Die ABC-Schutzmaske immer zur Hand

Von Klaus Martin Höfer · 01.06.2013
Es geht nicht nur um das Eingeständnis von Schuld, wenn junge Deutsche mit der Aktion Sühnezeichen nach Israel gehen und dort soziale Dienste leisten. Der Konflikt im Land ist allgegenwärtig und Notfallpläne vorhanden - SMS-Kontakt mit der Botschaft inklusive.
Gretel Meróm: "Ich stamme aus Frankfurt am Main, bin eine geborene Baum, und meine Mutter stammt aus einer alten Frankfurter Familie, ungefähr die sechste Generation in Frankfurt."

Gretel Meróm erzählt aus ihrem Leben. Als junge Frau ist sie damals nach Palästina gekommen, Anfang der dreißiger Jahre.

"Bei uns zuhause war Zionismus was für die armen Ostjuden, die keine Heimat hatten. Das kam für uns Deutsche überhaupt nicht in Frage. Ich meinerseits war seit meinem 15. Lebensjahr..., ich wurde zionistisch zum Entsetzen meiner Familie Eltern, meiner Verwandtschaft. Das habe ich überstanden und habe gesagt, nach meinem Abitur gehe ich nach Palästina."

Gretel Meróm ist mittlerweile 100 Jahre alt. Sie sieht nicht mehr gut und braucht Unterstützung beim Gehen. Und Menschen, die zuhören. Zum Beispiel Lea Wamsler. Die wird gerade mal 19 und hält ein wachsames Auge auf die alte Dame, sitzt mit am Tisch, wenn Besuch da ist und Gretel Meróm ihre Lebensgeschichte erzählt. Sie war nur ein wenig älter als Lea jetzt, als sie damals ins Land kam.

"Ich habe zu denen gehört, zu den 18 Menschen, die den Kibbuz (En Gev) gegründet haben. Drei Mädchen, 15 Jungs. Ich glaube, ich war das einzige Mädchen, das richtig gearbeitet hat. Die anderen waren zu sehr mit den Jünglingen beschäftigt."

Lea ist mit "Aktion Sühnezeichen Friedensdienste" in Israel, betreut in dem Seniorenheim zwei, drei ältere Menschen. Andere Freiwillige sind in Kinderheimen oder in Einrichtungen, in denen Behinderte wohnen. ASF macht das seit mehr als 50 Jahren. Die Idee, die dahinter steckt, ist, dort helfen zu dürfen, wo Menschen Opfer des Nationalsozialismus waren. Und Wege für ein friedliches Zusammenleben zu finden, durch Kontakte von einfachen Menschen, nicht von Funktionären und Politikern.

1958, auf der evangelischen Synode, wurde "Aktion Sühnezeichen" ins Leben gerufen, in einer Zeit, in der viele in der Kirche noch weit entfernt waren, ihre Rolle im Dritten Reich zu hinterfragen. "Aktion Sühnezeichen" steht seitdem nicht nur für ein Eingeständnis von Schuld, sondern auch für eine Aufforderung zum Handeln. Versöhnung und "Sühne" – das sind Begriffe, bei denen sich ASF auf ein biblisches Verständnis beruft: Zerstörte Lebensverhältnisse sollen in Ordnung gebracht, sollen "geheilt" werden. Auf keinen Fall sollen die Freiwilligendienste ein vergeblicher Versuch sein, einen angerichteten Schaden wieder gutmachen zu wollen und sich damit vielleicht ein reines Gewissen zu verschaffen.

Israel war eines der ersten Länder, in die "Aktion Sühnezeichen" Freiwillige schickte: Etwa zwei Dutzend sind jetzt ständig im Land, in etwa doppelt so vielen Einrichtungen, jeweils zwei oder drei Tage die Woche.

"Ich habe das als Aufgabe meiner letzten Lebensjahre, dass ich die Deutschen, die freiwillig hierher kommen, dass ich mich mit denen unterhalte, und ich habe auch sehr viele Freunde gefunden."

Lea hat der alten Dame noch mal Kaffee nachgegossen, Gretel Meróm erzählt noch ein wenig von ihrer Familie und aus ihrem Leben, verabschiedet sich dann, gestützt von Lea, von ihren Gästen.

Drei Tage später ist Krieg.

Die israelischen Streitkräfte haben einen Hamas-Führer im Gazastreifen getötet, als Reaktion auf hunderte von dort auf israelisches Gebiet abgeschossene Raketen. Im Gegenzug kündigt nun die militante Palästinenser-Organisation Vergeltung an. Israelische Reservisten werden einberufen. Raketenalarm in Tel Aviv und in Jerusalem – das gab es seit Jahren nicht mehr.

