Die Akten
Vor knapp 140 Jahren beschließen die Berliner Stadtverordneten, das Gut Dalldorf außerhalb von Berlin zu kaufen. Eine Stunde mit der Pferdebahn vom Berliner Alexanderplatz entfernt, soll die erste Irrenpflegeanstalt der Stadt entstehen. Zunächst werden Suchtkranke, geistig Behinderte und Geisteskranke gemeinsam verwahrt. Später werden Krankheitsbilder genauer definiert.
Im Dritten Reich ist die Anstalt Ort von Zwangsterilisationen und fragwürdigen Therapieexperimenten. 1957 erhalten die Wittenauer Heilstätten den Namen Karl-Bonhoeffer-Nervenklinik zu Ehren des deutschen Psychiatrie-Professors Karl Bonhoeffer. Als in diesem Jahr das Archiv mit seinen Patientenakten geöffnet wird, geraten die Heilstätten wieder in den Fokus der medialen Öffentlichkeit.
Ein Park mit alten Kastanienbäumen. Sie tragen noch Laub und versperren die Sicht. Noch ein paar Meter weiter, dann sieht man es, das große Backsteinhaus. Rot verfärbtes Weinlaub rankt an seinem Mauerwerk nach oben. Zwei Türmchen rechts und links. Ein lieblicher Anblick. Vor knapp 130 Jahren wurde das Haus als Hauptgebäude der „Irrenanstalt zu Dalldorf“ errichtet.
Heute werden hier keine Nervenleiden mehr behandelt, sondern nur noch verwaltet. Die Stadt Berlin hat ein paar Gebäude auf dem alten Klinikgelände für ein Krankenhaus des Maßregelvollzugs angemietet. In anderen ehemaligen Bettenhäusern sitzen Vereine oder private Firmen. In dem großen, repräsentativen Haus am Eingang hat der Private Krankenhauskonzern Vivantes seine Verwaltung untergebracht. Die Damen und Herren haben sich für einen wirklich schönen Ort entschieden.
Peter Bräunig: „Mein Name ist Peter Bräunig, ich bin Chefarzt einer Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik im Berliner Norden im Humboldtkrankenhaus. Ich bin seit 25 Jahren Nervenarzt und ich kann mich noch genau erinnern, als ich selbst diese Klinik das erste Mal besucht hab, das war in den achtziger Jahren und ich war damals schon beeindruckt von diesen wunderschönen Pavillonbauten, von diesem sehr, sehr großen Park an der Grenze von Wedding zu Reinickendorf. Damals sind noch mehr als 1000 Patienten hier in der Karl-Bonhoeffer-Nervenklinik behandelt worden.“
Thomas Beddies ist 49 Jahre alt, wissenschaftlicher Assistent am Institut für Geschichte der Medizin der Charitè:
„Ende des 19. Jahrhunderts ist Berlin extrem stark gewachsen. Es gab einen Bevölkerungszuwachs, den es zuvor in dieser Rasanz nicht gegeben hatte. Die vorhandenen Einrichtungen für psychisch Kranke und geistig Behinderte in der Charitè und dem so genannten Irrenhaus in der Krausenstraße haben nicht mehr ausgereicht. Man brauchte ein neues Konzept.“
Irre und Schwachsinnige sollten außerhalb des Trubels in Dalldorf, das damals noch nicht zu Berlin, sondern zu Brandenburg gehörte, betreut werden.
Thomas Beddies: „Wobei Irre eine Diagnose gewesen ist, ein Irrer war jemand, den wir heute als psychisch krank bezeichnen würden, und ein Schwachsinniger war jemand, den wir heute als Menschen mit geistiger Behinderung bezeichnen würden.“
Bis Anfang des 20. Jahrhunderts wurden in den Patientenakten Diagnosen entweder gar nicht oder sehr allgemein formuliert, erklärt Thomas Beddies. Die häufigste Krankheitsform, die bis 1916 in den Akten zu finden ist, heißt einfache Seelenstörung. Andere Krankheitsnamen waren Paralyse, Epilepsie, senile Geistesstörung oder Idiotie. Ab 1900 tauchte dann auch die Diagnose Alkoholismus auf.
