Dialog auf Augenhöhe

Von Martin Sander · 01.04.2009
Am 6. Februar 1989 begann in Polen das, was lange als unmöglich galt: Vertreter des kommunistischen Establishments und Delegierte der Untergrundgewerkschaft "Solidarność" verhandelten auf Augenhöhe über die künftige Teilung der Macht in ihrem Staat. Sie saßen an einem für 56 Teilnehmer aus Holz und Sperrholz gezimmerten Runden Tisch im heutigen Warschauer Präsidentenpalast und rangen sich zu freien Wahlen durch. Als die Gespräche am 5. April vor 20 Jahren endeten, unterzeichnete man eine mehrere Tausend Seiten umfassende Vereinbarung über die Zukunft Polens. Schon wenige Monate danach hielt man sich kaum noch an die Buchstaben dieser Vereinbarung. Doch die politische Wende war unumkehrbar und die Idee vom Runden Tisch machte ihre Runde. Bis heute ist sie aus dem gesellschaftlichen Leben in aller Herren Länder nicht mehr wegzudenken.
Winfried Lucassen: "Die Wirkung fängt einfach schon da an, zu den Zeiten, als es den Tisch oder als es das Möbel überhaupt noch nicht gab. Eigentlich zu dem Zeitpunkt, als die Menschen vielleicht wärmend ums Feuer gesessen haben und ihre Pläne geschmiedet haben, bis man allmählich sich vom Boden erhoben hat und Tische genutzt hatte, um miteinander auf gemütliche Art und Weise zu kommunizieren."

Kaum ein Gegenstand setzt das Wesen des Menschen, seine Sehnsüchte, Möglichkeiten und Grenzen so treffend ins Bild wie der Runde Tisch. Diese Erkenntnis hat die Künstler Winfried Lucassen und Holger Hagedorn zu einer Installation inspiriert. "La Table Ronde" besteht aus ungehobelten, sternförmig angeordneten Brettern. In der Mitte ist eine Acrylglasschale eingelassen, durch die Feuerschein dringt; um den Tisch reihen sich dreizehn Stelen:

Winfried Lucassen: "Es ist die Idee, der Archetyp des Kreises, dass eigentlich noch viel mehr dahinter steckt als jetzt das Sichtbare. Er könnte natürlich genauso sechseckig oder achteckig sein, das spielt eigentlich keine Rolle. Aber dieser idealtypische Kreis, an dem alle gleich sitzen und auch eine gleiche Stellung haben, das wird halt besonders an diesem Table Ronde ausgedrückt und nicht in einem eckigen Tisch."

Der Runde Tisch hat Konjunktur. Über 400.000 Treffer liefert die Suchmaschine "Google", und beileibe nicht alle sind der Möbelindustrie zuzuordnen. Es geht vielmehr um den Mythos einer symmetrischen Kommunikation und um eine - wie Sprachforscher behaupten - tote Metapher, die den eigentlichen Gegenstand vergessen lässt. Nur noch der übertragene Sinn spielt demnach mit, wenn wir uns für den Runden Tisch einer KFW-Mittelstandsbank interessieren, wenn wir vom Runden Tisch für Gewässerschutz und Kaliproduktion erfahren oder über ein Rheinland-Pfälzisches Interventionsprojekt gegen Gewalt in engen sozialen Beziehungen staunen, für das gleich 22 regionale Runde Tische vorgesehen sind.

Winfried Lucassen: "Ja, es ist ein ganz schön inflationärer Gebrauch, fast so wie Etikettenschwindel nach dem Motto: Wir setzen uns alle gemeinsam an den Runden Tisch, aber dann wird vielleicht über der Tischplatte geredet und unter der Tischplatte getreten. Aber man nimmt sich dann trotzdem einen Runden Tisch, um sich den Anschein der Egalität zu geben."

Czesław Kiszczak: "Meine Damen und Herren, ich begrüße in aller Form die Teilnehmer des Runden Tisches."

