Dichtung als Weltwahrnehmung
Die Gedichte in "Neue Lieder" zeigen den spanischen Dichter Antonio Machado (1875-1939) mit ihren Landschafts- und Naturschilderungen auf der Höhe seines Könnens. In der Sammlung "Aus einem apokryphen Cancionero", die neben Gedichten essayistische Texte und Dialoge enthält, hat er sich Dichter als Kunstfiguren erfunden und ihnen Werke verfasst.
Viel von seinem eigenen poetischen Credo ist in den Dreizeilern enthalten, die Antonio Machado dem mexikanischen Dichter Francisco de Icaza zueignete:
Seinem alten Volke
verdankt er das knappe Wort,
die tiefe Sentenz.
Wie der Ölbaumhain
trägt er reiche Frucht
und gibt wenig Schatten.
In der Klarheit seines Verses
da wird gesungen und nachgedacht
ohne Schrei und ohne Stirnrunzeln.
Nicht wenigen Kritikern galten die beiden letzten Gedichtsammlungen, die Antonio Machado veröffentlichte, als Belege für sein poetisches Versiegen. Daran stimmt nur, dass sie die Wirkung der "Soledades" (Einsamkeiten) von 1903/07 und "Campos de Castilla" (Kastilische Landschaften) von 1912 nicht erreichten. Und richtig ist auch, dass die quantitative lyrische "Produktion" des Dichters einen geringeren Umfang einnahm. Daraus zu schließen, Machado habe seine literarischen Möglichkeiten ausgeschöpft oder gar verbraucht, wäre dennoch verfehlt.
Es sind vor allem die zahlreichen Landschafts- und Naturschilderungen aus den "Neuen Liedern" (1917 – 1930), die den Dichter auf der Höhe seines Könnens zeigen: wuchtige, teils düstere Bilder von kargen und schroffen Landschaften, in denen sich die Schauspiele der Natur – von Wettergebilden bis zu Düften – wie selbst inszenieren.
Niemand wählt seine Liebe. Schicksalspflicht
trug eines Tags mich zu den grauen Kahlschlaghängen,
wo die Schneeflocken, kalt fallend und dicht,
die Schatten toter Steineichen verdrängen.
Aber auch das Nachdenken darüber, wie die Lyrik "funktioniert", drängt ins Gedicht, und zwar zunehmend. Die reflexive Auseinandersetzung mit den Grundlagen und Voraussetzungen des eigenen Schaffens wird zum Thema der Dichtung selbst.
Lied und Erzählung ist die Poesie.
Man singt eine lebendige Geschichte,
indem man erzählt deren Melodie.
Ausgehend von solchen Gedanken, wendet sich Machado den Strukturen und der Wirkungsweise von Volksliedern zu. Nicht um sie zu imitieren, sondern um so etwas wie ihre Mechanismen zu studieren. Ausgangspunkt seiner Überlegungen ist dabei seine Skepsis gegenüber der zeitgenössischen Entwicklung der Dichtung – hin zu einem immer individuelleren Ausdruck eines immer individuelleren Gefühls, nach Machado ein Ausfluss des "bürgerlichen Individualismus, der auf den Privatbesitz gegründet ist". Er warnt vor der Selbstisolation und letztlich –Abschaffung der Dichtung: "Wenn das Gefühl seinen Radius verkürzt und über das isolierte, abgegrenzte, für den Nächsten versperrte Ich nicht hinausreicht, so verarmt es und singt am Ende im Fistelton ..."
Um solche und sehr viel weiterreichende Fragen zu diskutieren, hat Machado nicht einfach Essays geschrieben. Er hat sich Dichter erfunden und ihnen Werke verfasst. Diese "apokryphen" Figuren (und ihre Werke) sind dabei nicht als Pseudonyme Machados zu verstehen, sondern als Kunstfiguren und ihre Hervorbringungen, die Machados dialogisierendes Denken (und Dichten) tragen. Die bekanntesten von ihnen, Abel Martín und dessen Schüler Juan de Mairena, sind die Hauptgestalten (und angeblichen Autoren) der zwischen 1924 und 1936 verstreut erschienenen, 1936 in ihrer letztgültigen Fassung vereint publizierten Sammlung "Aus einem apokryphen Cancionero" (Liedsammlung), der neben Gedichten essayistische Texte und Dialoge enthält.
Die Näherung an literarische Fragen wird hier ergänzt durch einen starken philosophierenden Zug. Die Dichtung, begriffen als ein Reflex auf Weltwahrnehmung, führt bei Machado – wie automatisch – zum begleitenden Durchdenken dieser Weltwahrnehmung. Man wird ihn deswegen nicht nachträglich zum Epoche machenden Philosophen erklären müssen, als belesener und origineller Denker aber erscheint er allemal in diesen "apokryphen" Texten.