„Der Arbeiter Heinrich G. wird am 22. Februar 1909 zum 18. Mal in der Irrenanstalt Dalldorf aufgenommen. G. klagt über starke Angstgefühle, Schlaflosigkeit und Schwindelgefühle. Kurz vor der Aufnahme hat er erhebliche Mengen Alkohol getrunken. Diagnose: Chronischer Alkoholismus und Krampfanfälle. Heinrich G. ist 41 Jahre alt, seit 18 Jahren verheiratet, hat drei Kinder. Seit sechs Jahren lebt er getrennt von seiner Familie und ist wohnungslos.“
Peter Bräunig: „Hier gab es Felder, Wiesen und ein bisschen Wald und in dieser Umgebung, die dörflich war, wurde diese Nervenklinik errichtet.“
Auch wenn mittlerweile Wohnhäuser rund um das großzügige Anstaltsgelände gebaut wurden, ist er noch da, der ländliche Charme. Auf einer großen Wiese hinterm Haus weiden drei Reitpferde.
Peter Bräunig: „Interessant ist, dass die Ansiedlung der Nervenklinik auch damals schon auf einen gewissen Widerstand der Bevölkerung stieß. Die Landbevölkerung hatte eine Abwehrhaltung, so ist es überliefert, eine gewisse Protesthaltung.“
Die Irrenanstalt nahm trotzdem ihren Betrieb auf. Eine Stunde dauerte die Fahrt mit der Pferdebahn vom Alexanderplatz nach Dalldorf. 1000 Betten, Besuchszeit immer sonntags am Nachmittag.
Thomas Beddies: „Es wurde relativ großzügig angelegt in einer so genannten Pavillon-Bauweise, was unter anderem auch darauf zurückzuführen war, dass man den kranken Patienten viel Licht und Luft und Bewegung verschaffen wollte.“
Bei den Pavillons handelt es sich aber nicht um kleine Gartenhäuser, sondern um dreistöckige Bauten aus gelbem Backstein in Hufeisenform. Sie wurden in zwei Reihen angeordnet, links hinter dem Hauptgebäude wurden Männer, rechts Frauen untergebracht. Vor allem aber die Symptome der Patienten und ihr Alter entschieden über den Aufenthaltsort. Die Patientenzahl wuchs und wuchs. Zeitweilig waren bis zu 4000 Patienten auf dem Anstaltsgelände untergebracht.
Thomas Beddies: „Es gibt zeitgenössische Aussagen, dass über dieser Anstalt eine regelrechte Lärmglocke gelegen hat. Patienten, die ständig schrien, die nicht beruhigt werden konnten. Dagegen war erst einmal nicht viel zu machen. Man hat versucht, die Patienten zu beschäftigen, es gab gewisse therapeutische Ansätze, es gab Dauerbäder, die zur Beruhigung der Patienten betragen sollten, es gab den mechanischen Zwang, die Zwangsjacke, das Wegschließen.“
„18. Februar 1920. Albert P. wird auf Veranlassung der Staatsanwaltschaft beim Landgericht Berlin in Dalldorf zur Beobachtung aufgenommen. Einen Monat zuvor hatte sich Albert P. einem bewaffneten Haufen angeschlossen und gegen Personen und Sachen Gewalttätigkeiten begangen sowie gegen Mannschaften der bewaffneten Macht Widerstand geleistet.“
Spartakusaufstand in Berlin. Albert P. wird in Dalldorf begutachtet. Ihm wird eine gewisse Harmlosigkeit bescheinigt.
„Es bestehen begründete Zweifel an der Zurechnungsfähigkeit von Albert P. zur Zeit der Tat.“
Thomas Beddies: „Tatsächlich kann man an diesem Fall gut ablesen, wie die Psychiatrie und wie die Psychiater zu den revolutionären Ereignissen standen, indem zunächst einmal darüber nachgedacht wurde, dass jemand, der so etwas macht, krank sein muss, ob ein Revolutionär nicht ein pathologischer Fall ist.“
Es hat angefangen zu regnen. Ein Schauer. Nervenarzt Peter Bräunig spannt einen großen Regenschirm auf und spaziert weiter über das Klinikgelände. In Fachkreisen spricht man hier von der KBoN, ansonsten salopp von „Bonnies Ranch“, erklärt er. Die Tür zu Haus zehn, dem Backsteingebäude, in dem sich früher die „Akute Frauenaufnahme“ befand, ist heute nicht verschlossen.
Im ersten Stock betritt man einen rund 30 Meter langen Flur. Der Linoleumboden glänzt, durch die großen Fenster fällt wieder herbstliches Licht.
Peter Bräunig: „Das war ein ganz typischer Stationsflur, links gingen die Krankenzimmer ab. In den ersten Jahrzehnten nach der Gründung der Klinik waren die Säle so groß, dass in einem 30 bis 40 Patienten – hier Patientinnen – behandelt wurden.“
Heute wird im einstigen Krankensaal Ton geformt, zwei Tage die Woche. Beate Schulz ist Kunsttherapeutin.