Am 6. Februar 1989 eröffnet General Czesław Kiszczak, der Innenminister der Volksrepublik Polen, einen achtwöchigen Verhandlungsmarathon. In seinem Verlauf schließen die kommunistischen Machthaber einen historischen Kompromiss mit der seit der Verhängung des Kriegsrechts 1981 in den Untergrund verbannten Gewerkschaftsopposition "Solidarność". Damit leitet Polen für die Länder des Warschauer Pakts die Wende zu Demokratie und staatlicher Souveränität ein - und entdeckt ein Symbol für den friedlichen Umbruch: den Runden Tisch.

Czesław Kiszczak: "Ich danke Ihnen, dass Sie zu diesem Treffen erschienen sind, dass Sie bereit sind, die Arbeit gemeinsam in Angriff zu nehmen. Das Gefühl der Verantwortung für die Zukunft unseres Vaterlands hat uns hierher geführt und die Überzeugung, dass unser Land vor einer großen historischen Chance steht. Aufmerksam beobachtet uns auch die internationale Gemeinschaft. Denn das, was in Polen vor sich geht, ist nicht ohne Belang für Europa und die Welt."

Wojciech Domosławski: "Wir befinden uns direkt beim Runden Tisch, hier in diese Halle kommen immer wieder die Besuchergruppen."

Der Historiker Wojciech Domosławski führt durch das Palais an der Warschauer Prachtstraße Krakowskie Przedmiejście, in dem heute der polnische Staatspräsident amtiert.

Der Mitte des 17. Jahrhunderts im Stil eines römischen Palazzo errichtete Bau hat schon manchen Zwecken gedient: Statthalter des russischen Zaren haben hier residiert, Ministerräte getagt. Im Kolumnensaal des Obergeschosses feierte Frederic Chopin im Alter von acht Jahren sein Debüt als Klaviervirtuose. In diesem Saal stand am 6. Februar 1989 der Runde Tisch, eine erst wenige Wochen zuvor in Auftrag gegebene Spezialanfertigung aus der renommierten Kunstmöbelfabrik Henryków bei Warschau. Vierzehn Einzelteile ergeben zusammengefügt einen Durchmesser von fast neun Metern. In der Mitte, unter dem prächtigen Kristallleuchter, bleibt ein großer leerer Kreis.

Wojciech Domosławski: "Die einzige handwerkliche Schwierigkeit bestand darin, die Rundung genau hinzubekommen. Ansonsten, wie gesagt, ein einfaches Möbel, die Oberfläche aus dunkler Eiche, aber innen ist wahrscheinlich Spanplatte, so wie man heute eben Möbel macht, man nimmt schließlich kein Massivholz mehr. Darunter sehen Sie ein Fach, in das man gegebenenfalls Unterlagen stecken konnte. Wenn zuviel davon auf dem Tisch lag, konnte man sie dort unterbringen."

Der Runde Tisch soll die Volksrepublik Polen im Winter 1989 aus einem politischen Patt befreien - einem Patt zwischen den vom Unwillen der Bevölkerung zermürbten Machthabern und den ebenfalls nicht allzu erfolgreichen Rebellen der verbotenen "Solidarność". Vor allem soll der Runde Tisch das Land aus einer wirtschaftlichen Dauermisere mit dramatischen Versorgungsengpässen herausführen.

Lech Wałęsa: ""Wir beginnen unsere Beratungen im Licht der Scheinwerfer, doch vor den Fenstern herrscht Trübsal und Angst vor der Armut. Wir sprechen feierliche Worte, aber Polen braucht Fakten, braucht mutige Entscheidungen und kluge, energische Schritte."

Lech Wałęsa, Friedensnobelpreisträger und Chef der Untergrundgewerkschaft, antwortet Innenminister General Czesław Kiszczak.

Lech Wałęsa: "Wir wissen, dass unser Land vor dem Ruin steht. Aber es waren keine Gartenzwerge, die es ruiniert haben, sondern das System der Macht, welche die Bürger entrechtet und die Früchte ihrer Arbeit vergeudet hat."