Krieg in einem Land, in dem Lea einen Friedensdienst in sozialen Einrichtungen macht. In Haifa, im Norden Israels, oben auf einem Höhenzug des Carmel-Gebirges, wohnt sie mit anderen Freiwilligen in einer WG: Jan Thorben Wilke und Nora Schmidt, beide sind 20 Jahre alt. Der Kriegsausbruch ist jetzt Gesprächsthema am Küchentisch. Nora hatte erst unterwegs davon gehört.

"Ich hab nur gestern mich gewundert, dass der Bus plötzlich so leer war, mit dem ich von meinem Projekt nach Hause gefahren bin. Die Warnung, dass jetzt neue Terroranschläge sind, hat die Runde gemacht, und jetzt fahren eben weniger mit dem Bus."

Sie lesen sich gegenseitig Artikel vor, versuchen die Informationen und Eindrücke einzuordnen. In den Nachrichten beherrschen immer wieder Kriegsbilder die Themen – in den deutschen wie in den israelischen Medien. Doch für die Freiwilligen geht erst einmal der Alltag weiter: Alte Menschen in Seniorenheimen betreuen, in einem Kindergarten helfen, sich um Behinderte kümmern.

"Wir können unser Leben nicht danach richten, was da passiert ist. Wir haben trotzdem unsere Projekte, und die Projekte sind auf uns angewiesen, und wir arbeiten trotzdem."

... sagt Jan beinahe trotzig, und die anderen nicken zustimmend. Und sie hoffen, dass die immer wieder aufflackernden Kämpfe vor allem im Gaza-Streifen nicht näher kommen. Haifa ist weit vom Gaza-Streifen entfernt; Haifa wird wahrscheinlich nicht Ziel irgendwelcher Raketen werden. Allerdings: Das Land ist klein, an seiner schmalsten Stelle liegen gerade mal 20 Kilometer zwischen Meer und dem Westjordanland. Droht eine neue Intifada, ist mit Attentaten auf Marktplätzen und Bahnhöfen zu rechnen, mit Raketen aus dem Libanon?

Nora: "Natürlich eine heikle Situationen, weil beiden Seiten sehr unberechenbar sind... Das macht so viele Möglichkeiten auf, die in ganz schwierige Richtungen laufen können, ganz gefährliche Richtungen."

Auch schon der normale Alltag ist in Israel von Militär und Waffen geprägt: Soldaten, die auf dem Weg von und zur Kaserne ihre Sturmgewehre mit in den Bus nehmen, bewaffnetes Sicherheitspersonal vor dem Einkaufszentrum, Gepäckkontrollen am Bahnhof, am Eingang zur U-Bahn. Und dann auch noch die vielen Reservisten...

Nora: ""Das ist für mich ganz schwierig, junge Leute in meinem Alter zu sehen, mit der Vorstellung, vielleicht gehen die in jetzt in den Gaza oder den Libanon oder egal so. Da sind diejenigen, die es dann machen, und plötzlich kennt man die so, auch in ihrer jungen Art auch wie wir sind und trotzdem haben die so eine unglaubliche Aufgabe und sind in ihrem Leben auch schon so großen Gefahren auseinander gesetzt, die wir nicht erleben müssen."

Wer heutzutage einen Freiwilligendienst in Israel macht, dem geht es nicht mehr um persönliche Aufarbeitung – es ist Neugier, ein wenig Abenteuerlust, die Frage nach den Hintergründen des Nahostkonfliktes, das einerseits Vertraute, andererseits aber Fremde im täglichen Leben. Für Nora ist die in Israel so offen zur Schau gestellte Religiösität spannend, die so ganz im Gegensatz steht zur eher privaten und stillen christlichen Überzeugung, die sie aus ihrer norddeutschen Heimat kennt.

Die Widersprüche der israelischen Gesellschaft, die Neugier auf die Vielfalt des Judentums – deswegen ist Jan im Land. Freiwillige von "Aktion Sühnezeichen Friedensdienste" kommen, weil sie mit ihrem Engagement selbst lernen und Zusammenleben gestalten wollen. Doch jeder weiss, dass er in ein Krisengebiet kommt. ASF rät den Bewerbern, darüber bereits zu Hause eingehend zu reden, mit Eltern und Freunden, sich möglicherweise auch auf Gewalt einzustellen.

Lea: "Wir leben hier von Anfang an nicht so wie in Deutschland. Man macht sich von Anfang an kundig, und weiß, dass es ab und zu kriseln kann und das was passieren kann. Man überlegt sich verschiedene Szenarien durch, auch bevor wir hierher kamen.