„Das ist ein offenes Atelier. Die Idee ist, dass Menschen mit psychischen Erkrankungen hier herkommen können, um künstlerisch zu arbeiten. Die meisten kommen aus dem Humboldt Krankenhaus über die psychiatrische Institutsambulanz, teilweise aber auch von niedergelassenen Ärzten.“
„Die 19-Jährige Gerda D. wird am 3. Oktober 1934 ins Moabiter Krankenhaus eingeliefert. Im Krankenhaus kommt zu ihrem psychischen Ausnahmezustand eine grippeartige Krankheit hinzu. Am 1. November 1934 wird sie in die Wittenauer Heilstätten verlegt. Diagnose: Schizophrenie. Chefarzt Dr. Gustav Adolf Waetzoldt stellt den Antrag auf Unfruchtbarmachung.“
Und beruft sich dabei auf das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses, das zu Beginn des Jahres in Kraft getreten war. Die Idee, Träger einer Erbkrankheit daran zu hindern, sie weiter zutragen, die Krankheit in dieser unmenschlichen Konsequenz zu bekämpfen, wurde auch schon in den Zwanziger Jahren diskutiert – aber eben nur diskutiert. Jetzt hatten sie die Nationalsozialisten in Gesetzesform gegossen.
Thomas Beddies: „Es sind mehrere Tausend Sterilisationsbeschlüsse, die aus Dalldorf beziehungsweise aus den Wittenauer Heilstätten, wie sie später hießen, überliefert. Diese Beschlüsse der Erbgesundheitsgerichte wurden in Kopien zu den Akten genommen.“
„Abschrift 262 XIII.11110.35 Beschluss: Die II. Kammer des Erbgesundheitsgerichts Berlin hat unter Mitwirkung von Amtsgerichtsarzt und des Medizinalrat beschlossen: die unverheiratete Gerda D., wohnhaft in Berlin Neukölln, Weichselstraße 14 ist unfruchtbar zu machen.“
Zwangssterilisationen werden zur Voraussetzung für die Entlassung von Patienten aus den Wittenauer Heilstätten gemacht – auch bei Gerda D. Als die junge Frau fünf Jahre später heiraten will, wird ihr das von den Behörden verwehrt. Ein Bittschreiben ihres Verlobten an Reichskanzler Adolf Hitler ändert nichts am Schicksal des jungen Paares.
„Berlin, Mai 1940: Durch die Eheschließung mit der Unfruchtbaren ist der Verlust wertvollen Erbgutes für die Volksgesundheit zu befürchten.“
Thomas Beddies: „Ich habe im Zuge eines Entschädigungsprojektes für Zwangssterilisierte Anfang der 90er Jahre zahlreiche zwangssterilisierte Menschen kennen gelernt und habe sie – ohne Ausnahme – schätzen gelernt als sehr lebenskluge, gar nicht aggressive und gar nicht verbitterte Menschen, die gar nicht auf Entschädigungen aus waren, sondern auf Anerkennung, dass diese Zwangssterilisationen nicht nur unrechtmäßig, sondern vor allem unsinnig waren.“
Auch jüdische Patienten in Dalldorf werden im Dritten Reich Opfer von Zwangssterilisationen. Etwa 29 von 190 Juden werden zwangssterilisiert. Nach und nach gibt es immer weniger Patienten jüdischer Abstammung in den Wittenauer Heilstätten. Sie werden ins jüdische Krankenhaus nach Berlin, in die iranische Straße gebracht oder in eine Anstalt bei Koblenz verlegt. Arischen Pflegern sollte der Umgang mit jüdischen Patienten nicht zugemutet werden.
Thomas Beddies: „Es gab den üblen, alltäglichen Antisemitismus auch in der Anstalt. Das macht sich insbesondere auch an der Wortwahl fest, die in den Akten zu finden ist. Der Direktor Dr. Waetzold muss als schlimmer Antisemit gelten, der immer wieder Begriffe gebrauchte, wie typisch jüdisch weinerlich, typisch jüdisch nervös, typisch jüdisch aufgeregt.“
Eine Konfession wird zur Diagnosebestimmung.