58 Personen, darunter nur zwei Frauen, nehmen Platz am offiziellen Runden Tisch. Dazu gibt es so genannte Untertische, Arbeitsgruppen, und es gibt Treffen in einer Villa des Innenministeriums im Warschauer Vorort Magdalenka. Die Besetzung ist unterschiedlich. Doch stets bilden die Vertreter von Regierung und Opposition zwei etwa gleich starke Lager. Man misstraut sich - zumindest zu Beginn. Es kommt mehrfach zum Eklat. Ein Abbruch der Gespräche droht. Zwar sind die Kommunisten prinzipiell bereit, Macht abzugeben, jedoch nur so viel, wie unbedingt nötig. Die Vertreter von "Solidarność” fordern nicht nur die Wiederzulassung ihrer Gewerkschaft. Sie streben auch nach einer neuen Gesellschaftsordnung.

Lech Wałęsa: "Es gibt nur eine Richtung. Sie muss uns zu einem demokratischen System führen, in einen Rechtsstaat, zur Volkssouveränität, zur bürgerlichen Freiheit."

Wojciech Domosławski: "Am Runden Tisch geht es doch anknüpfend an die Ritter um das Recht von Gleichen unter Gleichen. Alle, die am Runden Tisch sitzen, haben das gleiche Recht, das Wort zu ergreifen; allerdings gibt es immer Anführer; unser Anführer war Lech Wałęsa, und der Anführer der Regierungsseite war Herr Kiszczak. Die Anführer - das ist sogar in demokratischen Systemen so - sind immer noch etwas gleicher als Gleiche unter Gleichen."

Der Runde Tisch ist eine polnische Erfolgsgeschichte, an der Lech Wałęsa und Czesław Kiszczak entscheidenden Anteil haben. Dieser Tisch führte das Land in die Demokratie, die Nato, die Europäische Union, beseitigte Grenzen und bescherte dem Land einen bislang nicht gekannten Wohlstand. Einerseits. Andererseits ist die Kluft zwischen Arm und Reich zwei Jahrzehnte danach so tief wie selten zuvor. Ungleichheit und Ungerechtigkeit, glauben manche Polen, seien nicht allein das Merkmal eines entfesselten Kapitalismus. Sie hängen auch damit zusammen, was 1989 am Runden Tisch vereinbart wurde.

Einer von denen, die solches Misstrauen nähren, ist Jerzy Urban. Im Kommunismus der Jaruzelski-Ära war er auf der Höhe seiner politischen Erfolge, versah das Amt eines Regierungssprechers. Heute gibt er die Zeitschrift "Nie" heraus. Dank populärer Gesellschaftskritik, skurrilem Humor und ausgeprägtem Sinn für Obszönes hat ihm "Nie" - auf deutsch "Nein" - ein Vermögen eingebracht.

Urbans Redaktion ist in einer alten Villa im Warschauer Stadtteil Mokotów untergebracht. Vor der Haustür glänzt eine englische Luxuslimousine. Jerzy Urban, ein untersetzter Kahlkopf Mitte Siebzig mit besten Umgangsformen, zündet sich eine Gitanes nach der anderen an und erzählt, wie alles anfing.

"Ich kann mich nicht daran erinnern, wann zum ersten Mal der Ausdruck Runder Tisch fiel. Innerhalb der Mannschaft von Jaruzelski wurde er nicht benutzt. Ich glaube, er wurde später von Kiszczak geprägt, für den öffentlichen Gebrauch. So ein Möbel kam uns damals gar nicht in den Sinn. Den Anfang dieser Art des Denkens würde ich auf 1986 datieren. Damals war ich einer der Projektanten einer Amnestie für politische Gefangene, es ging um elf Leute. Diese Amnestie unterschied sich von den vorhergehenden dadurch, dass wir grundsätzlich vorhatten, Schluss zu machen mit der Verhaftung von Menschen für politische Aktivitäten. Das heißt, wenn wir diese elf noch festgehaltenen Leute freilassen, dann wird es nicht mehr so sein, dass man ihnen sagt: Wenn ihr wieder anfangt, nicht wahr, Dinge zu tun, die wir für rechtswidrig halten, dann werden wir euch wieder festnehmen. Daraufhin ging die Debatte dahin, dass wenn wir sie nicht mehr verhaften, die Machthaber der Solidarność zusammenkommen und Fakten schaffen werden, ob wir es wollen oder nicht. In dieser Denkphase befanden wir uns 1986 und sahen noch keine Lösung."

