Die Alltagswelt Europas während der Shoah
Die herausragende Qualität von Saul Friedländers Werk über den Massenmord an den europäischen Juden besteht darin, dass er die Zahl von sechs Millionen in Einzelschicksale aufzulösen vermag. Die Stimmen, die der Historiker versammelt, sprengen die Abstraktheit des Holocaust. Friedländer geleitet den Leser vom Schreibtisch Eichmanns direkt in den Viehwaggon nach Auschwitz.
Eine angemessene Form zu finden für die Beschreibung der Vorgänge und Umstände, die zum millionenfachen Massenmord an den europäischen Juden führten, ist äußerst schwierig. Selbst heute, mehr als sechzig Jahre nach den Ereignissen, die wir in ihrer Gesamtheit als "Holocaust" zu bezeichnen uns angewöhnt haben, ist es nicht allein für Historiker immer wieder eine Herausforderung, das Geschehene zu fassen, zu verstehen und zu bearbeiten.
Saul Friedländer, einer der bedeutendsten Historiker der Gegenwart, gibt uns mit seinen beiden Bänden zur Geschichte von Verfolgung und Vernichtung der Juden zwischen 1933 und 1945 die Möglichkeit, diesen zu verstehen und zugleich einer "domestizierten Erinnerung" an den Holocaust, einer, die Fassungslosigkeit wegerklärt, zu entgehen.
Saul Friedländer war ehemals selbst verfolgt. Seine Eltern verlor er in Auschwitz. Mit seiner Arbeit strebt der Forscher dezidiert über wissenschaftliche "Objektivität" hinaus. Auslöser für diesen Ansatz war eine Debatte in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre. Der deutsche Historiker Martin Broszat vertrat den Standpunkt, Geschichtsschreibung zur Nazizeit habe kühl analytisch zu sein und ihr Hauptaugenmerk auf die Akten der Täter zu richten.
Dem damaligen Leiter des Instituts für Zeitgeschichte in München erschien dieses Vorgehen nötig, um der "mythischen Erinnerung" der Opfer zu entgehen. Saul Friedländer widersprach dieser Sichtweise. Die Übernahme der Täterperspektive reproduziere nur deren Logik, argumentierte er. Das greife beim Versuch, den Holocaust zu verstehen, zu kurz. Friedländer begann, seine "integrierte" Geschichte des Holocaust zu verfassen.
1997 erschien der erste Teil: "Das Dritte Reich und die Juden. Die Jahre der Verfolgung." Friedländer untersucht darin die Verhältnisse in Deutschland zwischen Hitlers Machtübernahme und Kriegsbeginn. Der nun erschienene zweite Teil trägt den Untertitel "Die Jahre der Vernichtung 1939 - 1945." Auf über 800 Seiten, oft
eindrucksvoll bis zur Erschütterung, beschreibt Friedländer chronologisch, die Folgen der Verfolgung: die Vernichtung der europäischen Juden. Er unterteilt sie in drei Kapitel (Terror, Massenmord, Shoah) und zehn Zeitabschnitte. Detailliert untersucht er die Verhältnisse in allen Ländern und Regionen Europas. Stellt die Verantwortlichkeit aller am Holocaust beteiligten Organisationen und Personen fest.
Das Aktenmaterial der Täter, für sich genommen ohnehin bekannt, kombiniert Friedländer mit einer Vielzahl von Tagebuchaufzeichnungen, Briefen und persönlichen Chroniken der Opfer. Bewusst durchbricht er auf diese Weise die wissenschaftliche Distanz.
Die herausragende Qualität seiner Arbeit besteht darin, dass er die Zahl von sechs Millionen in Einzelschicksale aufzulösen vermag. Die Stimmen, die Friedländer versammelt, sprengen die Abstraktheit des Holocaust. Blitzlichtartig erhellen sie Zusammenhänge, die bei Betrachtung eines Kollektivschicksals, bei bloßer Wiedergabe von Zahlen, Verordnungen und Transportdaten im Dunkeln bleiben.
Die sorgfältige Auswahl von Dokumenten aller betroffenen Länder und Altersgruppen vermittelt einen ungemein dichten und vielschichtigen Eindruck von der Alltagswelt Europas während der Shoah.