Peter Bräunig: „Wir laufen jetzt an einem Gebäude vorbei, das auch vom Krankenhaus des Maßregelvollzugs genutzt wird, in dem früher Menschen mit geistigen Behinderungen behandelt worden sind, diese Abteilung hieß sehr lange die Heilerziehungspflege. Das war die Bezeichnung für eine sehr, sehr große Abteilung.“
Heute befindet sich darin das Krankenhaus des Maßregelvollzugs. Das Gebäude hat der Vivantes-Konzern dem Land Berlin vermietet. Etwa 400 Patienten werden in dem Backsteinbau behandelt. Der Garten ist von hohen Zäunen mit Stacheldraht umgeben. Auf der anderen Seite des von feuchtem Laub bedeckten Weges steht ein kleiner Flachbau. Das war der Kindergarten für die Mitarbeiter der Nervenklinik, erzählt Peter Bräunig. Ursprünglich soll sich darin eine Röntgenabteilung befunden haben.
1945. Die Sowjetarmee ist in Berlin
Thomas Beddies: „Man weiß aufgrund der turbulenten Ereignisse zu dieser Zeit wenig darüber, was sich auf dem Anstaltsgelände abgespielt hat. Aber tatsächlich ist es so, die russischen Truppen besetzen, befreien auch Reinickendorf, also den Bezirk, in dem die Anstalt liegt. Ganz offenbar ist es so, dass die russischen Soldaten aufgrund der Anstaltskleidung, die die Patienten trugen, meinten, ein Lager vor sich zu haben. Jedenfalls öffnen sie die Anstaltstore.“
Ein Großsteil der Patienten verlässt die Anstalt. Doch im Frühjahr 1945 ist das Chaos in Berlin so groß, die Versorgungslage so dürftig, dass sie wieder zurückkommen in die Wittenauer Heilstätten.
„Maximilian P. wird am 13. August 1945 aus dem Reinickendorfer Flüchtlingslager in die Wittenauer Heilstätten gebracht. Er berichtet von zwei Ausbombungen und dreimaliger Ausplünderung durch die Russen. Der große, mittelgroße, senile Mann befindet sich in einem stark reduzierten Ernährungszustand.“
Einen Monat später stirbt der Patient. Auch in der Anstalt fehlt es nach Kriegsende an Nahrungsmitteln. Die Patienten hungern und frieren. Im ersten Winter nach dem Krieg stirbt jeder zweite Patient.
Thomas Beddies: „Man muss sagen, dass nach 1945 die Wittenauer Heilstätten tatsächlich in einem großen Maße als Hospital, als Siecheneinrichtung als Unterbringungsmöglichkeit für Menschen genutzt wurde, die nicht nur psychisch auffällig wurden, sondern auch darüber hinaus wohnungslos waren, keine Angehörigen hatten.“
Ein fester Wohnort, ein Bett. Das ist es, was die Anstalt jetzt bietet.
Thomas Beddies: „Es lassen sich durchaus auch Menschen finden, die vor 1945 als Täter in Erscheinung getreten sind, die hohe SS-Ränge hatten und in diesem System tätig waren, in Konzentrationslagern tätig waren und die nach 1945 in Wittenau als Patienten aufgenommen werden und ihre Geschichten erzählen.“
Welche Begegnungen sich in der Nervenklinik abgespielt haben, ist in den Akten nicht zu finden. Nach 1945 beginnt aber auch die Ära der Antibiotika. Die aus der Syphilis-Erkrankung resultierende progressive Paralyse kann jetzt behandelt werden und verschwindet aus dem Diagnosespektrum. In den 50er Jahren werden die ersten Behandlungen mit Psychopharmaka in den Akten vermerkt.
In den 50er Jahren werden die Heilstätten in Karl-Bonhoeffer Heilstätten und dann in Karl Bonhoeffer Nervenklinik umbenannt.
Peter Bräunig: „Karl Bonhoeffer war viele Jahre bis 1938 Lehrstuhlinhaber für Psychiatrie an der Charite. Er war aus Breslau nach Berlin gekommen und einer der namhaftesten Psychiater Deutschlands in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Die Würdigung Karl Bonhoeffers dadurch, dass man dieser Klinik seinen Namen gab, die ist dann doch auch auf Kritik gestoßen, weil im Zusammenhang mit der Aufarbeitung der Geschichte der Psychiatrie während des Nationalsozialismus deutlich wurde, dass Bonhoeffer im Gegensatz zu seinen Kindern eine sehr ‚kompromisslerische‘ Haltung zum damaligen Regime hatte. Er war als Gutachter in Sterilisationsverfahren tätig.“
Peter Bräunig zeigt auf zwei kastenförmige Gebäude aus den 70er Jahren. Die hellen Klinkersteine passen zum Mauerwerk aus dem 19. Jahrhundert. Doch die Fenster sind größer und schmuckloser.