Nora: "Wir sind ja hier mit einem großen Schutzmantel wir haben eine Organisation, die uns unglaublich viel mit Rückendeckung. Ich glaube, wir sind schneller raus aus diesem Land, bevor wir ganz schlimme Szene miterleben, oder mitten drin sind."

Die ganz schlimmen Szenen - das könnte eine Situation sein, die keiner will: Israel wird massiv von außen angegriffen, mit Giftgas-Raketen möglicherweise – das Zivilleben ist zusammengebrochen, das Internet funktioniert nicht mehr, der Flughafen ist gesperrt. Für solche Fälle lagern in den Wohnungen der ASF-Freiwilligen seit Jahren Notfallkisten – mit ABC-Schutzmasken und Kurzwellenempfängern, damit Informationen für eine dann notwendige Evakuierung übers Radio empfangen werden können, von der Deutschen Welle zum Beispiel.

Es gibt vorher vereinbarte Sammelpunkte im Land, an denen Busse warten, die die Deutschen an die Küste bringen. Dort werden sie mit Schiffen abgeholt –– so könnte ein Szenario aussehen. Wie genau die Freiwilligen im allerschlimmsten Fall aus dem Land geholt werden, will das Auswärtige Amt nicht verraten. Doch wie in anderen Krisenregionen auch, können sich deutsche Staatsangehörige bei der Botschaft registrieren lassen, werden im Notfall informiert über die Pläne.

Mehrfach täglich piept das Handy - wieder eine SMS der Botschaft, mit neuesten Empfehlungen. Sie sollen keine Reisen mehr in den Süden Israels unternehmen. Und nicht mit dem Bus fahren. Doch wie soll das gehen? Die Freiwilligen sind darauf angewiesen - wie sollen sie sonst von ihrer Wohnung zu den Arbeitsstellen kommen?

Jan: "Natürlich denkt man immer wieder nach, wenn man im Bus sitzt, was ist, wenn es jetzt passiert. Aber wenn man hier wohnt und hier arbeitet, dann merkt man wirklich, wie man im Alltag ankommt. Und dass der Alltag ist nicht geprägt sein kann von dem, was passieren kann. Sonst würde man verrückt werden, wenn man überlegt. Man trainiert sich so eine gewisse Lockerheit an."

Und überhaupt: Eigentlich wollen sie gar nicht weg, sondern helfen. Deswegen sind sie ja gekommen.

Nora: ""Wir haben eine unglaublich privilegierte Stellung, was natürlich eine moralische Auseinandersetzung für einen selber ist, ob man sagt, na klar gehe ich raus, aus Verpflichtung für meine Familie, was sehr wichtig für mich auch ist. Man fühlt sich verantwortlich, sein eigenes Wohl nicht zu gefährden oder aufs Spiel zu setzen.

Aber auf der anderen Seite: Gut, wir sind in Projekten, wo unsere Hilfe benötigt wird und gerade in einer Krisensituation erst recht benötigt wird. Um zum Beispiel mehr Kinder in den Bunker zu bringen, oder Jan behinderte Kinder in den Shelter, in den Bunker zu bringen. Seine Hilfe wird dann richtig benötigt. Das sind dann zehn Kinder mehr sozusagen, wenn man das mal blöd hochrechnet. … Aber mir ist es schon bewusst, beide Seiten sind schwierig. Hier zu bleiben wäre für mich sehr schwer, in Gedenken an meine Familie. Zu gehen ist auch ein schwieriger Schritt. weil man ja hier einiges verlässt. Man ist ja auch schon verwurzelt."

Keiner zwingt die Freiwilligen, im Land auszuharren. Immer wieder kommt es vor, dass einzelne nach Hause gehen, weil sie eine zu starke psychische Belastung spüren und die ständige latente Krisensituation nicht aushalten. Und auch in den einzelnen Projekten heißt es, wir haben haben Verständnis, wenn ihr geht – auch wenn natürlich lieber gesehen wird, dass die Helfer bleiben. Die Freiwilligen in der Wohngemeinschaften machen es sich nicht einfach mit ihren Entscheidungen.

Lea: "Warum dürfen wir raus, und andere bleiben da... müssen das alles ertragen, was wir nicht ertragen müssen. Das ist einfach unheimlich schwierig. Wenn es so weit kommen würde, man muss ganz auf sich selber hören. Es gibt viele Meinungen, aber (das ist) eigentlich, was zählt."

Jan: "Man ist ja hier, um zu helfen, Aber irgendwann kommt man auch dazu, den Gedanken an sich heran zu lassen: Wir gehen dann, in dem Moment."
Mehr zum Thema