In den achtziger Jahren gab Jerzy Urban den lautstarken Parteigänger des Regimes. "Jaruzelskis Hupe" hieß er im Volksmund. Wegen seiner oft mit Zynismus gewürzten Presserklärungen zog er den Hass des Volkes auf sich. Sanktionen des Westens fürchte die polnische Regierung nicht, erklärte er, denn die Regierung habe immer etwas zu essen.

Gleichwohl gehörte Urban zu denen, die bereits Mitte der achtziger Jahre nach Gemeinsamkeiten zwischen Regierung und Opposition Ausschau hielten. Solche Gemeinsamkeiten gab es durchaus. Weder die kommunistischen Machthaber noch die Untergrundoppositionellen waren zu diesem Zeitpunkt prinzipiell gegen alle Staatswirtschaft. Beide vereinte zum Beispiel der pragmatische Wunsch nach einer besseren Versorgung der Bevölkerung mit Grundnahrungsmitteln und Konsumgütern.

Jerzy Urban: "Es war eher von einer Art Staatskapitalismus die Rede. Das heißt, alle waren der Meinung, auch die Opposition, dass man das Staatseigentum an den Banken und großen Wirtschaftsorganismen beibehalten, aber mehr Privateigentum zulassen sollte. Aber diese halb marktwirtschaftlichen Reformen griffen nicht. Und wir spürten, dass wir vor einer Wand standen, dass diese halbe Marktwirtschaft Unsinn war. Was weiß ich, es fehlt Getreide, dann heben wir eben den staatlichen Einkaufspreis für Getreide an. Daraufhin mangelt es an Fleisch, denn die Bauern verkaufen Getreide, statt Schweine zu züchten. Na, dann erhöhen wir eben den Preis für den Ankauf von Schweinen. So drehten wir uns um den eigenen Schwanz."

Mirosław Piotrowski: "1985 beginnt die Perestrojka und damals entwirft man in der Sowjetunion einen Plan für die Länder Osteuropas."

Mirosław Piotrowski ist Professor für neuere Geschichte an der Katholischen Universität Lublin und sitzt als Abgeordneter der Liga für die Polnische Familie im Europäischen Parlament. Seine Geschichte über die Vorbereitung des Runden Tisches klingt ganz anders als die von Jerzy Urban. Nicht Jaruzelski, Kiszczak oder gar Urban hätten den politischen Umbruch in Polen eingeleitet, sondern ausschließlich der Kreml.

Mirosław Piotrowski: "Das hat Herr Schebarschin enthüllt, seinerzeit Chef der Auslandsabteilung des KGB. Er bestätigt, dass 1985-86 innerhalb des KGB ein Plan für aktive Maßnahmen erarbeitet wurde, die den Ostblockstaaten einen kontrollierten Umbruch ermöglichen sollten. Es erging ein klares Signal an die politischen Führer dieser Staaten, sie sollten diesen Umbruch organisieren. Wichtig dabei ist, dass die Details dabei den örtlichen Parteikadern überlassen wurden.

Und so hat in Polen das Tandem der Generäle Kiszczak und Jaruzelski auf dieses Moskauer Signal sehr hellhörig reagiert. Sie spürten die Gefahr, während andere politische Führer im sowjetischen Lager sich gegen die neuen Ideen sträubten. Dafür mussten sie allerdings einen gepfefferten Preis zahlen: Erich Honecker zum Beispiel, der sich vom Lauf der Dinge überrollen ließ, musste nach Chile fliehen - zu seiner Tochter. Oder der Führer des rumänischen Volkes, Nicolai Ceauşescu, den seine Landsleute zusammen mit seiner Ehefrau aufgriffen und nach Verlesen eines Urteils von einem zerknitterten Blatt Papier ohne viel Aufhebens erschossen. Genauso hätten die politischen Führer Polens enden können. Aber sie hatten sich sehr gut vorbereitet."

Mirosław Piotrowski gehört zu jener polnischen Rechten, die den Runden Tisch als eine Art Verrat an der polnischen Nation behandelt. Der Runde Tisch verkörpert für sie keinen wirklichen Aufbruch in die Demokratie, sondern eine Verschwörung kommunistischer Führer und erpressbarer Oppositioneller, die sich zusammengesetzt hätten, um die Macht unter sich aufzuteilen. Was besonders schwer wiegt: Dieser Pakt, sagen Polens Nationalkonservative, gelte bis auf den heutigen Tag - und das vor allem zum Vorteil der früheren kommunistischen Nomenklatur.