Peter Bräunig: „Ich bin in diesen Räumen schon drin gewesen. Sie sind hell, sehr formal gegliedert. Die Suchtkrankenbehandlung hat hier über viele Jahrzehnte für Berlin stattgefunden und sie war anfangs so organisiert, dass sich die akute Suchtmedizin, die ja sehr oft lebensrettend war und es immer noch ist, am selben Ort befand wie rehabilitative Suchtmedizin. Alles war an einem Ort und wurde im Grunde genommen auch von einem Ärzteteam realisiert.“
Prominenteste Patientin in diesem Teil der Nervenklinik war Vera Christiane Felschinow: Christiane F., wohnhaft in Berlin Gropiusstadt.
Ein Park mit alten Kastanienbäumen. Sie tragen noch Laub und versperren die Sicht. Noch ein paar Meter weiter, dann sieht man es, das große Backsteinhaus. Rot verfärbtes Weinlaub rankt an seinem Mauerwerk nach oben. Zwei Türmchen rechts und links. Ein lieblicher Anblick. Vor knapp 130 Jahren wurde das Haus als Hauptgebäude der „Irrenanstalt zu Dalldorf“ errichtet.
Heute werden hier keine Nervenleiden mehr behandelt, sondern nur noch verwaltet. Die Stadt Berlin hat ein paar Gebäude auf dem alten Klinikgelände für ein Krankenhaus des Maßregelvollzugs angemietet. In anderen ehemaligen Bettenhäusern sitzen Vereine oder private Firmen. In dem großen, repräsentativen Haus am Eingang hat der Private Krankenhauskonzern Vivantes seine Verwaltung untergebracht. Die Damen und Herren haben sich für einen wirklich schönen Ort entschieden.
Peter Bräunig: „Mein Name ist Peter Bräunig, ich bin Chefarzt einer Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik im Berliner Norden im Humboldtkrankenhaus. Ich bin seit 25 Jahren Nervenarzt und ich kann mich noch genau erinnern, als ich selbst diese Klinik das erste Mal besucht hab, das war in den achtziger Jahren und ich war damals schon beeindruckt von diesen wunderschönen Pavillonbauten, von diesem sehr, sehr großen Park an der Grenze von Wedding zu Reinickendorf. Damals sind noch mehr als 1000 Patienten hier in der Karl-Bonhoeffer-Nervenklinik behandelt worden.“
Thomas Beddies ist 49 Jahre alt, wissenschaftlicher Assistent am Institut für Geschichte der Medizin der Charitè:
„Ende des 19. Jahrhunderts ist Berlin extrem stark gewachsen. Es gab einen Bevölkerungszuwachs, den es zuvor in dieser Rasanz nicht gegeben hatte. Die vorhandenen Einrichtungen für psychisch Kranke und geistig Behinderte in der Charitè und dem so genannten Irrenhaus in der Krausenstraße haben nicht mehr ausgereicht. Man brauchte ein neues Konzept.“
Irre und Schwachsinnige sollten außerhalb des Trubels in Dalldorf, das damals noch nicht zu Berlin, sondern zu Brandenburg gehörte, betreut werden.
Thomas Beddies: „Wobei Irre eine Diagnose gewesen ist, ein Irrer war jemand, den wir heute als psychisch krank bezeichnen würden, und ein Schwachsinniger war jemand, den wir heute als Menschen mit geistiger Behinderung bezeichnen würden.“
Bis Anfang des 20. Jahrhunderts wurden in den Patientenakten Diagnosen entweder gar nicht oder sehr allgemein formuliert, erklärt Thomas Beddies. Die häufigste Krankheitsform, die bis 1916 in den Akten zu finden ist, heißt einfache Seelenstörung. Andere Krankheitsnamen waren Paralyse, Epilepsie, senile Geistesstörung oder Idiotie. Ab 1900 tauchte dann auch die Diagnose Alkoholismus auf.
„Der Arbeiter Heinrich G. wird am 22. Februar 1909 zum 18. Mal in der Irrenanstalt Dalldorf aufgenommen. G. klagt über starke Angstgefühle, Schlaflosigkeit und Schwindelgefühle. Kurz vor der Aufnahme hat er erhebliche Mengen Alkohol getrunken. Diagnose: Chronischer Alkoholismus und Krampfanfälle. Heinrich G. ist 41 Jahre alt, seit 18 Jahren verheiratet, hat drei Kinder. Seit sechs Jahren lebt er getrennt von seiner Familie und ist wohnungslos.“
Peter Bräunig: „Hier gab es Felder, Wiesen und ein bisschen Wald und in dieser Umgebung, die dörflich war, wurde diese Nervenklinik errichtet.“
Auch wenn mittlerweile Wohnhäuser rund um das großzügige Anstaltsgelände gebaut wurden, ist er noch da, der ländliche Charme. Auf einer großen Wiese hinterm Haus weiden drei Reitpferde.
