Die 100-Jährigen
10.000 über Hundertjährige gibt es mittlerweile in Deutschland. Vor 30 Jahren waren es um die 300. Hanna M. ist eine Jahrhundertfrau, Heinrich E. ist ein Jahrhundertmann. Sie sind nicht nur Zeitzeugen, sondern auch Vorreiter für das, was immer mehr Menschen erleben werden. Alltagsgeschichten von zwei Menschen, die ein Drittel ihres Lebens als Senioren verbringen.
Hanna M.
"Jören sind die, mein Crew. Die sind alle schon in den 70ern und stinkend faul. Und wie können die so etwas machen, sage ich mir. Ich gebe mir die größte Mühe, denen etwas beizubringen, und die üben einfach nicht."
Hanna M. sitzt aufrecht in der S-Bahn. Auf ihrem Schoß liegt eine Plastiktüte mit Notenblättern. Um den Hals baumelt ihre Handtasche. Wie jeden Donnerstag ist die 100-jährige Orchesterchefin auf dem Weg zur Probe ihres 12-köpfigen Orchesters. Bei jedem Ruck der S-Bahn schwingt ihr zierlicher Körper mit. Für eine gute Figur muss sie immer ein bisschen tricksen. Sie zieht einfach mehrere Kleidungsstücke übereinander.
"Von allem drei: drei Blusen, drei, ja, mit der Unterwäsche, alles dreifach, doppelt und dreifach, damit ich etwas mehr bin, noch eine Bluse darunter und so. Damit ich ein bisschen rundlich aussehe. Ich habe Fotos, da habe ich so viel an. Ich sehe richtig mollig aus, damit ich nicht so arm und krank aussehe."
Sie trägt eine orangefarbene Hose mit Bügelfalten. Die bunt gemusterte Seidenbluse mit dem großen 70er-Jahre-Kragen hat sie wieder neu für sich entdeckt. In ihrem Kleiderschrank beherbergt sie so ziemlich jeden modischen Trend bis in die 80er Jahre. Vor 20 Jahren hat die 100-Jährige aufgehört, sich neue Kleidungstücke zu kaufen, denn jede Mode wiederholt sich ohnehin mehrmals, und die Sachen sind gut erhalten, sagt sie.
Am Bahnhof Zoo muss sie umsteigen. Bevor sie sich erhebt, zupft sie noch einmal ihren Pagenkopf zurecht. Eine hellbraune Perücke, die ihr - trotz der Falten - fast kindliches Gesicht einrahmt. An anderen Tagen trägt sie die rote Perücke, ein flotter Kurzhaarschnitt. Ein junger Mann will sie beim Aufstehen stützen.
"Och nö. Ist nicht nötig. Geht noch. Dankeschön. Ich mache mich doch nicht älter als ich schon bin."
Schwäche will die gelernte Ballettmeisterin nicht zeigen. Sie schlängelt sich grazil, mit dem aufrechten Gang einer Tänzerin, vorbei an den anderen Fahrgästen zum Ausgang.
Wenn Hanna M. ihr Leben Revue passieren lässt, dann sieht sie sich tanzen und musizieren. Anfang der 30er Jahre tourte sie als Balletteuse mit den Hiller Girls durch ganz Europa. Später bekommt sie ein Engagement am Duisburger Theater, bis der Zweite Weltkrieg die Tanzkarriere vorerst beendet. Zu den Senioren zählte sie bereits, als die 68er auf den Straßen tobten. Bis zu ihrem 80. Lebensjahr hat sie Ballett an der Volkshochschule in Berlin unterrichtet.
Mit Klavierspielen fängt auch heute noch ein guter Tag an. Zwei Jahre vor ihrem 100. Geburtstag hat sie sich einen Wirbel im Rücken gebrochen - als sie sich umdrehen wollte im Bett. Bis dahin dachte sie, das Leben geht immer so weiter. Viele Monate musste sie liegen und das Laufen erst wieder lernen.
"Ich bin getorkelt wie betrunken. Ich wollte geradeaus gehen, das ging nicht. Wer mich nicht kennt, der hat gedacht: Die ist besoffen, die ist übriggeblieben vom Tag, vom übrigen. Das ist doch peinlich, nicht? Ich glaube, meine Knochen sind nur noch Schutt und Asche."
Sie fühlt sich alt, seitdem sie im Rücken dauerhaft Schmerzen hat und selbst ihre altbewährte Salbe versagt. Es gibt Tage, da verlässt sie das Bett nicht. Besucher klingeln dann vergeblich. An anderen Tagen überlegt sie sich, ob ein Computer und das Internet nicht etwas für sie wären. Hanna M. rappelt sich mit ihren 100 Jahren immer wieder auf.
"Sobald ich eine Hand irgendwo stützen kann geht das. Hauptsache, ich kann mich irgendwo festhalten, denn der Arm tut es noch","
sagt sie verschmitzt und steigt Stufe für Stufe die steile Treppe hinab. Einmal umsteigen in die U9 und ein Fußmarsch von zehn Minuten, dann hat sie ihr Ziel nach einer Stunde endlich erreicht.
Die Yoga-Gruppe, die den Probenraum im Seniorenclub vorher nutzt, ist bereits dabei, den Platz für das Orchester zu räumen. Die Musiker trudeln nach und nach ein.
Maria: ""Wo ist denn Detlef?"
Karl-Heinz: "Der ist krank."
Uschi: "Nur Donnerstag ist der krank. Dienstags ist er gesund. Da spielt das Trio Querbeet, da ist er gesund. Ich will nicht hetzen, au weia, ich will nicht Gift ausstreuen. Aber komisch ist das, was? Findest Du nicht auch, Karl-Heinz? Dienstags ist Detlef immer gesund, ja, ja."
Während Hanna M. die schwere Klappe des Klaviers öffnet, fängt ihre Nase an zu bluten. Eine Mitarbeiterin des Seniorenclubs will die Feuerwehr rufen, bringt dann aber doch nur gefrorenen Hackepeter in ein Handtuch gewickelt, um damit den Nacken der angeschlagenen Orchesterleiterin zu kühlen.
