Hilfsorganisation HED Tamat macht damit auf die Versammlung aufmerksam, zu der sie die Menschen von Iferouane eingeladen hat. Es geht um die Frage, was getan werden kann, damit Niger ein stabiles Land bleibt. Eingeladen sind Vertreter von Regierung und Armee. Gekommen ist auch der Sultan von Agadez, und der hat traditionelle Musiker im Gefolge.

Solche Friedensforen finden derzeit in fast allen größeren Siedlungen der Tuareg im Norden von Niger statt. Mano Aghali leitet die Hilfsorganisation, die für ihre Arbeit auch Geld aus Deutschland bekommt.

Mano Aghali: "Die Idee für solche Friedensforen entstand, weil wir keinen weiteren Aufstand der Tuareg wollen. Wir wollen nicht noch eine Rebellion. Das ist die Idee dieser Foren."

Aghali selbst beteiligte sich in den 1990er Jahren am ersten Aufstand des Nomadenvolkes. Er gehörte zum politischen Flügel der Rebellen. Später studierte er Wirtschaftswissenschaften, ging in die Politik und war ein paar Jahre lang Parlamentarier. Als die Tuareg in Mali und im Niger 2007 erneut zu den Waffen griffen, stieg Aghali aus. Heute glaubt er an politische, nicht an militärische Lösungen.

Mano Aghali: "Die Führer der zweiten Rebellion behaupteten, sie sprächen im Namen der Tuareg, aber das, was sie machten, entsprach nicht dem Willen der Bevölkerung. Zunächst ging es zwar für die Rebellen um die Unzufriedenheit mit ihrer Lage. Bald hatten sie aber eine lukrative Beschäftigung gefunden, nämlich den Schmuggel von Drogen im Norden von Niger."

Im Schatten des Aufstands konnten die Schmuggler ihre illegale Ware ungestört quer durch das Land transportieren - Haschisch, Zigaretten und Kokain. Auch die bewaffneten islamistischen Gruppen, sind tief in die Organisierte Kriminalität verstrickt.

Auf dem Podium in Iferouane sitzt Rhizza Ag Boula, einer der Berater des Präsidenten des Niger. Er selbst war an beiden Rebellionen im Niger beteiligt. Heute lebt ein seiner Familie in Mali - und weiß deshalb genau, wovon er spricht: Er warnt die jungen Männer des Dorfes vor den islamistischen bewaffneten Gruppen. "Lasst Euch auf keine Abenteuer ein", sagt er. "Sie locken Euch, vielleicht mit Geld. Aber am Ende unterwerfen sie euch mit Gewalt." Mit seiner eindringlichen Rede schlägt Rhizza das Publikum in den Bann.

Alhousseini Anivolla ist nach dem Besuch bei dem traditionelle Musik spielenden Griot wieder in seinem eigenen Haus. Einem modernen Bungalow, dessen Wände mit Kunsthandwerk der Tuareg geschmückt sind - fein verzierten Lederarbeiten und Kalebassen, die bei Bedarf als Perkussionsinstrumente dienen.

Anivolla hat Besuch von einem befreundeten Kollegen bekommen. Die beiden spielen einen Titel aus Anivollas erstem Solo-Album, das im Jahr vergangenen Jahr erschienen ist. Es heißt "Aneval/ The Walking Man", und ist eine Hommage an die Kultur der Nomaden.


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