Peter Bräunig: „Interessant ist, dass die Ansiedlung der Nervenklinik auch damals schon auf einen gewissen Widerstand der Bevölkerung stieß. Die Landbevölkerung hatte eine Abwehrhaltung, so ist es überliefert, eine gewisse Protesthaltung.“
Die Irrenanstalt nahm trotzdem ihren Betrieb auf. Eine Stunde dauerte die Fahrt mit der Pferdebahn vom Alexanderplatz nach Dalldorf. 1000 Betten, Besuchszeit immer sonntags am Nachmittag.
Thomas Beddies: „Es wurde relativ großzügig angelegt in einer so genannten Pavillon-Bauweise, was unter anderem auch darauf zurückzuführen war, dass man den kranken Patienten viel Licht und Luft und Bewegung verschaffen wollte.“
Bei den Pavillons handelt es sich aber nicht um kleine Gartenhäuser, sondern um dreistöckige Bauten aus gelbem Backstein in Hufeisenform. Sie wurden in zwei Reihen angeordnet, links hinter dem Hauptgebäude wurden Männer, rechts Frauen untergebracht. Vor allem aber die Symptome der Patienten und ihr Alter entschieden über den Aufenthaltsort. Die Patientenzahl wuchs und wuchs. Zeitweilig waren bis zu 4000 Patienten auf dem Anstaltsgelände untergebracht.
Thomas Beddies: „Es gibt zeitgenössische Aussagen, dass über dieser Anstalt eine regelrechte Lärmglocke gelegen hat. Patienten, die ständig schrien, die nicht beruhigt werden konnten. Dagegen war erst einmal nicht viel zu machen. Man hat versucht, die Patienten zu beschäftigen, es gab gewisse therapeutische Ansätze, es gab Dauerbäder, die zur Beruhigung der Patienten betragen sollten, es gab den mechanischen Zwang, die Zwangsjacke, das Wegschließen.“
„18. Februar 1920. Albert P. wird auf Veranlassung der Staatsanwaltschaft beim Landgericht Berlin in Dalldorf zur Beobachtung aufgenommen. Einen Monat zuvor hatte sich Albert P. einem bewaffneten Haufen angeschlossen und gegen Personen und Sachen Gewalttätigkeiten begangen sowie gegen Mannschaften der bewaffneten Macht Widerstand geleistet.“
Spartakusaufstand in Berlin. Albert P. wird in Dalldorf begutachtet. Ihm wird eine gewisse Harmlosigkeit bescheinigt.
„Es bestehen begründete Zweifel an der Zurechnungsfähigkeit von Albert P. zur Zeit der Tat.“
Thomas Beddies: „Tatsächlich kann man an diesem Fall gut ablesen, wie die Psychiatrie und wie die Psychiater zu den revolutionären Ereignissen standen, indem zunächst einmal darüber nachgedacht wurde, dass jemand, der so etwas macht, krank sein muss, ob ein Revolutionär nicht ein pathologischer Fall ist.“
Es hat angefangen zu regnen. Ein Schauer. Nervenarzt Peter Bräunig spannt einen großen Regenschirm auf und spaziert weiter über das Klinikgelände. In Fachkreisen spricht man hier von der KBoN, ansonsten salopp von „Bonnies Ranch“, erklärt er. Die Tür zu Haus zehn, dem Backsteingebäude, in dem sich früher die „Akute Frauenaufnahme“ befand, ist heute nicht verschlossen.
Im ersten Stock betritt man einen rund 30 Meter langen Flur. Der Linoleumboden glänzt, durch die großen Fenster fällt wieder herbstliches Licht.
Peter Bräunig: „Das war ein ganz typischer Stationsflur, links gingen die Krankenzimmer ab. In den ersten Jahrzehnten nach der Gründung der Klinik waren die Säle so groß, dass in einem 30 bis 40 Patienten – hier Patientinnen – behandelt wurden.“
Heute wird im einstigen Krankensaal Ton geformt, zwei Tage die Woche. Beate Schulz ist Kunsttherapeutin.