Mitarbeiterin des Seniorenclubs: "Ist ihnen schwindelig?"
Hanna M.: "Aber ich will noch nicht anfangen, sonst geht das wieder los."
Mitarbeiterin des Seniorenclubs: "Das beantwortet meine Frage einfach nicht. Ist Ihnen schwindelig?"
Hanna M.: "Nein, gar nicht."
Hanna M.: "Uschi, Ihr fangt an, nicht? Was Ihr wollt. Ist mir egal."
Das Orchester muss ohne die Chefin beginnen. In solchen Fällen springt Uschi M. ein. Genau wie Hanna M. ist sie seit der Gründung des Orchesters dabei. Die 77-Jährige genießt es, wenn sie endlich freie Bahn hat - nach mehr als 20 Jahren. Mit dem Akkordeon vor dem Bauch gibt sie den Takt vor, zumindest für den Moment.
Von der Flöte bis zur Gitarre ist alles vertreten. Ingo N. spielt Saxophon. Mit Anfang 60 ist er das Küken in der Gruppe. Nach einer halben Stunde tritt die Orchesterchefin wieder an. Hanna M. setzt sich an das Klavier und tauscht die randlose Sonnenbrille, die ihre Augen vor dem grellen Tageslicht schützt, gegen eine Lesebrille aus. Dann zählt sie an.
"Drei, vier."
Zwei Stunden wird geprobt. Tango, Charleston und ein bisschen Volksmusik. Im Anschluss gibt es Stullen und Kaffee. Der Kaffeeklatsch danach ist für Hanna M. mindestens genauso wichtig wie die Probe selbst. An Geburtstagen gibt es Sekt für alle. Hanna M. knabbert an ihrem Eibrot, das ihr wie immer zu groß erscheint.
Die meisten Orchestermitglieder nehmen die Probe nicht ganz so ernst. Hanna M. hingegen strebt nach Höherem. An guten Tagen hört sie jeden falschen Ton. Ihr Ziel: Ein großer Auftritt mit dem Orchester. Das weiß auch Karl-Heinz S. Der Akkordeonspieler mit den Regenbogen-Hosenträgern und der Halbglatze schätzt sie sehr.
"Für ihre 100 ist sie noch attraktiv. Lebenslustig ist sie nach wie vor. Für die Musik macht sie alles, stellt sich notfalls auf den Kopf, wenn es sein muss. Sie hat mal gesagt, dass sie Klavier spielt, bis sie vom Hocker fällt. Das ist so das, was sie jung hält und was sie aufrecht erhält."
Nach der Probe, bevor sie in die U-Bahn steigt, kauft sie sich noch ein Stück Kuchen für den Nachmittag.
Hanna M.: "Ein Schweineohr, ja?! Mit viel Zucker. Dünn und viel Zucker. Ja, das ist ein schönes Stück."
Verkäufer: "Bitte schön, die Dame."
Hanna M.: "Aber wo ich mein Portemonnaie gelassen habe, das weiß ich nicht."
Sie wühlt in ihrer Handtasche und zieht diverse Plastiktüten heraus, in die sie das Wichtigste sortiert hat. So findet sie die Sachen besser wieder, wie sie sagt. Schließlich wird sie fündig und bezahlt. Der Verkäufer reicht ihr das Wechselgeld über die Theke.
"Man freut sich, wenn man noch was wieder kriegt. Einen schönen Tag wünsche ich. Gute Geschäfte trotz der Preise."
Wenn Hanna M. nachmittags nach Hause kommt, fällt es ihr schwer, sich noch aufrecht zu halten. Sie lebt allein in einer Vier-Zimmer-Altbauwohnung in Tiergarten.
Einmal in der Woche kommt die Putzfrau, um sauber zu machen. Ihre Tochter hilft ihr mit der Wäsche, und ihr Sohn kauft für sie ein. Darauf ist sie mittlerweile angewiesen. Der Kühlschrank ist voll mit Fertiggerichten. Am liebsten isst sie jedoch Wurst oder ein gutes Stück Fleisch, was sie sich kurz anbrät.
Nur manchmal ist sie einsam. Ihre beiden jüngeren Schwestern, die ihr so wichtig waren, hat sie überlebt. Auch ihr zweiter Mann ist schon früh verstorben. Das stört sie am Altern. An einen potenziellen neuen Lebensabschnittsgefährten hat sie hohe Erwartungen.
"Er müsste sehr klug sein und müsste mir wahnsinnig imponieren mit seinem Können. Und er müsste mich trotzdem noch wahnsinnig lieben, dass er doch ohne mich gar nichts machen möchte. Der muss mich eben auch sehr mögen und reizend finden, obwohl ich doch schon so alt bin."
Um fit zu bleiben, macht sie Gymnastik - morgens und abends. Übungen, die sie vom Ballett her noch kennt. Das regelmäßige Training ist auch für ihren Rücken gut, davon ist sie überzeugt.
"Und vor, und zur Seite und langsam wieder ab, fließend..."
Im Schlafzimmer stellt sie sich neben dem Bett auf und reckt und streckt ihren 100-jährigen Körper nach allen Seiten.
"Ballettübungen, die sind die besten. Die Übungen, die mache ich. Erst ganz vorsichtig, damit sich alles wieder dehnt. Meine Beine, dass ich die wieder höher kriege. Kniebeugen, so tief es geht."
Müde legt sie sich abends in ihre elegante Schaukelliege im Musikzimmer. Manchmal gönnt sie sich ein Glas Rotwein oder ein Bier. Rechts neben ihr steht das Klavier, an das sie sich auch nachts gerne mal setzt, vor ihr der Fernseher, um sich zu informieren, was in der Welt so geschieht und auf einem kleinen Tischchen das froschgrüne Telefon mit Drehscheibe. Immer mehr überwiegen die Momente,
"da ist nur noch Schlafen schön. Und das ist ja auch traurig. Ich möchte ja nicht den Rest meines Lebens verschlafen. Ich möchte wieder so rennen können und so tanzen können, wie ich es getan habe. Und drehen, drehen, drehen."