Rezensiert von Gregor Ziolkowski
Antonio Machado: Neue Lieder. Aus einem apokryphen Cancionero
Gedichte und Prosa. Spanisch und Deutsch.
Herausgegeben, aus dem Spanischen und mit einem Nachwort von Fritz Vogelgsang.
Ammann Verlag, Zürich 2007
375 Seiten, 34,90 Euro
Seinem alten Volke
verdankt er das knappe Wort,
die tiefe Sentenz.
Wie der Ölbaumhain
trägt er reiche Frucht
und gibt wenig Schatten.
In der Klarheit seines Verses
da wird gesungen und nachgedacht
ohne Schrei und ohne Stirnrunzeln.
Nicht wenigen Kritikern galten die beiden letzten Gedichtsammlungen, die Antonio Machado veröffentlichte, als Belege für sein poetisches Versiegen. Daran stimmt nur, dass sie die Wirkung der "Soledades" (Einsamkeiten) von 1903/07 und "Campos de Castilla" (Kastilische Landschaften) von 1912 nicht erreichten. Und richtig ist auch, dass die quantitative lyrische "Produktion" des Dichters einen geringeren Umfang einnahm. Daraus zu schließen, Machado habe seine literarischen Möglichkeiten ausgeschöpft oder gar verbraucht, wäre dennoch verfehlt.
Es sind vor allem die zahlreichen Landschafts- und Naturschilderungen aus den "Neuen Liedern" (1917 – 1930), die den Dichter auf der Höhe seines Könnens zeigen: wuchtige, teils düstere Bilder von kargen und schroffen Landschaften, in denen sich die Schauspiele der Natur – von Wettergebilden bis zu Düften – wie selbst inszenieren.
Niemand wählt seine Liebe. Schicksalspflicht
trug eines Tags mich zu den grauen Kahlschlaghängen,
wo die Schneeflocken, kalt fallend und dicht,
die Schatten toter Steineichen verdrängen.
Aber auch das Nachdenken darüber, wie die Lyrik "funktioniert", drängt ins Gedicht, und zwar zunehmend. Die reflexive Auseinandersetzung mit den Grundlagen und Voraussetzungen des eigenen Schaffens wird zum Thema der Dichtung selbst.
Lied und Erzählung ist die Poesie.
Man singt eine lebendige Geschichte,
indem man erzählt deren Melodie.
Ausgehend von solchen Gedanken, wendet sich Machado den Strukturen und der Wirkungsweise von Volksliedern zu. Nicht um sie zu imitieren, sondern um so etwas wie ihre Mechanismen zu studieren. Ausgangspunkt seiner Überlegungen ist dabei seine Skepsis gegenüber der zeitgenössischen Entwicklung der Dichtung – hin zu einem immer individuelleren Ausdruck eines immer individuelleren Gefühls, nach Machado ein Ausfluss des "bürgerlichen Individualismus, der auf den Privatbesitz gegründet ist". Er warnt vor der Selbstisolation und letztlich –Abschaffung der Dichtung: "Wenn das Gefühl seinen Radius verkürzt und über das isolierte, abgegrenzte, für den Nächsten versperrte Ich nicht hinausreicht, so verarmt es und singt am Ende im Fistelton ..."
Um solche und sehr viel weiterreichende Fragen zu diskutieren, hat Machado nicht einfach Essays geschrieben. Er hat sich Dichter erfunden und ihnen Werke verfasst. Diese "apokryphen" Figuren (und ihre Werke) sind dabei nicht als Pseudonyme Machados zu verstehen, sondern als Kunstfiguren und ihre Hervorbringungen, die Machados dialogisierendes Denken (und Dichten) tragen. Die bekanntesten von ihnen, Abel Martín und dessen Schüler Juan de Mairena, sind die Hauptgestalten (und angeblichen Autoren) der zwischen 1924 und 1936 verstreut erschienenen, 1936 in ihrer letztgültigen Fassung vereint publizierten Sammlung "Aus einem apokryphen Cancionero" (Liedsammlung), der neben Gedichten essayistische Texte und Dialoge enthält.
Die Näherung an literarische Fragen wird hier ergänzt durch einen starken philosophierenden Zug. Die Dichtung, begriffen als ein Reflex auf Weltwahrnehmung, führt bei Machado – wie automatisch – zum begleitenden Durchdenken dieser Weltwahrnehmung. Man wird ihn deswegen nicht nachträglich zum Epoche machenden Philosophen erklären müssen, als belesener und origineller Denker aber erscheint er allemal in diesen "apokryphen" Texten.
Rezensiert von Gregor Ziolkowski
Antonio Machado: Neue Lieder. Aus einem apokryphen Cancionero
Gedichte und Prosa. Spanisch und Deutsch.
Herausgegeben, aus dem Spanischen und mit einem Nachwort von Fritz Vogelgsang.
Ammann Verlag, Zürich 2007
375 Seiten, 34,90 Euro