Die anderen

Mit Sartre auf dem Campingplatz

03:53 Minuten
Campingwagen stehen im Urlaubsort Schillig dicht an dicht auf einem Campingplatz.
So denkt wohl nicht nur unser Autor Paul Stänner: Wie schön wäre doch ein Campingplatz – ohne Menschen. © Imago / Kirchner-Media
Überlegungen von Paul Stänner · 20.08.2021
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Bei vielen ging es in diesem Jahr in die Natur oder zumindest in so was Ähnliches. Auch der Journalist Paul Stänner war zelten – beziehungsweise "machte Camping" und stieß dabei auf ein Problem, das Jean-Paul Sartre schon erkannt hatte: die anderen!
Der Mensch ist ein soziales Wesen, heißt es. Er ist sogar so sozial, dass er gelegentlich zu Akten großer Hilfsbereitschaft fähig ist, wie sich nach der jüngsten Flutkatastrophe wieder einmal gezeigt hat. Er kann aber auch anders.
Camping, heißt es, ist eine eigene Erfahrungswelt. Menschen, gesellig wie sie sind, kommen auf einer Anlage zusammen, auf der es Nasszellen und eine Kantine gibt, und treten in Nachbarschaft.

Das Leben findet im Freien statt

Die Sonne scheint nach Kräften, der Wind ist milde, man fühlt sich frei und draußen, ja fast schon wie ein integraler Bestandteil der Natur.
Wohnwagentüren stehen weit offen, an den Vorzelten sind Einlässe und Blenden hochgerollt, das Leben findet im Freien statt.


Auf einem Campingplatz treffen unterschiedlichste Menschen aufeinander. Das reicht von den Zurück-zu-den-Ursprüngen-Campern mit einfachster Ausstattung auf Pionier-Niveau bis hin zu Luxus-Menschen, die außer ihrer Waschmaschine ihre gesamte Luxus- und Glamourausstattung ins Freie schleppen und so genanntes Clamping betreiben.
Eine bunte Mischung von Außer-Haus-Übernachtern kommt in der Ferienzeit nicht nur zusammen, sondern auch einander nahe.

Eine Erkenntnis wie ein Schlag mit dem Badetuch

Jean-Paul Sartre kommt einem in den Sinn. Als er im Sommerurlaub auf einem Campingplatz an der Côte d’Azur am Konzept des Existenzialismus feilte, traf ihn seine wichtigste Erkenntnis wie ein Schlag mit dem feuchten Badetuch seines Nachbarn:
"Die Hölle" – sagte Sarte –, "das sind die anderen".
Auf einem Campingplatz in den holländischen Dünen wird schnell deutlich, was der Philosoph so klar formuliert hatte.
Da ist die Frau, die mit ihrem Hund zwischen den Zelten spazieren geht. Mit lauten Rufen fordert sie die Bewohner auf, ihre Zelte zuzuziehen. Weil sonst der Hund reinläuft. Die Tierfreundin zieht es vor, ihr unbekannte Urlauber herum zu kommandieren und nicht ihrem Hund – wohl wissend, dass der sowieso nicht hört.
Da hat man hinter der Hecke ein unsichtbares, aber hörbares hessisches Ehepaar neben sich, das versucht, einen Sonnenschirm aufzustellen.
Er: "Ei, zieh, fass doch mall de Schnur in de Mitte."
Sie: "Isch fass doch inne Mitte."
Er: "Nei, richtig Mitte."
Sie: "Ja, wo ist denn die Mitt?"
Er: "An de annere Schnur."
Sie: "Isch so richtisch?"
Er: "Na! Jez ziehs se doch."
Sie: (laut) Anton! (Der Hund kommt und bellt.)
Er: "Ei, lass doch de Hund in ruh."
Sie: "Isch des jez die Mitte?"
Er: "Anton, sitz!"

Die Illusion der Privatheit

Irgendwann ist es soweit, der Schirm steht. Wahrscheinlich hat er sich aus Erbarmen selbst aufgestellt. Zurück bleibt die Frage, warum es so populär ist, die sprachlichen Eigenheiten der Schwaben zu verachten, wo es doch auch Hessen gibt …
Egal!
Gefährlich wird es, wenn sich Nachbarn mit aufgespannten Windschutzplanen einen privaten Hof geschaffen haben. Weil sie hinter ihren Tüchern jetzt niemanden mehr sehen können, leben sie in der Illusion, sie seien familiär ganz unter sich und könnten sein, wie sie zu Hause sind.
Zwei Meter weiter wird unsereinem diese fatale Illusion sofort deutlich, als sich herausstellt, dass der Nachbar nicht nur mit der Natur um sich, sondern auch in sich in Harmonie lebt. Dass er gern mexikanische Bohnengerichte isst und auch sonst keine Hemmungen kennt. Camping ist eine eigene Erfahrungswelt, die auch die dunklen Seiten des Menschen offenbart. Das muss man wohl so hinnehmen.
Oh Jean-Paul, wie recht Du hattest!

Der Autor und Journalist Paul Stänner wurde in Ahlen in Westfalen geboren, hat in Berlin Germanistik, Theaterwissenschaft und Geschichte studiert. Er arbeitet als Rundfunkjournalist und Buchautor. Zuletzt erschien von ihm das Buch "Agatha Christie in Greenway House".


Paul Stänner
© privat
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