Heinrich E.
"Ich bin 1908 in Magdeburg geboren, und wir wohnten damals gegenüber des Südfriedhofs, sodass man sehen konnte, wenn dort große Beerdigungen waren. Und ich weiß nur von einem Mal, dass ich eben da mit meinem Vater stand: Ich musste wohl drei Jahre alt gewesen sein. Da gingen lauter Jungen vorbei mit Fahnen. Da sagt mein Vater: 'Ja, Geburtstag! Der Kaiser hat heute Geburtstag!' Da habe ich das erste Mal etwas vom Kaiser gehört!"
Kaisergeburtstag! Das war ein Ereignis für den kleinen Heinrich! Noch heute kann der alte Herr das Bild des Fahnenumzuges zu Ehren Wilhelms II. aus seinem Gedächtnis so lebhaft abrufen, als läge es nur ein paar Jahre zurück - und nicht weit in der Vergangenheit vor fast 100 Jahren.
"Die Kaiserzeit war ganz interessant. Das war schon sehr schön, jaja."
Während Heinrich E. von dieser versunkenen Epoche erzählt, sitzt er aufrecht auf dem beigefarbenen Velourssessel in seinem Berliner Wohnzimmer, hebt seine rechte Hand ein wenig an und bewegt sie hin und her, als wolle er der Kaisergeburtstags-Parade den Marschrhythmus vorgeben.
Auch das Ende der Kaiserzeit ist ihm noch in Erinnerung. Da war der kleine Heinrich zehn Jahre alt und hatte gerade die Aufnahmeprüfung für das Guben-Gymnasium in Magdeburg bestanden. Weil Weltkriegs-General Paul von Hindenburg einst in Magdeburg stationiert war, wurde Hindenburgs Quartier zum Angriffsziel der Aufständischen.
"Unsere Schule war gegenüber von einem großen Gebäude, in dem auch Hindenburg eine Zeit lang war. Und da war die große Revolution, und wir schrieben gerade eine Arbeit. Da kam der Direktor an die Tür und sagte: 'Ihr geht nach Hause, keiner hält sich unterwegs auf. Eure Eltern sind teilweise schon vor der Schule, der Kaiser hat abgedankt.'"
Aber Heinrich E. war viel zu neugierig. Er wollte wissen, was da vor sich ging. An der Straßenbahnhaltestelle blieb er mit seinem Freund stehen und beobachtete, wie die Revolutionäre die Straßenbahn stürmten und Mitgliedern des Offizierkorps, die in der Bahn fuhren, die Rangabzeichen von der Uniform rissen.
"Und da sahen wir dann, wie die Soldaten darüber gekrabbelt sind und den Offizieren die Stücke abgeschnitten haben, und so weiter. Das war so interessant! Da kam der Lehrer, hat uns jedem eine Ohrfeige gegeben: 'Ab, nach Hause!'"
Dass in der Schule die Prügelstrafe eine gängige Erziehungsmethode war, erzählt der 100-Jährige mit ruhigem Gesichtsausdruck und einem kleinen Achselzucken.
"Aus der Schule kann ich eigentlich nur erzählen: Es gab etwas mit dem Stock. Ja, ja."
Das Risiko, sich eine Schelle einzufangen, habe ihn aber nicht gehindert, Unsinn zu machen, bekennt Heinrich E. und schmunzelt. Dabei setzt er sich etwas aufrechter in seinen Sessel - so dass sich der Eindruck aufdrängt, er stünde noch heute für die Klingelstreiche grade, die er einst zusammen mit seinen kleinen Freunden in der Magdeburger Kruppsiedlung ausgeheckt hat.
"Das war denn der einen Frau wohl doch zu viel: Ihr Mann hieß Franz. Und die kam dann heraus und wollte uns abfangen, und wir immer alle im Chor: 'Franz! Franz! Franz!' – 'Wer sind sie, wer sind sie? Ich will mich bei ihren Eltern beschweren über die Frechheit!' Ha, Ha! Fünf, sechs Jungs - also, wir haben allerhand Dummheiten gemacht, das stimmt schon."
Aber aus dem Jungen wird trotzdem etwas. Heinrich E. macht sein Abitur, studiert Maschinenbau und wird Ingenieur. Doch Arbeit findet er erst, als Hitlers Rüstungsprojekte die Wirtschaft ankurbeln.
"Ich war ja, als ich mein Examen gemacht hatte, auf der höheren Maschinenbauschule, mit Auszeichnung sogar, da war ich auch arbeitslos. Das ist das Schlimmste, was man haben kann, wenn man keine Arbeit hat. Dadurch waren wir alle für Hitler. Dadurch kriegte ich ja Arbeit, nicht."
Heinrich E. bekennt heute, dass er in Bezug auf das Dritte Reich erst viel später nachdenklich geworden ist.
1936 jedenfalls ist seine Freude ungebrochen, als er seinen 160-Mark-Aushilfsjob kündigen kann, um eine Stelle bei Zeiss-Ikon in Berlin anzutreten. Das Unternehmen produziert im Auftrag des Heereswaffenamtes Entfernungsmesser für Flugabwehrkanonen, und der junge Ingenieur wird Produktionskontrolleur. Nun verdient er genügend Geld, um eine Familie ernähren zu können und kann endlich die Nachbarstochter heiraten, in die er seit langem verliebt ist.
"Wir hatten uns verlobt und wollten auch mal heiraten, aber mit 160 Mark kann man ja nicht heiraten, das geht ja nicht. Und Hochzeit - das war in Magdeburg, natürlich, meine Frau war ja in Magdeburg - hatte mein Schwiegervater und meine Eltern groß ausgerichtet, also wunderbar, mit allem Drum und Dran. Das war mir sehr wichtig!"