Der Feldpostbrief deutscher Soldaten wird montiert mit dem Tagebuch jüdischer Kinder oder einem Hirtenbrief der katholischen Geistlichkeit. Durch die Betrachtung dieser Mikroebene macht Friedländer die Umstände, unter denen die Vernichtung der europäischen Juden geplant und vollzogen wurde, plastisch. Er geleitet den Leser vom Schreibtisch Eichmanns direkt in den Viehwaggon nach Auschwitz. Die Multiperspektivität der Betrachtungen, die Akribie beim Einsatz der Zitate, der sachliche, mitunter lakonische Ton des Verfassers bewirken eine Dichte der Gesamtdarstellung, wie man sie vor der Lektüre des Friedländerschen Werkes nicht für möglich gehalten hätte.
Im Gegensatz zur Position Götz Alys, der wirtschaftliche Motive als Erklärung für den Mord an den Juden stark macht, oder auch entgegen der Vorstellung Jonathan Goldhagens, der hierfür einen traditionellen deutschen Antisemitismus verantwortlich sieht, rückt Friedländer Hitlers obsessive Judenfeindschaft in den Vordergrund.
Die Judenvernichtung ist nach Friedländer keineswegs sekundäre Konsequenz anderer, vorrangiger Ziele der NS-Politik, sondern deren Kern. Anhand sorgfältiger Untersuchung der Führerreden weist er nach, dass die Vernichtung der europäischen Juden seit Ende 1941 von Hitler vorgesehen war. Seiner "halluzinatorischer Logik" zufolge musste der von ihm stilisierte, aktive "Weltfeind" ausgerottet werden.
Friedländer belegt weiterhin, dass dieses Ziel nicht nur in Deutschland, sondern ebenso in weiten Teilen Europas auf allen Ebenen große Akzeptanz erfuhr. Ohne die bereitwillige Kollaboration der von Deutschland besetzten oder der mit dem Deutschen Reich verbündeten Länder wäre die sogenannte "Endlösung der europäischen Judenfrage" in der bekannten Form nicht möglich gewesen. Tatsächlich hat Saul Friedländer das umfassendste Werk zur Vernichtung der europäischen Juden geschrieben. Warum es allerdings quer durch Länder und Bevölkerungsschichten so wenig Widerstand gegen diese Vernichtung gab, ist auch dem Historiker immer noch unbegreiflich.
Rezensiert von Carsten Hueck
Saul Friedländer: Die Jahre der Vernichtung. Das Dritte Reich und die Juden 1939-1945
Aus dem Englischen übersetzt von Martin Pfeiffer.
C.H. Beck Verlag, München 2006, 869 Seiten, 34,90 Euro
Saul Friedländer, einer der bedeutendsten Historiker der Gegenwart, gibt uns mit seinen beiden Bänden zur Geschichte von Verfolgung und Vernichtung der Juden zwischen 1933 und 1945 die Möglichkeit, diesen zu verstehen und zugleich einer "domestizierten Erinnerung" an den Holocaust, einer, die Fassungslosigkeit wegerklärt, zu entgehen.
Saul Friedländer war ehemals selbst verfolgt. Seine Eltern verlor er in Auschwitz. Mit seiner Arbeit strebt der Forscher dezidiert über wissenschaftliche "Objektivität" hinaus. Auslöser für diesen Ansatz war eine Debatte in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre. Der deutsche Historiker Martin Broszat vertrat den Standpunkt, Geschichtsschreibung zur Nazizeit habe kühl analytisch zu sein und ihr Hauptaugenmerk auf die Akten der Täter zu richten.
Dem damaligen Leiter des Instituts für Zeitgeschichte in München erschien dieses Vorgehen nötig, um der "mythischen Erinnerung" der Opfer zu entgehen. Saul Friedländer widersprach dieser Sichtweise. Die Übernahme der Täterperspektive reproduziere nur deren Logik, argumentierte er. Das greife beim Versuch, den Holocaust zu verstehen, zu kurz. Friedländer begann, seine "integrierte" Geschichte des Holocaust zu verfassen.
