Die amerikanische Antwort auf "Candide"

27.02.2009
Mit der Figur des Augie March hat Saul Bellow eine Art jüdischen Huckleberry Finn geschaffen, einen unverbesserlichen Optimisten, den selbst die schlimmsten Schicksalsschläge nicht aus der Bahn werfen. Bellow hat so nicht nur seiner Heimatstadt Chicago ein Denkmal gesetzt, sondern auch den amerikanischen Grundoptimismus in Augie verewigt.
"Ich bin Amerikaner, geboren in Chicago - dem düsteren Chicago -, habe mir selbst beigebracht, wie man die Dinge in die Hand nimmt, nämlich unkonventionell, und werde auch auf meine Art Erfolg haben: Als Erster klopfe ich an, und als Erster trete ich ein."

So spricht Augie March, Hauptfigur von Saul Bellows atemberaubendem Großwerk "Die Abenteuer des Augie March". Jedenfalls spricht Augie March so in der grandiosen, weil sich dem Original quecksilbrig anschmiegenden Neuübersetzung von Henning Ahrens.

Voller Selbstvertrauen, direkt, kühn, eingängig und unverschnörkelt: Augie March und Barack Obama teilen mehr als denselben Redestil. Im Wahlkampf hat Obama sich bei einem Auftritt in Philadelphia am 17. April - allerdings vor einem nahezu ausschließlich jüdischen Publikum - zu zwei Lieblingsautoren bekannt, die sein Denken maßgeblich geprägt hätten: Philip Roth und Saul Bellow.

Während ersterer auch in Deutschland immer populärer wird, ist Saul Bellow, Literaturnobelpreisträger des Jahres 1976, nach seinem Tod 2005 hierzulande fast schon in Vergessenheit geraten. Das hat der intellektuell stets anregende und dabei hinreißend unterhaltsame Bellow nicht verdient. Und das will sein deutscher Verlag Kiepenheuer & Witsch nun durch die Publikation einer Kassette mit drei seiner wichtigsten Romane ändern. Pünktlich zur Amtseinführung Obamas erscheinen Saul Bellows "Herzog", "Humboldts Vermächtnis" und eben "Die Abenteuer des Augie March" in neuen Übersetzungen.

Bellow hat der Stadt seiner Kindheit ein Denkmal gesetzt mit dem modernen Schelmenroman "Die Abenteuer des Augie March". In einem überbordenden Redestrom, durchsetzt von Straßenslang und Zitaten aus dem klassischen Bildungsgut, schildert der Ich-Erzähler Augie March seine Jugend in den Slums von Chicago zur Zeit Al Capones, der Billardhallen und Flüsterkneipen. Augie March, das ist ein jüdischer Huckleberry Finn, respektlos, dreist und voll ansteckender Lebenslust - eine Figur, wie es sie in der amerikanischen Literatur nie zuvor gegeben hatte.

Dabei fasziniert, dass Augie auf den 859 nie langweiligen Seiten dieses Buchs im Grunde eine Niederlage nach der anderen einstecken muss, ohne sich davon im mindesten beeindrucken zu lassen: ob seine Mutter erblindet, ob er sich während der Weltwirtschaftskrise als Schuhverkäufer durchschlagen muss, ob er im Zweiten Weltkrieg Schiffbruch vor der Küste Afrikas erleidet und im Rettungsboot fast erschlagen wird, oder ob er am Ende erfährt, dass ihn seine Frau vom Beginn der Ehe an nach Strich und Faden betrogen hat: Augie ist immer obenauf.

"Meine Sehnsucht war groß, aber wonach ich mich sehnte, wusste ich nicht", bekennt der in seinem unersättlichen Lebenshunger und Wissensdurst so unterhaltsame Augie March an einer Stelle. Sein Autor Saul Bellow hat ihn Anfang der 50er Jahre als amerikanische Antwort auf Voltaires "Candide" konzipiert - und mit dieser auch heute noch in Bann schlagenden Figur die beste Erklärung des für Europäer oft so unerklärlichen amerikanischen Grundoptimismus geschaffen.

Nach zwei Dritteln des Romans sitzt Augie March mit einem durch den Huftritt eines Pferds zertrümmertem Gesicht in Mexiko, die Liebe seines Lebens hat ihn gerade verlassen und ist mit einem anderen durchgebrannt, seine ökonomischen Aussichten sind gleich null. Und was geht Augie March durch den Kopf?

"Man muss einen Menschen aus sich machen, der sich von diesen Schrecken nicht ins Bockshorn jagen lässt. Dadurch erfährt man zwar keine Gerechtigkeit und ist auch anderen gegenüber nicht gerecht, aber man überlebt. Und genau das tut die Menschheit seit jeher. Sie besteht aus Millionen solcher Erfinder oder Künstler, die allesamt irgendwie versuchen, andere zu ihrer Unterstützung zu rekrutieren, damit sie ihren Schein nach außen hin wahren können. Die größten Bosse und Anführer rekrutieren die größte Zahl von Helfern, und genau darauf beruht ihre Macht."

Rezensiert von Denis Scheck

Saul Bellow: Die Abenteuer des Augie March
Deutsch von Henning Ahrens
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2009
859 Seiten, 29,95 Euro
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