Das silbern gerahmte Hochzeitsbild hat bis heute einen Ehrenplatz in Heinrichs Wohnung. Es hängt im Arbeitszimmer seiner Dreieinhalb-Zimmerwohnung, über dem Lehnstuhl, in dem Heinrich E. immer noch jeden Morgen seine Berliner Tageszeitung liest.
"Lesen? Natürlich. Ich lese jeden Tag meinen Tagesspiegel, also, das geht noch. Hier, die ganzen Bücher, die habe ich alle gelesen, nicht."
Das Hochzeits-Foto zeigt das frisch vermählte Paar, vor Glück strahlend, inmitten der Festgesellschaft. Die zarte Braut mit Schleier und langem weißen Kleid, daneben Heinrich E, schlank und aufrecht mit klaren, offenen Gesichtszügen. Ein Schwiegermuttertyp, genau das, was man seinerzeit wohl einen schmucken Kerl genannt hätte.
Auch im Wohnzimmer auf der Nussbaumschrankwand steht ein Bild seiner Frau, ein weiters neben einem prächtigen Strauß Seidenblüten mitten auf dem Teewagen. Heinrich E. vermisst sie. Früher hat er sie immer zu ihrem Seniorenkreis gebracht. Jetzt geht er selbst dorthin.
"Als meine Frau nun leider vor zehn Jahren die Augen zugemacht hat, da bin ich mal hingegangen. Als einziger Mann zwischen alten Damen. die alle so über 80 waren, nicht. Und habe mich da mit hingesetzt. Man kriegt immer Kaffe und Kuchen und eine Dame, die mit meiner Frau befreundet war, die hält für mich den Platz frei.
Und dadurch kommen wird dann und wann mal zusammen, aber sonst haben wir keine engere Verbindung. Also, ich habe mit niemandem eine enge Verbindung, sodass ich sagen könnte, das ist diejenige für mich. Das mache ich auch nicht, will es auch gar nicht mehr haben."
Doch man kann sich durchaus vorstellen, dass die alten Damen dem alten Herrn den Platz freihalten. Denn der 'schmucke Kerl' von einst ist auch im 100-Jährigen noch zu erkennen. Heinrich E. hat volles weißes Haar, hält sich aufrecht, und er ist eine gepflegte Erscheinung. Obwohl ihm das zunehmend schwerfällt, wie er zugibt.
"Mit der Anzieherei, das ist immer so eine Sache. (Lacht.) Vor 10 Uhr bin ich hier nicht fähig wegzugehen. Schaffe ich nicht."
Viel Zeit braucht er in der Früh für die Morgentoilette, das Ankleiden und das Frühstück. Aber Heinrich E. managt all dies ohne fremde Hilfe.
"Alle, alles alleine. Ich stehe morgens um 6 Uhr auf. Genau auf 5 Uhr 47 stehe ich auf. Dann gehe ich raus, gehe in die Küche und setze meinen Kaffee an. Und Toilette natürlich, und so weiter, das ist ja erst mal das Wichtigste. Und jeden Morgen eine Dickmilch: Da kommen Kleie und Weizenkeime und die Tagesmenge von Vitaminen rein, nicht, und so weiter. Wird umgerührt, und das esse ich dann so, wenn ich mich angezogen habe."
Der 100-Jährige hat zwei Söhne und eine Tochter, die ihn regelmäßig besuchen kommen. Dass die Kinder seinen Wunsch nach Selbständigkeit nachvollziehen können, erfüllt den alten Mann mit Freude.
"Wir haben uns gut verstanden, das war alles eine gute Familie. Also, das ist in Ordnung."
Nur irgendwann, meint der 100-Jährige mit einem kleinen Seufzen, habe er eingesehen, dass er den Hausputz nicht mehr allein erledigen kann. Deswegen kommt nun einmal die Woche eine Putzfrau - und zwar eine, die er gerne mag. Die hat nichts dagegen, wenn er ihr unbedingt beim Betten-Beziehen helfen will, die kann zuhören, wenn er von Johannes Heesters schwärmt, und obendrein kann sie auch noch putzen.
"Die macht nun alle Woche einmal hier richtig sauber. Aber da muss ich sagen: Das ist nun wohl einmalig, wie die das hier macht. Also, da bin ich schon sehr zufrieden."
Manchmal hilft sie ihm auch beim Einkaufen. Aber in aller Regel erledigt er auch das alleine. Er darf nur nicht vergessen, sein Hörgerät einzuschalten. Es befriedigt ihn, dass er es schafft, die drei Treppen von seiner Wohnung hinunter zu steigen, dann den Weg zum Supermarkt in der Nachbarschaft bewältigt, seinen kleinen Einkauf erledigt, und mit dem Einkaufstrolley wieder die drei Treppen hoch zu seiner Wohnung bezwingt. Jeden Tag.
"Ich will den Wagen nicht zu schwer machen. Ich muss ja damit auch die drei Treppen hoch kommen, nicht. Ich habe extra große Räder, damit ich die Treppe immer so rüber ziehen kann. Und nachmittags gehe ich auch oft zum Reformhaus, denn viele Sachen kriege ich nur im Reformhaus richtig."
Herr E. vereinbart seine Termine für den Arzt, die Fußpflege und den Friseur selbst. Er bestellt sich sein Mittagessen bei einem Tiefkühlkostunternehmen und macht es sich eigenhändig warm. Er spült sein Geschirr alleine, und es würde ihm nicht einfallen, das tägliche kleine Aufräumen zu unterlassen, bloß weil einmal die Woche seine Putzfrau kommt.
Es ist ein Alltag, der ihn anstrengt. Aber wenn Heinrich E. davon erzählt, nimmt er die Schultern zurück, hebt sein Kinn, und die blauen Augen hinter den dicken Brillengläsern blitzen kurz auf.
Zwar bekümmert es ihn, dass all seine Freunde inzwischen gestorben sind. Und auch dass er im Seniorenkreis der Firma, in der er nach dem Krieg dreißig Jahre lang die Abteilung für Sicherheitsschlösser geleitet hat, niemanden mehr kennt, betrübt ihn. Und er gibt zu, dass er sich inzwischen ab und an hinlegen muss. Aber bis heute ist er der Souverän seines Lebens geblieben. Es ist ein würdiges Leben. Und das erfüllt den 100-Jährigen mit Stolz.
