Die Alleingängerin

13.10.2009
In ihrem 600-Seiten-Roman erzählt Ulla Hahn die Geschichte eines jungen Mädchens, das in den 50er-, 60er-Jahren mittels Bildung der dörflichen Enge und Armut ihres Zuhauses zu entkommen versucht.
Worte und Sätze können nicht nur fesseln, sondern auch Fesseln anlegen. Ulla Hahns Roman "Aufbruch" handelt von beiden Varianten. Der Satz des rheinländischen Großvaters "Lommer jonn!" – "Lasst uns gehen!" ist so ein fesselnder Satz, den die Enkelin Hildegard (Hilla) Palm mit sich herumträgt. Sie ist – wie schon im Roman "Das verborgene Wort" von 2001 – die Protagonistin des Geschehens. Doch während der inzwischen verstorbene Großvater stets wusste, wohin er geht, weiß Hildegard nur, dass sie gehen muss.

Gewappnet mit dem großväterlichen Imperativ versucht die 17-Jährige mittels Bildung der dörflichen Enge und der Armut im Hause Palm zu entkommen. Wenn da nicht die Fesseln wären, die es dem sprachbegabten Mädchen, das sich für Rilke, Goethe, vor allem aber für Schiller begeistert, schwer machen. Moralische Verhaltensregeln und religiöse Formeln beherrschen den Alltagstrott, in dem die Zukunft eines weiblichen Wesens auf ewig festgelegt scheint. Das hat in erster Linie auf ihr "Kapital", sprich ihre Jungfräulichkeit, zu achten.

Ulla Hahn schildert auf nahezu 600 Seiten eine Welt, in der die Heranwachsende zwar physisch versorgt wird, moralisch jedoch über- und seelisch wie geistig extrem unterversorgt ist. Hilla Palm, "dat Kenk vun nem Prolete", wird zur Alleingängerin. Sie flüchtet in die lateinische Grammatik und vor allem zu den Büchern, die sie in einem Holzverschlag im Stall liest. Gespräche führt sie nur mit dem Antiquar Buche, bei dem sie Stammkundin ist, und mit dem jüngeren Bruder Bertram, mit dem sie ihr Zimmer teilen muss. Als Hildegard nach dem Fest der katholischen Landjugend gewaltvoll missbraucht wird, ist die totale Abkapselung vollzogen.

Ein spannendes Buch hätte das werden können. Die 1960er-Jahre im geteilten Deutschland, Hildegards Bildungshunger und ihr beschwerlicher Weg vom Aufbaugymnasium zum Studium nach Köln, die Loslösung aus den familiären Bindungen sowie ihr Misstrauen in einen Gott, der so viele Untaten zulässt – das sind spannende Themen.

Doch Ulla Hahn legt sich selbst Fesseln an, indem sie eine kalte, referierende Erzählperspektive einnimmt. Diese dient jedoch nicht der kritischen Distanz. Die Emotionen und Gedanken der jungen Protagonistin wirken verkopft und lassen wenig Raum für überzeugende Entwicklungen. Wichtige Aspekte der Zeitgeschichte werden wie in einer Chronik narrativ bebildert. Man hat das Gefühl, als würde sich hinter dem Text noch ein anderer verbergen.

Besprochen von Carola Wiemers


Ulla Hahn: Aufbruch
Deutsche Verlagsanstalt 2009
587 Seiten, 24,95 Euro.