1997 erschien der erste Teil: "Das Dritte Reich und die Juden. Die Jahre der Verfolgung." Friedländer untersucht darin die Verhältnisse in Deutschland zwischen Hitlers Machtübernahme und Kriegsbeginn. Der nun erschienene zweite Teil trägt den Untertitel "Die Jahre der Vernichtung 1939 - 1945." Auf über 800 Seiten, oft
eindrucksvoll bis zur Erschütterung, beschreibt Friedländer chronologisch, die Folgen der Verfolgung: die Vernichtung der europäischen Juden. Er unterteilt sie in drei Kapitel (Terror, Massenmord, Shoah) und zehn Zeitabschnitte. Detailliert untersucht er die Verhältnisse in allen Ländern und Regionen Europas. Stellt die Verantwortlichkeit aller am Holocaust beteiligten Organisationen und Personen fest.
Das Aktenmaterial der Täter, für sich genommen ohnehin bekannt, kombiniert Friedländer mit einer Vielzahl von Tagebuchaufzeichnungen, Briefen und persönlichen Chroniken der Opfer. Bewusst durchbricht er auf diese Weise die wissenschaftliche Distanz.
Die herausragende Qualität seiner Arbeit besteht darin, dass er die Zahl von sechs Millionen in Einzelschicksale aufzulösen vermag. Die Stimmen, die Friedländer versammelt, sprengen die Abstraktheit des Holocaust. Blitzlichtartig erhellen sie Zusammenhänge, die bei Betrachtung eines Kollektivschicksals, bei bloßer Wiedergabe von Zahlen, Verordnungen und Transportdaten im Dunkeln bleiben.
Die sorgfältige Auswahl von Dokumenten aller betroffenen Länder und Altersgruppen vermittelt einen ungemein dichten und vielschichtigen Eindruck von der Alltagswelt Europas während der Shoah.
Der Feldpostbrief deutscher Soldaten wird montiert mit dem Tagebuch jüdischer Kinder oder einem Hirtenbrief der katholischen Geistlichkeit. Durch die Betrachtung dieser Mikroebene macht Friedländer die Umstände, unter denen die Vernichtung der europäischen Juden geplant und vollzogen wurde, plastisch. Er geleitet den Leser vom Schreibtisch Eichmanns direkt in den Viehwaggon nach Auschwitz. Die Multiperspektivität der Betrachtungen, die Akribie beim Einsatz der Zitate, der sachliche, mitunter lakonische Ton des Verfassers bewirken eine Dichte der Gesamtdarstellung, wie man sie vor der Lektüre des Friedländerschen Werkes nicht für möglich gehalten hätte.
Im Gegensatz zur Position Götz Alys, der wirtschaftliche Motive als Erklärung für den Mord an den Juden stark macht, oder auch entgegen der Vorstellung Jonathan Goldhagens, der hierfür einen traditionellen deutschen Antisemitismus verantwortlich sieht, rückt Friedländer Hitlers obsessive Judenfeindschaft in den Vordergrund.
Die Judenvernichtung ist nach Friedländer keineswegs sekundäre Konsequenz anderer, vorrangiger Ziele der NS-Politik, sondern deren Kern. Anhand sorgfältiger Untersuchung der Führerreden weist er nach, dass die Vernichtung der europäischen Juden seit Ende 1941 von Hitler vorgesehen war. Seiner "halluzinatorischer Logik" zufolge musste der von ihm stilisierte, aktive "Weltfeind" ausgerottet werden.
Friedländer belegt weiterhin, dass dieses Ziel nicht nur in Deutschland, sondern ebenso in weiten Teilen Europas auf allen Ebenen große Akzeptanz erfuhr. Ohne die bereitwillige Kollaboration der von Deutschland besetzten oder der mit dem Deutschen Reich verbündeten Länder wäre die sogenannte "Endlösung der europäischen Judenfrage" in der bekannten Form nicht möglich gewesen. Tatsächlich hat Saul Friedländer das umfassendste Werk zur Vernichtung der europäischen Juden geschrieben. Warum es allerdings quer durch Länder und Bevölkerungsschichten so wenig Widerstand gegen diese Vernichtung gab, ist auch dem Historiker immer noch unbegreiflich.
Rezensiert von Carsten Hueck
Saul Friedländer: Die Jahre der Vernichtung. Das Dritte Reich und die Juden 1939-1945
Aus dem Englischen übersetzt von Martin Pfeiffer.
C.H. Beck Verlag, München 2006, 869 Seiten, 34,90 Euro