"Jören sind die, mein Crew. Die sind alle schon in den 70ern und stinkend faul. Und wie können die so etwas machen, sage ich mir. Ich gebe mir die größte Mühe, denen etwas beizubringen, und die üben einfach nicht."
Hanna M. sitzt aufrecht in der S-Bahn. Auf ihrem Schoß liegt eine Plastiktüte mit Notenblättern. Um den Hals baumelt ihre Handtasche. Wie jeden Donnerstag ist die 100-jährige Orchesterchefin auf dem Weg zur Probe ihres 12-köpfigen Orchesters. Bei jedem Ruck der S-Bahn schwingt ihr zierlicher Körper mit. Für eine gute Figur muss sie immer ein bisschen tricksen. Sie zieht einfach mehrere Kleidungsstücke übereinander.
"Von allem drei: drei Blusen, drei, ja, mit der Unterwäsche, alles dreifach, doppelt und dreifach, damit ich etwas mehr bin, noch eine Bluse darunter und so. Damit ich ein bisschen rundlich aussehe. Ich habe Fotos, da habe ich so viel an. Ich sehe richtig mollig aus, damit ich nicht so arm und krank aussehe."
Sie trägt eine orangefarbene Hose mit Bügelfalten. Die bunt gemusterte Seidenbluse mit dem großen 70er-Jahre-Kragen hat sie wieder neu für sich entdeckt. In ihrem Kleiderschrank beherbergt sie so ziemlich jeden modischen Trend bis in die 80er Jahre. Vor 20 Jahren hat die 100-Jährige aufgehört, sich neue Kleidungstücke zu kaufen, denn jede Mode wiederholt sich ohnehin mehrmals, und die Sachen sind gut erhalten, sagt sie.
Am Bahnhof Zoo muss sie umsteigen. Bevor sie sich erhebt, zupft sie noch einmal ihren Pagenkopf zurecht. Eine hellbraune Perücke, die ihr - trotz der Falten - fast kindliches Gesicht einrahmt. An anderen Tagen trägt sie die rote Perücke, ein flotter Kurzhaarschnitt. Ein junger Mann will sie beim Aufstehen stützen.
"Och nö. Ist nicht nötig. Geht noch. Dankeschön. Ich mache mich doch nicht älter als ich schon bin."
Schwäche will die gelernte Ballettmeisterin nicht zeigen. Sie schlängelt sich grazil, mit dem aufrechten Gang einer Tänzerin, vorbei an den anderen Fahrgästen zum Ausgang.
Wenn Hanna M. ihr Leben Revue passieren lässt, dann sieht sie sich tanzen und musizieren. Anfang der 30er Jahre tourte sie als Balletteuse mit den Hiller Girls durch ganz Europa. Später bekommt sie ein Engagement am Duisburger Theater, bis der Zweite Weltkrieg die Tanzkarriere vorerst beendet. Zu den Senioren zählte sie bereits, als die 68er auf den Straßen tobten. Bis zu ihrem 80. Lebensjahr hat sie Ballett an der Volkshochschule in Berlin unterrichtet.
Mit Klavierspielen fängt auch heute noch ein guter Tag an. Zwei Jahre vor ihrem 100. Geburtstag hat sie sich einen Wirbel im Rücken gebrochen - als sie sich umdrehen wollte im Bett. Bis dahin dachte sie, das Leben geht immer so weiter. Viele Monate musste sie liegen und das Laufen erst wieder lernen.
"Ich bin getorkelt wie betrunken. Ich wollte geradeaus gehen, das ging nicht. Wer mich nicht kennt, der hat gedacht: Die ist besoffen, die ist übriggeblieben vom Tag, vom übrigen. Das ist doch peinlich, nicht? Ich glaube, meine Knochen sind nur noch Schutt und Asche."
Sie fühlt sich alt, seitdem sie im Rücken dauerhaft Schmerzen hat und selbst ihre altbewährte Salbe versagt. Es gibt Tage, da verlässt sie das Bett nicht. Besucher klingeln dann vergeblich. An anderen Tagen überlegt sie sich, ob ein Computer und das Internet nicht etwas für sie wären. Hanna M. rappelt sich mit ihren 100 Jahren immer wieder auf.
"Sobald ich eine Hand irgendwo stützen kann geht das. Hauptsache, ich kann mich irgendwo festhalten, denn der Arm tut es noch","
sagt sie verschmitzt und steigt Stufe für Stufe die steile Treppe hinab. Einmal umsteigen in die U9 und ein Fußmarsch von zehn Minuten, dann hat sie ihr Ziel nach einer Stunde endlich erreicht.
Die Yoga-Gruppe, die den Probenraum im Seniorenclub vorher nutzt, ist bereits dabei, den Platz für das Orchester zu räumen. Die Musiker trudeln nach und nach ein.
Maria: ""Wo ist denn Detlef?"
Karl-Heinz: "Der ist krank."
Uschi: "Nur Donnerstag ist der krank. Dienstags ist er gesund. Da spielt das Trio Querbeet, da ist er gesund. Ich will nicht hetzen, au weia, ich will nicht Gift ausstreuen. Aber komisch ist das, was? Findest Du nicht auch, Karl-Heinz? Dienstags ist Detlef immer gesund, ja, ja."
Während Hanna M. die schwere Klappe des Klaviers öffnet, fängt ihre Nase an zu bluten. Eine Mitarbeiterin des Seniorenclubs will die Feuerwehr rufen, bringt dann aber doch nur gefrorenen Hackepeter in ein Handtuch gewickelt, um damit den Nacken der angeschlagenen Orchesterleiterin zu kühlen.
Mitarbeiterin des Seniorenclubs: "Ist ihnen schwindelig?"
Hanna M.: "Aber ich will noch nicht anfangen, sonst geht das wieder los."
