Die 100 Fragen der Deutschen

Von Harald Prokosch |
Stadt, Land, Fluss für alle, die Deutsche werden wollen. Auf diesem Niveau sind wir inzwischen angelangt bei einer so wichtigen Debatte um die Frage, wer Deutscher werden kann, und darf. Beschämend und lächerlich, was da auf der politischen Bühne gegeben wird.
Dank einer groß aufgezogenen Werbekampagne haben wir in den vergangenen Monaten gelernt: Du bist Albert Einstein - Du bist Ludwig Erhard – Du bist Deutschland.
Schön dass wir wenigstens das wissen - wenn wir schon nicht wissen, was eigentlich Deutsch sein heißt.
Wüssten wir es, dann wüssten wir doch wahrscheinlich auch, was wir von unseren ausländischen Mitbürgern verlangen können und dürfen, wenn sie Deutsche werden wollen.

Aber so tanzen die politischen Haupt- und Nebendarsteller wieder mallustig über die Bühne und schwenken lustig ihre originellen Fragebogen, bei denen man sich stellenweise wirklich fragen muss: Wer hat sich das eigentlich ausgedacht?

Nehmen wir den hessischen Einbürgerungstest, der in den vergangenen Tagen für viel Furore gesorgt hat. Sein Initiator, Hessens Innenminister Bouffier, ist wohl der Einzige, den die heftigen Reaktionen auf seinen Vorschlag kaum überraschen. Was ihn überrascht ist lediglich die Tatsache, dass es so lange gedauert hat, bis der Knall zu hören war.

So weit wir wissen, hat sich Volker Bouffier nicht als Kandidat bei "Wer wird Millionär" beworben. Braucht er auch nicht, könnte er aber, obwohl er Deutscher ist. Bei der Bewerbung um die Millionenraterei sind nämlich Deutsche und Nicht-Deutsche – wie das korrekt heißt – gleichermaßen zugelassen. Wahrscheinlich waren Bouffiers Vorfahren auch Nicht-Deutsche, aber das hat sich mit den Jahren verloren. Und so ist aus ihm trotzdem was Anständiges geworden.

Doch zurück zum Fragebogen, bei dem – aufgemerkt! – selbst Literaturpapst Reich-Ranicki zweifelt, ob er denn alle Antworten wüsste. Als er vier Jahre nach dem Wunder von Bern – Frage 90 – aus Polen nach Deutschland kam, hatte er von besagtem Wunder noch nichts gehört. Damals wäre er glatt durchgefallen. Ein Mann, der in 40 Jahren angeblich 80.000 Bücher rezensiert hat – durchgefallen! Können Sie sich das vorstellen?

Ob ihm die Frage nach dem Gründungsdatum der deutschen Streitkräfte - Frage 65 – heute so flott über die Lippen käme, wage ich mal zu bezweifeln. Obwohl man sich den 5.5.1955 eigentlich gut merken kann. Selbst wenn man, wie Reich-Ranicki, damals noch in Polen lebte.

Schwamm drüber – schließlich sollen hier nicht 85-jährige Literaturgreise examiniert werden, sondern – ja, wer eigentlich? Einbürgerungswillige Ausländer. Und die müssen heute schon bestimmte Voraussetzungen erfüllen – Frage 7 – nämlich acht Jahre Aufenthalt in Deutschland ohne schwer wiegende Straftaten und mit ausreichenden Deutschkenntnissen.
Außerdem muss, wer Deutscher werden will, auch heute schon ein Bekenntnis zur freiheitlich-demokratischen Grundordnung unterschreiben. Doch die Frage soll erlaubt sein: Hilft's der Integration, wenn man weiß, wer den Cholera-Erreger entdeckt hat?

Der Streit um die Einbürgerung zeigt vor allem eines: Wir wissen selbst nicht wirklich, was Deutscher werden ausmacht.
Richtig und nachvollziehbar ist, dass uns nicht egal sein soll, wer und aus welchen Motiven jemand deutscher Staatsbürger werden will. Immerhin wissen wir heute: Integration geht nicht ohne Beherrschung der Sprache, und Integration funktioniert auch dann nicht, wenn der Einbürgerungswillige weder mit der Kultur noch mit der Werteordnung seines Gastlandes etwas anfangen kann.
Dass der Staat hier im Interesse Aller ein berechtigtes Anliegen hat, indem er einen Nachweis für wirkliche Integrationswilligkeit fordert, halte ich für legitim. Wer da von Abschreckungspolitik spricht, schießt übers Ziel hinaus.

Ob man aber wirklich nur dann Deutscher werden kann, wenn man – Frage 84 – weiß, welches Motiv Caspar David Friedrich auf Rügen gemalt hat? Eher nicht.

Einbürgerung – ein schwieriges Thema, das ein sachliches und vorurteilsfreies Herangehen verlangt. Doch was erleben wir? Einen politischen Schaukampf kurz vor Landtagswahlen, bei dem Antworten auf die wirklichen Fragen gar nicht gegeben werden.

Selbst für ihre Liberalität bekannte Länder wie die Niederlande haben erkannt: Wer verhindern will, dass sich die negativen Begleiterscheinungen von ungezügelter Einwanderung fortsetzen und verschärfen, muss die Bedingungen ändern, unter denen Einbürgerung stattfinden kann.

Die Folge sind klare Regeln: ein ausführliches Examen, bei dem Sprach- und Landeskenntnisse nachgewiesen werden müssen. Verblüffend einfach.
Das hessische Quiz über Land und Leute, an dem so mancher bildungsferner Urgermane scheitern würde, taugt dafür jedenfalls nach meiner Überzeugung nicht. Eine Erkenntnis, die sich nach dem ersten Pulverdampf inzwischen in immer mehr Politikerhirnen durchzusetzen scheint.

Hoffentlich finden die Innenminister der Länder im Mai bei ihrem nächsten Treffen Wege für ein bundesweit einheitliches Verfahren. Sollte das nicht gelingen, wäre es einmal mehr ein trauriger Beleg für deutsche Kleinstaaterei, befeuert durch parteipolitische Interessen.
Die 100 Fragen der Deutschen – sie verlangen nach klaren Antworten der Politik.

Harald Prokosch, Jahrgang 1959, Redakteur und Fernsehmoderator mit Stationen Stuttgarter Zeitung, Süddeutscher Rundfunk, SAT 1, ntv, Hauptabteilungsleiter Regionales SFB, jetzt Leiter Presse- und Öffentlichkeitsarbeit Siemens Deutschland, Berlin