"Die Ägypter sind jetzt umso mehr auf der Straße"

Aktham Suliman im Gespräch mit Ulrike Timm · 01.02.2011
Während Millionen auf den Straßen demonstrieren, hat die Staatsmacht Al-Dschasira, den wichtigsten arabischen Fernsehsender in Ägypten, lahmgelegt. Dass dadurch weniger Ägypter protestieren würden, sei eine falsche Kalkulation, sagt Aktham Suliman, Deutschlandkorrespondent des Senders.
Ulrike Timm: Es ging alles blitzschnell: Gestern noch kreisten ägyptische Kampfflugzeuge im Tiefflug über Kairo, dann stellte sich die Armee auf die Seite des Volkes und kündigte an, nicht auf Landsleute zu schießen, und für heute sind die Ägypter aufgerufen zum "Marsch der Millionen" gegen Präsident Hosni Mubarak und das alte Regime. Und zumindest viele Hunderttausende sind sicher gekommen, trotz gesperrter Zufahrtsstraßen und stillgelegten Nahverkehrs. Al-Dschasira aber kann davon nichts zeigen, denn die amtierende Staatsmacht hat für Al-Dschasira, den wichtigsten arabischen Sender, Blackout angeordnet. Al-Dschasira ist abgeschaltet. Aber ist Al-Dschasira deshalb nicht dabei? Das frage ich jetzt Aktham Suliman, den Deutschlandkorrespondenten des Senders – schönen guten Tag, Herr Suliman! Er ist uns zugeschaltet.

Aktham Suliman: Schönen guten Tag!

Timm: Herr Suliman, was macht Ihr Sender jetzt, der "Marsch der Millionen" findet jetzt ohne Al-Dschasira statt?

Suliman: Na gut, Al-Dschasira muss ja wie alle anderen Medien nicht mitmarschieren, Al-Dschasira muss die Bilder zeigen. Und wir haben leider Gottes natürlich kein eigenes Bild, also mit eigener Kamera gedreht vor Ort, aber wir haben die Bilder, die die ganze Welt erreichen. Das sind Agenturbilder auf der einen Seite, aber auch Bilder, die uns erreichen von Bloggern, von Aktivisten, von anderen Teilnehmern an diesen Demonstrationen. Wir sind auf gar keinen Fall schwarz gefärbt auf dem Bildschirm heute, im Gegenteil: Wir zeigen den Platz von oben total durch Agenturbilder, und wir zeigen Nahaufnahmen, die uns anderweitig erreichen.

Timm: Trotzdem noch mal fürs Grundverständnis: Wenn man als Ägypter heute auf seinen Fernseher, auf die Taste für Al-Dschasira drückt, dann sieht man nur ein schwarzes Bild, wenn man dann ein bisschen sucht, findet man Sie doch – habe ich das richtig verstanden?

Suliman: Gut, ja, das ist eine andere Geschichte, das ist der Empfang von Al-Dschasira in Ägypten, das wurde natürlich jetzt zumindest über den Satelliten Nilesat unterbunden. Das heißt, wenn man über diesen Satelliten versucht, Al-Dschasira zu sehen, dann sieht man auf jeden Fall entweder einen schwarzen Bildschirm oder möglicherweise einen Farbbalken, aber bestimmt nicht unser Programm. Es gibt aber Tricks, das zu umgehen: entweder über andere Satelliten oder über andere Frequenzen, die wir immer wieder bekannt geben. Obwohl, ich muss ehrlich sagen, der Ägypter heute, der unbedingt Al-Dschasira einschalten oder sonst ein anderes Medium einschalten würde, würde mich sehr interessieren, weil die meisten sind natürlich dabei, entweder selber zu demonstrieren oder aus dem Fenster zu gucken. Die Ereignisse sind auf der Straße nebenan und nicht mehr weit weg entfernt.

Timm: Sie sind auch in gewisser Hinsicht umgestiegen heute auf Bürgerjournalismus, oder? Die ganzen Handyberichte, die Sie erreichen, ergänzen Sie dann mit dem Archivmaterial, was Sie von woanders bekommen.