Mitarbeiterin des Seniorenclubs: "Das beantwortet meine Frage einfach nicht. Ist Ihnen schwindelig?"
Hanna M.: "Nein, gar nicht."
Hanna M.: "Uschi, Ihr fangt an, nicht? Was Ihr wollt. Ist mir egal."
Das Orchester muss ohne die Chefin beginnen. In solchen Fällen springt Uschi M. ein. Genau wie Hanna M. ist sie seit der Gründung des Orchesters dabei. Die 77-Jährige genießt es, wenn sie endlich freie Bahn hat - nach mehr als 20 Jahren. Mit dem Akkordeon vor dem Bauch gibt sie den Takt vor, zumindest für den Moment.
Von der Flöte bis zur Gitarre ist alles vertreten. Ingo N. spielt Saxophon. Mit Anfang 60 ist er das Küken in der Gruppe. Nach einer halben Stunde tritt die Orchesterchefin wieder an. Hanna M. setzt sich an das Klavier und tauscht die randlose Sonnenbrille, die ihre Augen vor dem grellen Tageslicht schützt, gegen eine Lesebrille aus. Dann zählt sie an.
"Drei, vier."
Zwei Stunden wird geprobt. Tango, Charleston und ein bisschen Volksmusik. Im Anschluss gibt es Stullen und Kaffee. Der Kaffeeklatsch danach ist für Hanna M. mindestens genauso wichtig wie die Probe selbst. An Geburtstagen gibt es Sekt für alle. Hanna M. knabbert an ihrem Eibrot, das ihr wie immer zu groß erscheint.
Die meisten Orchestermitglieder nehmen die Probe nicht ganz so ernst. Hanna M. hingegen strebt nach Höherem. An guten Tagen hört sie jeden falschen Ton. Ihr Ziel: Ein großer Auftritt mit dem Orchester. Das weiß auch Karl-Heinz S. Der Akkordeonspieler mit den Regenbogen-Hosenträgern und der Halbglatze schätzt sie sehr.
"Für ihre 100 ist sie noch attraktiv. Lebenslustig ist sie nach wie vor. Für die Musik macht sie alles, stellt sich notfalls auf den Kopf, wenn es sein muss. Sie hat mal gesagt, dass sie Klavier spielt, bis sie vom Hocker fällt. Das ist so das, was sie jung hält und was sie aufrecht erhält."
Nach der Probe, bevor sie in die U-Bahn steigt, kauft sie sich noch ein Stück Kuchen für den Nachmittag.
Hanna M.: "Ein Schweineohr, ja?! Mit viel Zucker. Dünn und viel Zucker. Ja, das ist ein schönes Stück."
Verkäufer: "Bitte schön, die Dame."
Hanna M.: "Aber wo ich mein Portemonnaie gelassen habe, das weiß ich nicht."
Sie wühlt in ihrer Handtasche und zieht diverse Plastiktüten heraus, in die sie das Wichtigste sortiert hat. So findet sie die Sachen besser wieder, wie sie sagt. Schließlich wird sie fündig und bezahlt. Der Verkäufer reicht ihr das Wechselgeld über die Theke.
"Man freut sich, wenn man noch was wieder kriegt. Einen schönen Tag wünsche ich. Gute Geschäfte trotz der Preise."
Wenn Hanna M. nachmittags nach Hause kommt, fällt es ihr schwer, sich noch aufrecht zu halten. Sie lebt allein in einer Vier-Zimmer-Altbauwohnung in Tiergarten.
Einmal in der Woche kommt die Putzfrau, um sauber zu machen. Ihre Tochter hilft ihr mit der Wäsche, und ihr Sohn kauft für sie ein. Darauf ist sie mittlerweile angewiesen. Der Kühlschrank ist voll mit Fertiggerichten. Am liebsten isst sie jedoch Wurst oder ein gutes Stück Fleisch, was sie sich kurz anbrät.
Nur manchmal ist sie einsam. Ihre beiden jüngeren Schwestern, die ihr so wichtig waren, hat sie überlebt. Auch ihr zweiter Mann ist schon früh verstorben. Das stört sie am Altern. An einen potenziellen neuen Lebensabschnittsgefährten hat sie hohe Erwartungen.
"Er müsste sehr klug sein und müsste mir wahnsinnig imponieren mit seinem Können. Und er müsste mich trotzdem noch wahnsinnig lieben, dass er doch ohne mich gar nichts machen möchte. Der muss mich eben auch sehr mögen und reizend finden, obwohl ich doch schon so alt bin."
Um fit zu bleiben, macht sie Gymnastik - morgens und abends. Übungen, die sie vom Ballett her noch kennt. Das regelmäßige Training ist auch für ihren Rücken gut, davon ist sie überzeugt.
"Und vor, und zur Seite und langsam wieder ab, fließend..."
Im Schlafzimmer stellt sie sich neben dem Bett auf und reckt und streckt ihren 100-jährigen Körper nach allen Seiten.
"Ballettübungen, die sind die besten. Die Übungen, die mache ich. Erst ganz vorsichtig, damit sich alles wieder dehnt. Meine Beine, dass ich die wieder höher kriege. Kniebeugen, so tief es geht."
Müde legt sie sich abends in ihre elegante Schaukelliege im Musikzimmer. Manchmal gönnt sie sich ein Glas Rotwein oder ein Bier. Rechts neben ihr steht das Klavier, an das sie sich auch nachts gerne mal setzt, vor ihr der Fernseher, um sich zu informieren, was in der Welt so geschieht und auf einem kleinen Tischchen das froschgrüne Telefon mit Drehscheibe. Immer mehr überwiegen die Momente,
"da ist nur noch Schlafen schön. Und das ist ja auch traurig. Ich möchte ja nicht den Rest meines Lebens verschlafen. Ich möchte wieder so rennen können und so tanzen können, wie ich es getan habe. Und drehen, drehen, drehen."
Heinrich E.