Mirosław Piotrowski: "Ihr Plan bestand aus zwei Elementen. Erstens: Die Macht wird mit der Opposition geteilt, man überträgt ihr einen Teil der Verantwortung. Da man jedoch damit rechnen musste, dass die Betonfraktion der Partei dagegen Widerspruch einlegen würde, beschloss man, ihr eine weiche Landung zu garantieren. Man versetzte sie in die Wirtschaft. Sie bekamen die Kontrolle über das Waffengeschäft, das sich nun nicht mehr im Rahmen von Staatsbetrieben abspielte, sie verfügten über den Handel mit den freien Devisen. Einige Tage vor Beginn der Gespräche am Runden Tisch war dieses Szenario bereits festgelegt.

Das zweite Element bestand darin, sich eine konstruktive Opposition zu suchen, die gewährleistete, dass das System stabil blieb. Man musste Leute aussuchen, welche die Einhaltung der Vereinbarung garantierten. Wie ich vor kurzem gehört habe, preisen Menschen wie Adam Michnik bis heute General Kiszczak als Ehrenmann."

Adam Michnik: "Ich habe das Gefühl, dieses polnische Gezeter stirbt nie aus; und das Besondere des Runden Tisches besteht gerade darin, dass es sich hier um einen kurzen Augenblick in unserer Geschichte handelte, in dem das Gezeter durch einen Dialog ersetzt wurde."

... sagt Adam Michnik, einer der international bekanntesten Protagonisten des Runden Tisches.

Adam Michnik: "Der Runde Tisch war die Quadratur des Kreises, einfach eine Quadratur des Kreises. Man glaubte doch, in einem kommunistischen Herrschaftssystem mit der Sowjetunion im Hintergrund und führender Rolle der Partei wäre es ein Ding der Unmöglichkeit, die Diktatur zu demontieren, auch wenn unser gesamtes Denken die ganze Zeit darauf gerichtet war, das Unmögliche möglich zu machen."

Adam Michnik ist heute die beliebteste Zielscheibe der Nationalkonservativen. Als er 1989 seinen Stuhl am Runden Tisch einnahm, war er das Schreckgespenst der Machthaber. General Wojciech Jaruzelski erblickte in ihm angeblich "einen Teufel in Menschengestalt". Michniks politisches Strafregister war entsprechend rekordverdächtig. 1981, als er nach Verhängung des Kriegsrechts interniert wurde, schlug er das Angebot von Innenminister General Kiszczak aus, aus Polen zu emigrieren. Wohl kaum ein Dissident hatte im kommunistischen Polen zwischen 1968 und 1989 mehr geistigen Sprengstoff zur Zermürbung des Systems angehäuft.

Heute preist Michnik wie kaum ein anderer ehemaliger Dissident den historischen Kompromiss von 1989. Als Herausgeber der einflussreichen liberalen Tageszeitung "Gazeta Wyborcza" propagiert er immer wieder die Versöhnung der politischen Gegner von einst - und wendet sich vehement gegen eine wahllose Öffnung der kommunistischen Geheimdienstarchive. Michnik argumentiert, die Akten seien nicht aussagekräftig und könnten das Leben vieler Menschen sinnlos beschädigen.

Vor allem die jüngere Generation der Nationalkonservativen akzeptiert diese Argumentation nicht. Zu ihnen gehört Mirosław Piotrowski. Der zuvorkommende weltgewandte Professor um die vierzig hat eine wissenschaftliche Eilkarriere hinter sich und ist politisch ein Senkrechtstarter.

Mirosław Piotrowski: "General Czesław Kiszczak hat den Teilnehmern des Runden Tisches eben eine schlaue Falle gestellt. Es wurde vereinbart, dass es in Polen keine Lustration, also keine Aufarbeitung der kommunistischen Geheimdienstvergangenheit geben sollte - obwohl darüber nie etwas Schriftliches festgelegt wurde. Das hat die Entwicklung der Demokratie in Polen sehr behindert."

