Die Andenken-Retterin

Von Igal Avidan · 09.07.2010
Als Sonja Sonnenfeld 1979 damit beauftragt wurde, den schwedischen Diplomaten und Judenretter Raoul Wallenberg aus einem sowjetischen Gefägnis zu befreien, war sie bereits Rentnerin. Heute, mit 97, ist sie immer noch aktiv und engagiert sich gegen Antisemitismus und Rassismus.
Dass sie jüdisch ist, erfuhr Sonja Sonnenfeld zum ersten Mal durch Adolf Hitlers Buch "Mein Kampf". Diese Schrift wurde zur täglichen Lektüre der schwedisch-jüdischen Familie, die ab 1914 in Berlin lebte. Sonjas Vater Alexander, der sich für Politik interessierte und zu dessen Gästen Außenminister Walter Rathenau zählte, verschaffte sich Hitlers Buch. Er wollte, dass seine Kinder Hitlers Gedanken kennenlernen. Und so versammelte sich die sechsköpfige jüdische Familie jeden Abend und las der Reihe nach ein Kapitel laut vor. Sonja Sonnenfeld, heute 97 Jahre:

"Die Ausdrucksweise war ja: 'Wenn ich was zu sagen habe, wird Deutschland, ja ganz Europa judenrein werden.' Das habe ich gelesen, ich war dran. Das Kapitel las ich. Und als ich das Wort dann mit zwölf Jahren las, 'judenrein', das war unbegreiflich für mich. Hat Papa gesagt: 'rein ist säubern, das verstehst Du?' 'Ja, sauber machen, ja, aber was ist denn Juden?' Ich wusste nicht. 'Juden, Du bist doch selbst Jüdin.' Ich? Schrecklich. 'Du bist doch mitgekommen in die Synagoge.' Naja, was heißt? Ich war nie sehr gläubig, Papa war orthodox, wir doch nicht."

Dennoch lernte sie an der Fürstin-Bismarck-Schule in Berlin-Charlottenburg im Religionsunterricht das Judentum. Und das, obwohl dies eine allgemeinbildende Schule war:

"Fürstin-Bismarck-Schule, es war ein Mädchenschule, also es war eine Lehrerin da für die Jüdinnen. Eine ganz gewöhnliche deutsche Schule, das wurde das unterrichtet, das ist auch so interessant …überhaupt keine jüdische Schule, aber wir bekamen jüdischen Unterricht, die wollten, also anscheinend habe ich da was gelernt. Nicht Jiddisch, nur Hebräisch, das jetzt Ivrit heißt."

Nach dem Abitur besucht Sonja Sonnenfeld die Handelsschule. Dank ihres exotischen Aussehens erhält sie ein paar kleine Rollen in Filmproduktionen und wird für einige Zeitschriften fotografiert. Sie erlebt als schwedische Jüdin den Boykott jüdischer Geschäfte, die Nürnberger Gesetze und den Kristallnachtpogrom. Erst nachdem sie als Jüdin entlassen wird, kehrt sie im Winter 1938 nach Schweden zurück und heiratet einen jüdischstämmigen Berliner Flüchtling.

Sonja Sonnenfeld ist eine kleine lebendige Frau mit wachen, neugierigen Augen und einem breiten Lächeln. Sie ist dezent geschminkt und elegant gekleidet: ein schwarzes Kleid mit weißem Kragen, eine braune Designerbrille, auffällige modische Ohrclips. Obwohl sie mit 97 im Rollstuhl sitzt, ist ihr Gedächtnis hervorragend, und sie kann sich in sechs Sprachen artikulieren.

Bei ihrem letzten Besuch in Berlin konnte sie im Roten Rathaus auf einer gemeinsamen Veranstaltung der Deutsch-Israelischen-Gesellschaft und der Christlich-Jüdischen-Gesellschaft ihr Publikum fesseln:

"Was habe ich denn geschafft? Zum Beispiel heute Abend hier zu sein und vor so vielen Menschen zu reden, und Sie hören mir alle zu. Und es spielt gar keine Rolle, dass ich ein bisschen störend war in der Schule. Das ist eine Tatsache. Das weiß heute niemand mehr, weil niemand mehr lebt von denen, die mich erleben durften. Die sind alle weg."

Von 1962 an betrieb Sonja Sonnenfeld in ihrer Wohnung in Stockholm ein "offenes Haus", an dem jeden Sonntagnachmittag Menschen verschiedener Nationalitäten und Religionen zu Gast waren. In den 44 Jahren des offenen Hauses waren dort rund 10.000 Gäste. Ein Schild an ihrer Eingangstür begrüßte diese mit "Herzlich Willkommen" in 24 Sprachen. Um 1980 kam Ruth Jacoby, die schwedische Botschafterin in Berlin, zum ersten Mal ins "offene Haus":

"Das Haus stand offen, ihre Wohnung stand offen und da haben sich Menschen aus der ganzen Welt getroffen und da war Sonja fast 70. Das war schon fantastisch und da wird man schon sehr imponiert. Und dann habe ich sie auch oft mehrmals in der Woche morgens an der Bushaltestelle getroffen, als ich zum Auswärtigen Amt fuhr und Sonja zum Raoul-Wallenberg-Institut, also zu ihrem Büro."

Raoul Wallenberg war ein schwedischer Diplomat, der im Zweiten Weltkrieg im besetzten Budapest Zehntausende von Juden gerettet hatte und kurz nach Kriegsende in ein sowjetisches Gefängnis verschleppt wurde. 1979 wurde die Rentnerin Sonja Sonnenfeld beauftragt, Wallenberg zu befreien. In ihrer Biografie "Es begann in Berlin" beschreibt sie, wie sie zwei Agenten in ein sowjetisches Lager eindringen ließ und wie sie sich mit zwei ehemaligen sowjetischen Spionen sowie mit Helmut Kohl und Michail Gorbatschow traf. Ihr Fazit über die eigene Regierung:
"Das ist das Gemeine, die haben überhaupt nichts getan, Schweden hat Raoul doch nicht zurückhaben wollen. Schweden hat sich so schandhaft benommen, Schweden hat nie etwas für Raoul getan!"

Obwohl die Wahrheit über Raoul Wallenberg ein Rätsel geblieben ist, engagiert sich Sonja Sonnenfeld unermüdlich weiterhin dafür, das Andenken an den Judenretter wach zu halten. Bisher hat sie darüber in rund 500 deutschen Schulen gesprochen und die Kinder dazu ermuntert, die deutsche Vergangenheit nicht zu vergessen und dem Antisemitismus und Rassismus nicht gleichgültig zu begegnen. Begleitet wird sie oft von ihrem deutschen Verleger Helmut Donat:

"Frau Sonnenfeld ist eine ganz außergewöhnliche Persönlichkeit, die ganz fit und ganz toll im Kopf ist, trotz ihres hohen fortgeschrittenen Alters. Und sie ist ein Mensch, der trotz seiner vielen Gebrechen, den er inzwischen hat, anderen Menschen Kraft gibt; der nicht aufhört weiterzumachen."

Anlässlich Sonja Sonnenfelds 98. Geburtstag in diesem September steht die nächste Einladung nach Berlin bereits fest.