"Ich bin 1908 in Magdeburg geboren, und wir wohnten damals gegenüber des Südfriedhofs, sodass man sehen konnte, wenn dort große Beerdigungen waren. Und ich weiß nur von einem Mal, dass ich eben da mit meinem Vater stand: Ich musste wohl drei Jahre alt gewesen sein. Da gingen lauter Jungen vorbei mit Fahnen. Da sagt mein Vater: 'Ja, Geburtstag! Der Kaiser hat heute Geburtstag!' Da habe ich das erste Mal etwas vom Kaiser gehört!"
Kaisergeburtstag! Das war ein Ereignis für den kleinen Heinrich! Noch heute kann der alte Herr das Bild des Fahnenumzuges zu Ehren Wilhelms II. aus seinem Gedächtnis so lebhaft abrufen, als läge es nur ein paar Jahre zurück - und nicht weit in der Vergangenheit vor fast 100 Jahren.
"Die Kaiserzeit war ganz interessant. Das war schon sehr schön, jaja."
Während Heinrich E. von dieser versunkenen Epoche erzählt, sitzt er aufrecht auf dem beigefarbenen Velourssessel in seinem Berliner Wohnzimmer, hebt seine rechte Hand ein wenig an und bewegt sie hin und her, als wolle er der Kaisergeburtstags-Parade den Marschrhythmus vorgeben.
Auch das Ende der Kaiserzeit ist ihm noch in Erinnerung. Da war der kleine Heinrich zehn Jahre alt und hatte gerade die Aufnahmeprüfung für das Guben-Gymnasium in Magdeburg bestanden. Weil Weltkriegs-General Paul von Hindenburg einst in Magdeburg stationiert war, wurde Hindenburgs Quartier zum Angriffsziel der Aufständischen.
"Unsere Schule war gegenüber von einem großen Gebäude, in dem auch Hindenburg eine Zeit lang war. Und da war die große Revolution, und wir schrieben gerade eine Arbeit. Da kam der Direktor an die Tür und sagte: 'Ihr geht nach Hause, keiner hält sich unterwegs auf. Eure Eltern sind teilweise schon vor der Schule, der Kaiser hat abgedankt.'"
Aber Heinrich E. war viel zu neugierig. Er wollte wissen, was da vor sich ging. An der Straßenbahnhaltestelle blieb er mit seinem Freund stehen und beobachtete, wie die Revolutionäre die Straßenbahn stürmten und Mitgliedern des Offizierkorps, die in der Bahn fuhren, die Rangabzeichen von der Uniform rissen.
"Und da sahen wir dann, wie die Soldaten darüber gekrabbelt sind und den Offizieren die Stücke abgeschnitten haben, und so weiter. Das war so interessant! Da kam der Lehrer, hat uns jedem eine Ohrfeige gegeben: 'Ab, nach Hause!'"
Dass in der Schule die Prügelstrafe eine gängige Erziehungsmethode war, erzählt der 100-Jährige mit ruhigem Gesichtsausdruck und einem kleinen Achselzucken.
"Aus der Schule kann ich eigentlich nur erzählen: Es gab etwas mit dem Stock. Ja, ja."
Das Risiko, sich eine Schelle einzufangen, habe ihn aber nicht gehindert, Unsinn zu machen, bekennt Heinrich E. und schmunzelt. Dabei setzt er sich etwas aufrechter in seinen Sessel - so dass sich der Eindruck aufdrängt, er stünde noch heute für die Klingelstreiche grade, die er einst zusammen mit seinen kleinen Freunden in der Magdeburger Kruppsiedlung ausgeheckt hat.
"Das war denn der einen Frau wohl doch zu viel: Ihr Mann hieß Franz. Und die kam dann heraus und wollte uns abfangen, und wir immer alle im Chor: 'Franz! Franz! Franz!' – 'Wer sind sie, wer sind sie? Ich will mich bei ihren Eltern beschweren über die Frechheit!' Ha, Ha! Fünf, sechs Jungs - also, wir haben allerhand Dummheiten gemacht, das stimmt schon."
Aber aus dem Jungen wird trotzdem etwas. Heinrich E. macht sein Abitur, studiert Maschinenbau und wird Ingenieur. Doch Arbeit findet er erst, als Hitlers Rüstungsprojekte die Wirtschaft ankurbeln.
"Ich war ja, als ich mein Examen gemacht hatte, auf der höheren Maschinenbauschule, mit Auszeichnung sogar, da war ich auch arbeitslos. Das ist das Schlimmste, was man haben kann, wenn man keine Arbeit hat. Dadurch waren wir alle für Hitler. Dadurch kriegte ich ja Arbeit, nicht."
Heinrich E. bekennt heute, dass er in Bezug auf das Dritte Reich erst viel später nachdenklich geworden ist.
1936 jedenfalls ist seine Freude ungebrochen, als er seinen 160-Mark-Aushilfsjob kündigen kann, um eine Stelle bei Zeiss-Ikon in Berlin anzutreten. Das Unternehmen produziert im Auftrag des Heereswaffenamtes Entfernungsmesser für Flugabwehrkanonen, und der junge Ingenieur wird Produktionskontrolleur. Nun verdient er genügend Geld, um eine Familie ernähren zu können und kann endlich die Nachbarstochter heiraten, in die er seit langem verliebt ist.
"Wir hatten uns verlobt und wollten auch mal heiraten, aber mit 160 Mark kann man ja nicht heiraten, das geht ja nicht. Und Hochzeit - das war in Magdeburg, natürlich, meine Frau war ja in Magdeburg - hatte mein Schwiegervater und meine Eltern groß ausgerichtet, also wunderbar, mit allem Drum und Dran. Das war mir sehr wichtig!"
Das silbern gerahmte Hochzeitsbild hat bis heute einen Ehrenplatz in Heinrichs Wohnung. Es hängt im Arbeitszimmer seiner Dreieinhalb-Zimmerwohnung, über dem Lehnstuhl, in dem Heinrich E. immer noch jeden Morgen seine Berliner Tageszeitung liest.