Tadeusz Mazowiecki: "Es gab keinerlei geheime Abmachungen, weder in Magdalenka noch am Runden Tisch. Es gab sie einfach nicht. Es ist alles veröffentlicht worden."

... erklärt im Rückblick Tadeusz Mazowiecki, Berater von Lech Wałęsa und Leiter der Untergruppe Gewerkschaftspluralismus am Runden Tisches, wenige Monate später der erste demokratisch gewählte Ministerpräsident Polens. Mazowiecki ist der Urheber des vielfach umstrittenen Grundsatzes vom "dicken Strich", den man unter die kommunistische Vergangenheit setzen solle.

"Als ich damals vom 'dicken Strich' sprach, habe ich nicht gesagt, es solle keine historischen Debatten geben, die das kommunistische Polen bewerteten, und auch nicht gemeint, Verbrechen sollten nicht bestraft werden. Es ist nicht einfach, zwei Wertvorstellungen miteinander zu vereinbaren, nämlich auf das Prinzip der Kollektivschuld zu verzichten und zugleich allen das Gefühl zu geben, dass ihnen Gerechtigkeit widerfährt."

Wegen seines umstrittenen Worts vom "dicken Strich" findet Tadeusz Mazowiecki, ein auf der internationalen Bühne hoch geschätzter Intellektueller und Menschenrechtsexperte, in weiten Kreisen der polnischen Bevölkerung heute kaum noch Gehör. Auch seine Autorität als langjähriger unerschrockener Gegner des kommunistischen Regimes hilft ihm dabei nicht.

Polens Nationalkonservative gehen in die Offensive, wo sie nur können. Der Streit um die Veröffentlichung der kommunistischen Geheimdienstakten bietet dazu stets Anlass. Ob es um Spitzeleien von Kirchenleuten geht oder um die IM-Tätigkeit heutiger Wirtschaftsführer und Multimillionäre, immer wieder versuchen Polens Nationalkonservative, damit die liberale Demokratie zu diskreditieren, die sich nach 1989 unter aktiver Teilhabe vieler ehemaliger Kommunisten entwickelte. Die offene Gesellschaft der Nachwenderepublik ist für diese das Ergebnis eines konspirativen Plans. Piotrowski geht soweit zu behaupten, die Kommunisten hätten ihre oppositionellen Widersacher - sogar Gewerkschaftschef Lech Wałęsa - am Runden Tisch mit deren eigenen Geheimdienstakten in Schach gehalten.

Mirosław Piotrowski: "An der Spitze stand General Czesław Kiszczak, der Innenminister. Und wie er selbst in seinen Erinnerungen erklärt, hat er sich sein ganzes Leben lang damit beschäftigt, die schmutzige Wäsche anderer Menschen zu waschen und Lebensläufe auszuspionieren. Und das ist der Schlüssel zum Verständnis des Problems. General Kiszczak hat die Teilnehmer des Runden Tisches unter dem Gesichtpunkt ihrer Willfährigkeit ausgesucht und ihrer Verbindung mit den Geheimdiensten, die er befehligte. General Kiszczak hatte informelle Mitarbeiter auf allen Ebenen der 'Solidarność' und in allen Kreisen der antikommunistischen Opposition; und die Schlüssel zu den Archiven besaß General Kiszczak. Das erlaubte ihm, Herr der Lage zu bleiben."

Czesław Kiszczak: "Wenn wir von diesem Ort heute in die Augen von Millionen Landsleuten schauen, dann haben wir das Gefühl, ein Kapitel unserer Geschichte abzuschließen und ein neues aufzuschlagen. Die Veränderungen, für die der Runde Tisch den Impuls gegeben hat, sind ein mutiges Werk ohne Präzedenzfall."

Mit diesen Worten besiegelt Czesław Kiszczak die Verhandlungen am Runden Tisch. Am 5. April 1989 unterzeichnen Regierung und Opposition eine mehrere Tausend Seiten umfassende Vereinbarung. Am 17. April wird die Gewerkschaft "Solidarność” nach acht Jahren Untergrund wieder zugelassen. Am 8. Mai erscheint die erste Ausgabe der Tageszeitung "Gazeta Wyborcza" - der "Wahlzeitung".