„Das ist ein offenes Atelier. Die Idee ist, dass Menschen mit psychischen Erkrankungen hier herkommen können, um künstlerisch zu arbeiten. Die meisten kommen aus dem Humboldt Krankenhaus über die psychiatrische Institutsambulanz, teilweise aber auch von niedergelassenen Ärzten.“
„Die 19-Jährige Gerda D. wird am 3. Oktober 1934 ins Moabiter Krankenhaus eingeliefert. Im Krankenhaus kommt zu ihrem psychischen Ausnahmezustand eine grippeartige Krankheit hinzu. Am 1. November 1934 wird sie in die Wittenauer Heilstätten verlegt. Diagnose: Schizophrenie. Chefarzt Dr. Gustav Adolf Waetzoldt stellt den Antrag auf Unfruchtbarmachung.“
Und beruft sich dabei auf das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses, das zu Beginn des Jahres in Kraft getreten war. Die Idee, Träger einer Erbkrankheit daran zu hindern, sie weiter zutragen, die Krankheit in dieser unmenschlichen Konsequenz zu bekämpfen, wurde auch schon in den Zwanziger Jahren diskutiert – aber eben nur diskutiert. Jetzt hatten sie die Nationalsozialisten in Gesetzesform gegossen.
Thomas Beddies: „Es sind mehrere Tausend Sterilisationsbeschlüsse, die aus Dalldorf beziehungsweise aus den Wittenauer Heilstätten, wie sie später hießen, überliefert. Diese Beschlüsse der Erbgesundheitsgerichte wurden in Kopien zu den Akten genommen.“
„Abschrift 262 XIII.11110.35 Beschluss: Die II. Kammer des Erbgesundheitsgerichts Berlin hat unter Mitwirkung von Amtsgerichtsarzt und des Medizinalrat beschlossen: die unverheiratete Gerda D., wohnhaft in Berlin Neukölln, Weichselstraße 14 ist unfruchtbar zu machen.“
Zwangssterilisationen werden zur Voraussetzung für die Entlassung von Patienten aus den Wittenauer Heilstätten gemacht – auch bei Gerda D. Als die junge Frau fünf Jahre später heiraten will, wird ihr das von den Behörden verwehrt. Ein Bittschreiben ihres Verlobten an Reichskanzler Adolf Hitler ändert nichts am Schicksal des jungen Paares.
„Berlin, Mai 1940: Durch die Eheschließung mit der Unfruchtbaren ist der Verlust wertvollen Erbgutes für die Volksgesundheit zu befürchten.“
Thomas Beddies: „Ich habe im Zuge eines Entschädigungsprojektes für Zwangssterilisierte Anfang der 90er Jahre zahlreiche zwangssterilisierte Menschen kennen gelernt und habe sie – ohne Ausnahme – schätzen gelernt als sehr lebenskluge, gar nicht aggressive und gar nicht verbitterte Menschen, die gar nicht auf Entschädigungen aus waren, sondern auf Anerkennung, dass diese Zwangssterilisationen nicht nur unrechtmäßig, sondern vor allem unsinnig waren.“
Auch jüdische Patienten in Dalldorf werden im Dritten Reich Opfer von Zwangssterilisationen. Etwa 29 von 190 Juden werden zwangssterilisiert. Nach und nach gibt es immer weniger Patienten jüdischer Abstammung in den Wittenauer Heilstätten. Sie werden ins jüdische Krankenhaus nach Berlin, in die iranische Straße gebracht oder in eine Anstalt bei Koblenz verlegt. Arischen Pflegern sollte der Umgang mit jüdischen Patienten nicht zugemutet werden.
Thomas Beddies: „Es gab den üblen, alltäglichen Antisemitismus auch in der Anstalt. Das macht sich insbesondere auch an der Wortwahl fest, die in den Akten zu finden ist. Der Direktor Dr. Waetzold muss als schlimmer Antisemit gelten, der immer wieder Begriffe gebrauchte, wie typisch jüdisch weinerlich, typisch jüdisch nervös, typisch jüdisch aufgeregt.“
Eine Konfession wird zur Diagnosebestimmung.
Peter Bräunig: „Wir laufen jetzt an einem Gebäude vorbei, das auch vom Krankenhaus des Maßregelvollzugs genutzt wird, in dem früher Menschen mit geistigen Behinderungen behandelt worden sind, diese Abteilung hieß sehr lange die Heilerziehungspflege. Das war die Bezeichnung für eine sehr, sehr große Abteilung.“
Heute befindet sich darin das Krankenhaus des Maßregelvollzugs. Das Gebäude hat der Vivantes-Konzern dem Land Berlin vermietet. Etwa 400 Patienten werden in dem Backsteinbau behandelt. Der Garten ist von hohen Zäunen mit Stacheldraht umgeben. Auf der anderen Seite des von feuchtem Laub bedeckten Weges steht ein kleiner Flachbau. Das war der Kindergarten für die Mitarbeiter der Nervenklinik, erzählt Peter Bräunig. Ursprünglich soll sich darin eine Röntgenabteilung befunden haben.