"Lesen? Natürlich. Ich lese jeden Tag meinen Tagesspiegel, also, das geht noch. Hier, die ganzen Bücher, die habe ich alle gelesen, nicht."
Das Hochzeits-Foto zeigt das frisch vermählte Paar, vor Glück strahlend, inmitten der Festgesellschaft. Die zarte Braut mit Schleier und langem weißen Kleid, daneben Heinrich E, schlank und aufrecht mit klaren, offenen Gesichtszügen. Ein Schwiegermuttertyp, genau das, was man seinerzeit wohl einen schmucken Kerl genannt hätte.
Auch im Wohnzimmer auf der Nussbaumschrankwand steht ein Bild seiner Frau, ein weiters neben einem prächtigen Strauß Seidenblüten mitten auf dem Teewagen. Heinrich E. vermisst sie. Früher hat er sie immer zu ihrem Seniorenkreis gebracht. Jetzt geht er selbst dorthin.
"Als meine Frau nun leider vor zehn Jahren die Augen zugemacht hat, da bin ich mal hingegangen. Als einziger Mann zwischen alten Damen. die alle so über 80 waren, nicht. Und habe mich da mit hingesetzt. Man kriegt immer Kaffe und Kuchen und eine Dame, die mit meiner Frau befreundet war, die hält für mich den Platz frei.
Und dadurch kommen wird dann und wann mal zusammen, aber sonst haben wir keine engere Verbindung. Also, ich habe mit niemandem eine enge Verbindung, sodass ich sagen könnte, das ist diejenige für mich. Das mache ich auch nicht, will es auch gar nicht mehr haben."
Doch man kann sich durchaus vorstellen, dass die alten Damen dem alten Herrn den Platz freihalten. Denn der 'schmucke Kerl' von einst ist auch im 100-Jährigen noch zu erkennen. Heinrich E. hat volles weißes Haar, hält sich aufrecht, und er ist eine gepflegte Erscheinung. Obwohl ihm das zunehmend schwerfällt, wie er zugibt.
"Mit der Anzieherei, das ist immer so eine Sache. (Lacht.) Vor 10 Uhr bin ich hier nicht fähig wegzugehen. Schaffe ich nicht."
Viel Zeit braucht er in der Früh für die Morgentoilette, das Ankleiden und das Frühstück. Aber Heinrich E. managt all dies ohne fremde Hilfe.
"Alle, alles alleine. Ich stehe morgens um 6 Uhr auf. Genau auf 5 Uhr 47 stehe ich auf. Dann gehe ich raus, gehe in die Küche und setze meinen Kaffee an. Und Toilette natürlich, und so weiter, das ist ja erst mal das Wichtigste. Und jeden Morgen eine Dickmilch: Da kommen Kleie und Weizenkeime und die Tagesmenge von Vitaminen rein, nicht, und so weiter. Wird umgerührt, und das esse ich dann so, wenn ich mich angezogen habe."
Der 100-Jährige hat zwei Söhne und eine Tochter, die ihn regelmäßig besuchen kommen. Dass die Kinder seinen Wunsch nach Selbständigkeit nachvollziehen können, erfüllt den alten Mann mit Freude.
"Wir haben uns gut verstanden, das war alles eine gute Familie. Also, das ist in Ordnung."
Nur irgendwann, meint der 100-Jährige mit einem kleinen Seufzen, habe er eingesehen, dass er den Hausputz nicht mehr allein erledigen kann. Deswegen kommt nun einmal die Woche eine Putzfrau - und zwar eine, die er gerne mag. Die hat nichts dagegen, wenn er ihr unbedingt beim Betten-Beziehen helfen will, die kann zuhören, wenn er von Johannes Heesters schwärmt, und obendrein kann sie auch noch putzen.
"Die macht nun alle Woche einmal hier richtig sauber. Aber da muss ich sagen: Das ist nun wohl einmalig, wie die das hier macht. Also, da bin ich schon sehr zufrieden."
Manchmal hilft sie ihm auch beim Einkaufen. Aber in aller Regel erledigt er auch das alleine. Er darf nur nicht vergessen, sein Hörgerät einzuschalten. Es befriedigt ihn, dass er es schafft, die drei Treppen von seiner Wohnung hinunter zu steigen, dann den Weg zum Supermarkt in der Nachbarschaft bewältigt, seinen kleinen Einkauf erledigt, und mit dem Einkaufstrolley wieder die drei Treppen hoch zu seiner Wohnung bezwingt. Jeden Tag.
"Ich will den Wagen nicht zu schwer machen. Ich muss ja damit auch die drei Treppen hoch kommen, nicht. Ich habe extra große Räder, damit ich die Treppe immer so rüber ziehen kann. Und nachmittags gehe ich auch oft zum Reformhaus, denn viele Sachen kriege ich nur im Reformhaus richtig."
Herr E. vereinbart seine Termine für den Arzt, die Fußpflege und den Friseur selbst. Er bestellt sich sein Mittagessen bei einem Tiefkühlkostunternehmen und macht es sich eigenhändig warm. Er spült sein Geschirr alleine, und es würde ihm nicht einfallen, das tägliche kleine Aufräumen zu unterlassen, bloß weil einmal die Woche seine Putzfrau kommt.
Es ist ein Alltag, der ihn anstrengt. Aber wenn Heinrich E. davon erzählt, nimmt er die Schultern zurück, hebt sein Kinn, und die blauen Augen hinter den dicken Brillengläsern blitzen kurz auf.
Zwar bekümmert es ihn, dass all seine Freunde inzwischen gestorben sind. Und auch dass er im Seniorenkreis der Firma, in der er nach dem Krieg dreißig Jahre lang die Abteilung für Sicherheitsschlösser geleitet hat, niemanden mehr kennt, betrübt ihn. Und er gibt zu, dass er sich inzwischen ab und an hinlegen muss. Aber bis heute ist er der Souverän seines Lebens geblieben. Es ist ein würdiges Leben. Und das erfüllt den 100-Jährigen mit Stolz.