Suliman: Wir sind umgestiegen worden eigentlich. Auf der einen Seite hat uns die ägyptische Regierung ein Verbot erteilt, dass wir also unseren eigenen Teams, wie gesagt, unsere eigenen Kameras, unsere eigenen Journalisten nicht vor Ort agieren dürfen. Auf der anderen Seite, auch wenn diese alle agieren dürften, die Ereignisse sind so kompliziert, so, wie sagt man, es ist ein Flächenbrand, dass man das kaum durch Korrespondenten und eigene Kameras abdecken kann. Wie viele Kameras muss man haben, um dieses Ägypten jetzt flächendeckend zu haben? Das ist unmöglich. Man muss automatisch abweichen auf diese neuen Medien, die sich ja uns und anderen aufgezwungen haben. Das ist nicht jetzt eine Wahl, sondern ein Muss. Wenn man wirklich wissen will, was heute in Ägypten los ist, muss man – auch als Medium, auch als Al-Dschasira – zum Rezipienten werden und nicht mehr zu dem, der praktisch die Informationen weitergibt, sondern man ist Empfänger. Und man geht mit diesen neuen Medien – ob das YouTube, ob das jetzt Facebook, ob das jetzt andere Blog-Geschichten –, das sind die Quellen für Journalismus, aber auch für die Leute selbst.

Timm: Ich habe das Wort vom Bürgerjournalisten auch deshalb ins Spiel gebracht, weil Al-Dschasira sich auch in seiner Geschichte – 15 Jahre sind es jetzt – immer als Forum verstanden hat für die Leute auf der Straße. Kollegen von Ihnen sagen auch, wir sind die Stimme der arabischen Straße. Zum einen waren Sie so das erste Medium, das ungefiltert, unzensiert in arabischen Staaten berichten konnte, zum anderen ist das natürlich auch schwer, dann unabhängig zu informieren, weil man natürlich ein Stück weit Teil der Bewegung ist. Ist das derzeit auch eine Gefahr in den arabischen Staaten für Al-Dschasira, peitscht man die Stimmung damit auch nach vorn und wird Teil eines Aufstands, statt über ihn zu berichten?

Suliman: Also ich bin ganz davon überzeugt, dass die Aufstände, dass die Menschen auf der Straße deswegen da sind, weil Unterdrückung in unglaublichen Maßen vorgegangen ist und nicht weil die Medien darüber berichten – Al-Dschasira oder andere Medien. Natürlich versuchen viele – das ist in Amerika übrigens sehr beliebt –, die Medien hätten den Vietnamkrieg beendet. Da gab es keine 100.000 Kommunisten, die jetzt in Vietnam damals gekämpft haben, da war keine Rolle der Sowjetunion. Auf einmal sind das Medien mit den paar Berichten, und heute neigt man dazu zu sagen, auch vor allem amerikanische Medien, Al-Dschasira bewegt die arabische Straße, und dabei unterstellt man wirklich dem arabischen Bürger eine ganze Menge negative, sag ich mal, Eigenschaften. Die Bürger in der arabischen Welt brauchen Al-Dschasira nicht, um zu wissen, wie unterdrückt die sind. Der Mann, der in Tunesien vor vier Wochen oder Ende letzten Jahres sich anzündete, der Arbeitslose, der diese ganze Bewegung auslöste vorher in Tunesien, aber jetzt auch in Ägypten, der hat nicht das Al-Dschasira-Programm angeschaut und dann sich angezündet, nein, er hat wirklich gesehen, wie perspektivlos sein ganzes Leben ist, Und noch obendrauf Erniedrigung durch den Staatsapparat – also erst mal Hoffnungslosigkeit und obendrauf Erniedrigung, das bringt jede Gesellschaft irgendwann mal – zugegebenermaßen, Gesellschaften unterscheiden sich – zum Explodieren.

Jetzt kommen die Massenmedien und begleiten das, und dann kommen die Herrscher und erzählen uns, das waren die Massenmedien. Und deswegen: Al-Dschasira ist jetzt in Ägypten zum Beispiel weg, und jetzt werden die Ägypter ruhig sein, aber die Ägypter sind jetzt umso mehr auf der Straße. Früher hieß es auch im Irak, wenn Al-Dschasira raus ist, dann gibt es keine Gewaltakte mehr. Al-Dschasira ist schon längst aus dem Irak, seit 2002 übrigens, und trotzdem, die Lage hat sich da nicht wirklich beruhigt. Also diese Erklärungen mit Medien und Nichtmedien bin ich kein Freund von, zumal das dazu leider beiträgt auch manchmal, dass manche Kollegen, manche Medien auch hochnäsig werden.

Timm: Aber lassen Sie es uns mal so formulieren: Die Verantwortung, die ist schon gewachsen, nicht? Es ist wahrscheinlich schwieriger zu unterscheiden, gerade wenn man in Ägypten schlicht gekappt ist und in den anderen Staaten doch auch stärker unter Druck steht als vorher, die Verantwortung für einen Al-Dschasira-Journalisten ist schon gewachsen, zu unterscheiden, wann berichte ich einfach nur O-Ton und wann berichte ich und reflektiere?