Bei den ersten halbfreien Wahlen erleidet die Polnische Vereinigte Arbeiterpartei eine empfindliche Niederlage. Obwohl ihr aufgrund einer Abmachung am Runden Tisch automatisch 35 Prozent der Parlamentssitze zustehen, fällt ihr Kandidat, der bisherige Innenminister Czesław Kiszczak bei der Wahl zum Ministerpräsidenten durch, nicht zuletzt deshalb, weil die Blockparteien ins Lager der "Solidarność” umschwenken. Kisczczak gibt am 19. August freiwillig auf und macht dadurch den Weg für Tadeusz Mazowiecki frei. Am 24. August wird Mazowiecki zum ersten Regierungschef aus den Reihen von "Solidarność" gewählt. Bis zur Durchsetzung vollständig freier Wahlen ist es nur noch eine Frage von Monaten.

Kurz nach Mazowieckis Wahl zum Ministerpräsidenten reist Jaruzelskis "Hupe" Jerzy Urban, nunmehr Ex-Regierungssprecher, in die Sowjetunion. Denn während sich die polnischen Kommunisten bereits mit ihrer weitgehenden Entmachtung abgefunden haben und bereitwillig auf den Zug in die bürgerliche Demokratie aufspringen, fürchten sie sich immer noch vor einer Intervention des Kremls.

Jerzy Urban: "Ich flog nach Moskau, um die sowjetische Führung zu beruhigen, dass hier in Polen alles in Ordnung sei. Ich sagte, dass wir natürlich im Warschauer Pakt verbleiben würden, dass keine strategischen Ziele der Sowjetunion, Kommunikationswege und Militärbasen beeinträchtigt würden, dass es eine Koalitionsregierung gebe, dass Mazowiecki der Ministerpräsident sei, dass aber die einschlägigen Ressorts in der Hand der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei blieben, dass sich in Polen nichts ereignen werde, was die sowjetischen imperialen Interessen gefährden könnte.

Empfangen wurde ich vom Staatssekretär für auswärtige Angelegenheiten Valentin Falin, und in diesem Gespräch gewann ich doch sehr stark den Eindruck, dass ich redete und redete, ihn zu beruhigen suchte, und dass ihn das alles nichts anging - dass er mit seinen Gedanken woanders war und mich aus Höflichkeit anhörte, mit dem Kopf nickte und einfach nichts zu sagen hatte."

Im Mai 1989, wenige Wochen nach der polnischen Vereinbarung, verhandeln die bereits zugelassenen bürgerlichen Parteien in Ungarn mit der kommunistischen Führung an einem Runden Tisch. Auch die Tschechoslowakei und Bulgarien übernehmen das Modell. In Ostberlin wird am 7. Dezember 1989 ein Zentraler Runder Tisch ins Leben gerufen, um den Dialog von Regierung und Opposition vor den ersten freien Volkskammerwahlen nach erprobtem Muster zu möblieren. Es folgen Runde Tische ohne Unterlass. In Wirklichkeit haben sie nicht selten andere Ziele als den gleichberechtigten Dialog und sind - nebenbei bemerkt - oft viereckig. Der Runde Tisch - eine leblose Metapher?

Winfried Lucassen versucht sie mit einem Kunstwerk zum Leben zu erwecken. Mitte der neunziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts hat er sich auf einer Reise durch die Bretagne von der Geschichte des Königs Artus und seiner Tafelrunde inspirieren lassen und stand zugleich unter dem Eindruck der Kompromisslosigkeit und fehlender Gesprächsbereitschaft politisch Handelnder im Jugoslawienkrieg. Seiner von 13 Stelen umgebenen Installation "La Table Ronde" hat er eine zwiespältige Bedeutung verliehen.

Winfried Lucassen: "Eine Bedeutung ist die, dass ursprünglich das gemeinsame Begegnen oder Sprechen häufig um eine Feuerstelle herum stattgefunden hat, darüber hinaus wird damit die Urenergie symbolisiert, die in der Kommunikation sich entwickeln kann, mit der Vieles bewegt werden kann, aber andererseits auch, wenn Pläne zum Krieg geschmiedet werden, Zerstörung gebracht werden kann."