Die Abwärtsspirale

Von Uwe Bork |
Statt wortreicher Anleitung bieten Handyhersteller nur knallig-bunte Bilder, statt geschriebener Gesten werden Emoticons versendet und komplizierte Satzgefüge sind so passé, dass Thomas Manns "Buddenbrooks" heute nur noch als Telenovela erscheinen dürften. Wir befinden uns in einer intellektuellen Abwärtsspirale, bei der die Komplexität der Wirklichkeit auf Icons reduziert wird. Das wird sich rächen.
Genau genommen gibt es nur eine Erklärung: Die Konstrukteure meines neuen Handys müssen mich irgendwie für blöd halten. Oder für dumm, um es etwas gepflegter auszudrücken. Wie anders wäre es zu deuten, dass mein silbern glänzendes Mobiltelefon mich nicht in wenigen Worten über seine Dienste und Angebote informiert, sondern dass es mir Informationen über sein Tun und Lassen nur mit einer Auswahl bonbonbunter Bilder auf einem gut daumennagelgroßen Display anbietet.

In seiner nächsten Evolutionsstufe dürfte dann meine Lesefähigkeit überhaupt nicht mehr gefragt sein und auch das eingebaute Adressbuch nicht mehr verbal, sondern nur noch bildlich funktionieren: Für ein Gespräch mit meiner geliebten Ehefrau müsste ich dann einfach ein flammendes Herz anklicken, und eine Verbindung zum stets müden Kollegen S. versteckte sich vielleicht hinter einer hingestrichelten Tasse Kaffee.

Wenn man einmal davon absieht, dass es mir persönlich immer noch leichter fällt, eine knappe Erklärung zu lesen als mir die Bedeutung unzähliger Icons oder Piktogramme zu merken, verspricht uns die moderne Kommunikationstechnik hier einmal mehr eine schöne neue Welt. Wir können sie beherrschen, so suggeriert sie uns, ohne unseren Verstand übermäßig zu verausgaben. Um unser Leben zu meistern oder zumindest im Alltag zu bestehen, reiche schon ein Intelligenzquotient, der nur wenig über dem Wert der Raumtemperatur liegt.

Hier gilt es Einspruch anzumelden. Entschiedenen Einspruch, der sich illustrieren lässt mit einer kleinen Anekdote, mit der vor einiger Zeit der Journalist Theo Sommer, selbst ein Bildungsbürger ersten Ranges, auf dem Jahreskongress des deutschen Altphilologenverbandes für süßsaure Erheiterung sorgte. Er berichtete dort von einer ehrwürdigen englischen Schule, die sich gezwungen sah, ihr über dem Portal eingemeißeltes Motto zu ändern. Zwar lautete es – eigentlich unverfänglich und von optimistischer pädagogischer Zuversicht – "Ich höre, ich sehe, ich lerne", doch hatten frühere Generationen es unglücklicherweise auf Latein in den Sandstein geschlagen: "Audio, Video, Disco" stand da nun also, und das ist heute wirklich mehr als missverständlich.

Man muss kein von modernen Lehrplänen enttäuschter Altphilologe sein, um skeptisch festzustellen: Mit ein bisschen blitzendem und blinkendem Medienzauber lässt sich die Auseinandersetzung mit der komplexen Wirklichkeit unserer Tage nicht erfolgreich führen. Wie meist sind es schlicht falsche Versprechungen, mit denen solch einfache Lösungen angeboten werden.

Und leider ist es nicht damit getan, die inzwischen nahezu weltweite Vorherrschaft der bunten Bildchen zu brechen, die immer mehr nicht nur in die Kommunikation zwischen Mensch und Maschine, sondern auch in die zwischen Mensch und Mensch eindringen. Wir scheinen insgesamt eine verhängnisvolle Spirale nach unten in Gang gesetzt zu haben, deren wachsender Schatten sich zwischen uns und die Realität schiebt. In diesem dämmerigen Halbdunkel fällt es uns nicht nur immer schwerer, die Wirklichkeit zu erkennen, wir können uns über ihren Zustand auch nur noch in holzschnittartigen Formen austauschen.

Da wir uns politisch korrekt verordnet haben, dass alles immer auch für alle verständlich zu sein hat, haben wir uns anscheinend gleichzeitig eine Verarmung und Verflachung unserer sprachlichen Ausdrucksmöglichkeiten eingehandelt. Komplizierte Sätze, ungewöhnliche Ausdrücke, seltene Wörter: Das alles war einmal! Heute hätte sich selbst Thomas Mann, anerkannter Meister aller Schachtelsätze, auf die bündige Abfolge "Subjekt, Prädikat, Objekt" zu beschränken und die "Buddenbrooks" würden als Telenovela mit knappen Dialogen gesendet.

Eine Fehlentwicklung, die sich auch politisch und ökonomisch rächen könnte. Nach Schätzungen von Experten werden auf dem deutschen Arbeitsmarkt jährlich 50.000 Akademiker zusätzlich gebraucht, und die benötigen schon etwas mehr als nur die Fähigkeit, Worte durch Bilder zu ersetzen und selbst privateste Gefühle durch Emoticons auf dem Computerbildschirm auszudrücken.

Vor diesem Hintergrund muss es geradezu sträflich falsch erscheinen, die Komplexität unserer Wirklichkeit auf nur wenige Striche zurückzuführen. Müssten unsere wortmächtigen Wissenschaftler, unsere Pädagogen und Publizisten nicht vielmehr alles daran setzen, möglichst viele Menschen zu befähigen, auch komplexe Botschaften zu verstehen, statt diese Komplexität bis zur nahezu kompletten Inhaltsleere zu reduzieren?

Wer sagt denn, dass wir uns immer nach unten zu orientieren haben? Dass wir unsere Ansprüche zurückschrauben, statt fördernd und fordernd dafür zu sorgen, dass auch die sie erfüllen können, die nicht die besten Ausgangsvoraussetzungen haben und nicht mit dem berühmten silbernen Löffel im Mund geboren wurden?

Ganz billig ist das freilich nicht; eine wirksame Bildungspolitik war indes noch nie zum Nulltarif zu haben. Auf Dauer dürfte aber keine Gesellschaft daran vorbeikommen, auf mündige, intelligente und selbstbewusste Bürger zu setzen. Und wenn die dann ihr Handy durch bunte Bildchen statt durch schwarz-weiße Worte erklärt haben möchten: bitte schön, so sei es eben.

Uwe Bork, geboren 1951 im niedersächsischen Verden (Aller), studierte an der Universität Göttingen Sozialwissenschaften. Nach dem Studium arbeitete Bork zunächst als freier Journalist für verschiedene Zeitungen, Zeitschriften und ARD-Anstalten. Seit 1998 leitet er die Fernsehredaktion "Religion, Kirche und Gesellschaft" des Südwestrundfunks in Stuttgart. Für seine Arbeiten wurde er unter anderem mit dem Caritas-Journalistenpreis sowie zweimal mit dem Deutschen Journalistenpreis Entwicklungspolitik ausgezeichnet. Bork ist Autor zahlreicher Glossen und mehrerer Bücher, in denen er sich humorvoll-ironisch mit zwischenmenschlichen Problemen auseinandersetzt.