Suliman: Ich glaube nicht, dass das gewachsen ist, das ist eine Frage, die von Anfang an sich gestellt hatte und bis jetzt sich stellt. Beispiel Ägypten jetzt: Wir sind verboten worden! Das ist keine Mediaanstalt, das ist kein Rundfunkrat, das ist keine unabhängige Seite, das ist kein Gericht – das ist die Exekutive.

Timm: Und damit fehlt die Stimme.

Suliman: Genau! Und das ist in den anderen arabischen Ländern übrigens auch so, in allen 22 arabischen Ländern, muss man sagen – Ägypten ist ja keine Ausnahme. In dieser Umgebung journalistisch zu agieren, stellt immer wieder die Frage: Inwieweit kann ich gehen, was kann ich wirklich zeigen, was kann ich sagen, was nicht, was überlasse ich lieber anderen Gesprächspartnern und so weiter? Und hier ist Ägypten so ein nettes Beispiel: Jetzt, in dem Moment, wo unser Büro geschlossen wurde, wo unsere Korrespondenten nicht mehr arbeiten durften, waren wir entbunden von dieser ganzen Last, und wir konnten wirklich rücksichtslos berichten über die Ereignisse in Ägypten, weil jetzt haben wir nichts mehr zu befürchten an staatlichen Repressalien oder irgendwelche Gegenmaßnahmen. Jetzt berichten wir, jetzt öffnen wir das Telefon, reden mit Demonstranten auf der Straße und lassen sie sagen, was sie sagen wollen. Wenn die offiziellen Stellen anrufen wollen würden, würden wir sie gerne auch zeigen, aber leider wollen sie nicht.

Timm: Herr Suliman, schauen wir noch mal nach Ägypten. Sie sind dort gekappt, die Handyverbindungen gehen wieder, das Internet, da hat man auch kurzerhand den Stecker rausgenommen. Dafür, dass die ägyptische Revolution jetzt sozusagen offline stattfindet, ist sie ganz schön lebendig, oder?

Suliman: Natürlich – und das ist die Lehre, die wirklich wir alle machen müssen. Übrigens, das erzähle ich immer wieder gerne: Kollegen und Journalisten bei Al-Dschasira und anderswo, die Oktoberrevolution, die Französische Revolution, die ganzen Revolutionen in dieser Welt fanden ohne Al-Dschasira und ohne andere Massenmedien statt, und die werden immer wieder stattfinden. Revolutionen finden statt, weil Menschen unterdrückt werden, und Menschen sind nun mal keine Steine und keine Tiere. Sie revoltieren irgendwann mal und sagen nein zum Unterdrücker. Und dass die Medien das begleiten, ist super und nett und vielleicht ermutigt das die ein oder andere Gruppe ja, der ersten Gruppe das nachzumachen, aber bestimmt kann man das nicht erfinden.

Timm: Wagen Sie denn eine Vermutung, wann Al-Dschasira in Ägypten wieder ganz normal senden kann?

Suliman: Ganz normal, Betonung auf ganz normal, das ist natürlich eine sehr schwierige Frage.

Timm: Ein bisschen normal.

Suliman: Ein bisschen normal – ich denke sehr bald. Weil egal, wie die Entwicklung jetzt weitergeht, entweder in Richtung geordnete Machtübergabe an eine andere Stelle, vielleicht an den Vizepräsidenten, oder so richtig mehr Militär oder richtig die Volksrevolte würde am Ende bestimmen, wen sie haben will. In all diesen Szenarien ist Al-Dschasira – da sind die anderen Medien übrigens dabei, weil die neuen Machthaber, egal, wer das sind, haben natürlich Interesse zu zeigen, das Neue zu zeigen, das Offenere zu zeigen. Das wird auf jeden Fall offener – übrigens nicht nur für die Medien, auch für uns Al-Dschasira: Wir werden nicht nur arbeitslos gemacht durch diese Blogger und jungen Leute, die über Facebook und so weiter kommunizieren, wir sind wirklich nicht nur Zuschauer geworden, sondern auch arbeitslos, und wir werden uns Gedanken machen müssen über unsere Zukunft. In freieren arabischen Staaten, hat dann Al-Dschasira wirklich Platz? Braucht jemand Al-Dschasira, wenn alle frei sind? Das ist die Frage.

Timm: Das schauen wir uns dann an. Aktham Suliman war das, der Deutschlandkorrespondent von Al-Dschasira, das in Ägypten zurzeit nicht senden kann. Vielen Dank fürs Gespräch!

Suliman: Bitte schön!
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