"Die Abschreckung funktioniert nicht"

Moderation: Christopher Ricke |
Der Erziehungswissenschaftler Peter Struck hat sich gegen härtere Strafen für jugendliche Gewalttäter ausgesprochen. Strafen allein könnten einen aus der Bahn geworfenen jungen Menschen nicht wieder in die Bahn zurückbringen, sagte Struck. Die aktuell diskutierten Erziehungscamps seien wenig sinnvoll, da sie zu spät zum Einsatz kämen.
Ricke: Wir stecken mitten in den Landtagswahlkämpfen und eine der Waffen, die in diesen Landtagswahlkämpfen geschwungen wird, ist die Forderung nach einer Verschärfung des Jugendstrafrechts. Das Scheppern dieser Waffe übertönt so manches, vielleicht sogar den Klang des Mindestlohns, mit dem die SPD eigentlich punkten wollte. In Niedersachsen und Hessen wird am 27. Januar gewählt, in Hamburg am 24. Februar und an der Hamburger Uni lehrt Professors Peter Struck Erziehungswissenschaften. Er ist ein Mann der Praxis, war vor seiner akademischen Karriere Volks- und Realschullehrer. Guten Morgen, Herr Professor Struck!

Peter Struck: Guten Morgen, Herr Ricke!

Ricke: Diese Debatte, ist das jetzt reines Wahlkampfgeklingel oder nutzt oder schadet sie vielleicht über den Wahltag hinaus?

Struck: Also wir haben diese Debatte immer wieder, meist aus konkreten Anlässen heraus und diese Debatte dient leider ganz offensichtlich immer der Polarisierung der Parteien im Kampf um bestimmte Wählergruppen. Bei einigen kommt so etwas eben an, wenn man schärfere Maßnahmen gegen kriminelle Jugendliche fordert, aber übergeordnet müsste man das alles sehr viel differenzierter sehen.

Ricke: Wir haben ja eine Statistik, die uns sagt, es gibt eine hohe Zahl von Migrantenkindern unter den Gewalttätern, aber das liege an der hohen Zahl der Migranten in der Unterschicht, das sei also eher ein soziales, denn ein kulturelles Problem. Es gibt aber auch die Erkenntnis, dass Gewalt und Aggression in Migrantenfamilien oft häufiger vorkommt, als in, ich sage mal, im deutschen Kulturkreis. Was ist da die Lösung? Die Kinder aus der Familie holen? Kindergartenpflicht, Ganztagsschule?

Struck: Wenn Sie dies nun da so ansprechen, dann ist es richtig, doppelt so viele junge Menschen aus Migrantenfamilien werden schwergewalttätig im Vergleich zu deutschen Jugendlichen, aber wenn man denn nun wieder bedenkt, dass unter den rechtsradikalen Schlägern die Quote der schlimmen gewalttätigen und auch zuschlagenden jungen Männer genauso hoch ist wie bei den Mirgrantenkindern, dann kann das also nicht an dem Faktor Migrant alleine liegen. In Wirklichkeit geht es eben um das, was wir "Verliererschicksale" nennen, wozu also schon eine ungünstige Familie, in der man selbst viel Gewalt erfährt, gehört, ungünstige Wohnnachbarschaften, Versagen in der Schule, kein Ausbildungsplatz, kein Schulabschluss, keinen Job bekommen, schwer Freunde und Freundin finden, nicht wissen, was man in seiner Freizeit macht, keine Zukunftschancen hat und natürlich auch gewaltige, negative Medieneinflüsse in Form von gewaltreichen Computerspielen und so weiter. Das muss eben leider alles zusammenkommen, damit was ganz Schlimmes dabei herauskriecht und der Faktor hier, benachteiligt sein durch geringe Sprachkompetenz und deshalb Ausweichen auf körperbetonte Kommunikation, wozu ja auch das Schlagen gehört, das ist natürlich dann auch ein Faktor bei zugewanderten, jungen Menschen.

Ricke: Wenn gewalttätige Jugendliche eine solche Biografie haben, mit zwei Dutzend schlimmer Faktoren, wenn sie von Kindesbeinen an in der Familie nur Gewalt gelernt haben, es einfach nicht anders kennen, wer zeigt ihnen denn, wie sie mit ihrer Aggression umgehen? Sind das dann die Lehrerinnen und die Lehrer, die in der Pflicht sind?