1945. Die Sowjetarmee ist in Berlin
Thomas Beddies: „Man weiß aufgrund der turbulenten Ereignisse zu dieser Zeit wenig darüber, was sich auf dem Anstaltsgelände abgespielt hat. Aber tatsächlich ist es so, die russischen Truppen besetzen, befreien auch Reinickendorf, also den Bezirk, in dem die Anstalt liegt. Ganz offenbar ist es so, dass die russischen Soldaten aufgrund der Anstaltskleidung, die die Patienten trugen, meinten, ein Lager vor sich zu haben. Jedenfalls öffnen sie die Anstaltstore.“
Ein Großsteil der Patienten verlässt die Anstalt. Doch im Frühjahr 1945 ist das Chaos in Berlin so groß, die Versorgungslage so dürftig, dass sie wieder zurückkommen in die Wittenauer Heilstätten.
„Maximilian P. wird am 13. August 1945 aus dem Reinickendorfer Flüchtlingslager in die Wittenauer Heilstätten gebracht. Er berichtet von zwei Ausbombungen und dreimaliger Ausplünderung durch die Russen. Der große, mittelgroße, senile Mann befindet sich in einem stark reduzierten Ernährungszustand.“
Einen Monat später stirbt der Patient. Auch in der Anstalt fehlt es nach Kriegsende an Nahrungsmitteln. Die Patienten hungern und frieren. Im ersten Winter nach dem Krieg stirbt jeder zweite Patient.
Thomas Beddies: „Man muss sagen, dass nach 1945 die Wittenauer Heilstätten tatsächlich in einem großen Maße als Hospital, als Siecheneinrichtung als Unterbringungsmöglichkeit für Menschen genutzt wurde, die nicht nur psychisch auffällig wurden, sondern auch darüber hinaus wohnungslos waren, keine Angehörigen hatten.“
Ein fester Wohnort, ein Bett. Das ist es, was die Anstalt jetzt bietet.
Thomas Beddies: „Es lassen sich durchaus auch Menschen finden, die vor 1945 als Täter in Erscheinung getreten sind, die hohe SS-Ränge hatten und in diesem System tätig waren, in Konzentrationslagern tätig waren und die nach 1945 in Wittenau als Patienten aufgenommen werden und ihre Geschichten erzählen.“
Welche Begegnungen sich in der Nervenklinik abgespielt haben, ist in den Akten nicht zu finden. Nach 1945 beginnt aber auch die Ära der Antibiotika. Die aus der Syphilis-Erkrankung resultierende progressive Paralyse kann jetzt behandelt werden und verschwindet aus dem Diagnosespektrum. In den 50er Jahren werden die ersten Behandlungen mit Psychopharmaka in den Akten vermerkt.
In den 50er Jahren werden die Heilstätten in Karl-Bonhoeffer Heilstätten und dann in Karl Bonhoeffer Nervenklinik umbenannt.
Peter Bräunig: „Karl Bonhoeffer war viele Jahre bis 1938 Lehrstuhlinhaber für Psychiatrie an der Charite. Er war aus Breslau nach Berlin gekommen und einer der namhaftesten Psychiater Deutschlands in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Die Würdigung Karl Bonhoeffers dadurch, dass man dieser Klinik seinen Namen gab, die ist dann doch auch auf Kritik gestoßen, weil im Zusammenhang mit der Aufarbeitung der Geschichte der Psychiatrie während des Nationalsozialismus deutlich wurde, dass Bonhoeffer im Gegensatz zu seinen Kindern eine sehr ‚kompromisslerische‘ Haltung zum damaligen Regime hatte. Er war als Gutachter in Sterilisationsverfahren tätig.“
Peter Bräunig zeigt auf zwei kastenförmige Gebäude aus den 70er Jahren. Die hellen Klinkersteine passen zum Mauerwerk aus dem 19. Jahrhundert. Doch die Fenster sind größer und schmuckloser.
Peter Bräunig: „Ich bin in diesen Räumen schon drin gewesen. Sie sind hell, sehr formal gegliedert. Die Suchtkrankenbehandlung hat hier über viele Jahrzehnte für Berlin stattgefunden und sie war anfangs so organisiert, dass sich die akute Suchtmedizin, die ja sehr oft lebensrettend war und es immer noch ist, am selben Ort befand wie rehabilitative Suchtmedizin. Alles war an einem Ort und wurde im Grunde genommen auch von einem Ärzteteam realisiert.“
Prominenteste Patientin in diesem Teil der Nervenklinik war Vera Christiane Felschinow: Christiane F., wohnhaft in Berlin Gropiusstadt.