Struck: Also wir haben mittlerweile ja umgekehrt sehr erfolgreiche Projekte, bei denen man wirklich erkennen kann, dass das geht, wenn man früh anfängt, das heißt schon die Kinder sehr sinnvoll konfrontiert mit dem, was sie tun im Kindergartenalter. Wenn man eine zugehende Pädagogik entwickelt, also sehr eng mit den Familien dieser Kinder zusammenarbeitet, die Eltern auch in die Kindergärten und in die Schulen holt, wenn man sie früher in solche Einrichtungen bringt, das macht man ja mittlerweile auch über die deutschsprachigen Tests bei Migrantenkindern, und früh im Kindergarten und Vorschulbereich, wenn man die Grundschule früher beginnen lässt, was ja eine europaweite Initiative ist, also Einschulung mit fünf und wenn man die Kinder länger in den Schulen unterbringt, also rhythmisierte Ganztagsschulen, dann schafft man auch eine erzieherische Stärkung gegenüber erziehungsschwachen Familien und damit auch eine bessere Chance, dass sich Bildung dann günstiger ereignet.

Denn diese klassische Arbeitsteilung, dass die Familie erzieht und die Schule bildet, funktioniert ja bei 60 Prozent der deutschen Kinder nicht mehr, also muss man eben auch der Schule und damit auch der Gesellschaft einen breiteren, erzieherischen Rahmen bieten. Und da wir viele Schulen in Problemgebieten haben mit Streitschlichter und Konfliktlotsen, Konzepten mit Werteerziehung über Dilemmata und Anti-Aggressivitätstraining, Konfrontationspädagogik und immer genau dort Gewalt deutlich weniger ist, dann gibt uns das schon ein paar sinnvolle Antworten.

Und was aktuell nur an der Spitze des Eisberges diskutiert wird mit Erziehungscamps und Jugendarrest und Warnschüssen und längerer Unterbringung in Haftanstalten wäre ja immer nur viel zu spät, wenn das Kind schon in den Brunnen gefallen ist, zu reagieren. Das bedeutet immer, den zehnfachen Aufwand und es kommt höchstens noch 80 Prozent des Erfolgs dabei heraus, als wenn man gleich bei kleinen Kinder damit richtig beginnt. Da müssen wir also ansetzen.

Ricke: Das ist die Vision, wie ein strukturelles Problem gelöst werden kann, aber eine solche Lösung, die ist nicht in Jahresfrist zu schaffen. Aber das aktuelle Gewaltproblem, das muss zeitnah schon gelöst werden. 100 Jahre nach Wilhelm Busch, frage ich noch einmal, damals wurde härter gestraft, das wissen wir aus den Bildern, das wissen wir aus den Texten und Max und Moritz haben heute viel Schlimmeres getan, als nur Hühner zu stehlen.

Struck: Gut also, das war eine andere Zeit, das war eine andere Gesellschaft. In totalitären oder hochautoritären Gesellschaften ist Erziehung immer relativ leicht. Da muss man sein Kind nur so erziehen, wie alle anderen das auch machen. Da geht es auch nicht um Überzeugung, sondern um Anpassung, um Drill und so weiter.

Wir leben heute in einer sehr komplexen, modernen Demokratie mit Wertevielfalt. Da geht das nicht mehr so, junge Menschen müssen also, wenn wir etwas anordnen, wenn wir Werte vermitteln wollen, zustimmen. Wir müssen sie also überzeugen. Das dauert eben sehr viel länger, sehr viel mehr Zeit. Strafen alleine können gar nicht einen aus der Bahn geworfenen jungen Menschen wieder in die Bahn zurückbringen. Das funktioniert nicht, hat auch früher nicht richtig funktioniert.

Strafe hat ja immer drei Funktionen: Sie soll abschrecken im Vorwege, sie soll resozialisieren, also wiedereingliedern in die Gesellschaft. Das schaffen wir mit Jugendstrafanstalten nicht. Das sind eher Verbrechenhochschulen, weil sie vor allem dort Ungünstiges voneinander lernen und weil damit auch das integrative Problem, also die Wiedereingliederung in die Gesellschaft und vor allem das Perspektivische, also wieder Land in der Zukunft sehen, Erfolge, mit sozialen Erfolgen auch und natürlich auch beruflichen, das wird dort ja überhaupt nicht angelegt. Also funktioniert auch die Abschreckung nicht. Wir wissen aus vielen Studien, dass Strafen noch so hoch angedroht sein können, die Täter gehen in dem Moment des Affektes sowieso nicht davon aus, dass das irgendwelche Folgen hat. So weit denken sie gar nicht und ansonsten denken sie, dass sie vielleicht sowieso nicht geschnappt werden.

Ricke: Professor Peter Struck, er lehrt Erziehungswissenschaften an der Uni Hamburg, ich danke Ihnen, Herr Struck.