DGB: Über 140.000 Jugendliche noch ohne Lehrstelle

Moderation: Birgit Kolkmann |
Der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) hat sich besorgt über den Mangel an Lehrstellen in Deutschland geäußert. Offiziell hätten etwa 43.000 Jugendliche in Deutschland keine Lehrstelle bekommen, hinzukommen würden aber rund 100.000 junge Leute, die nicht in der Statistik auftauchten, sagte die stellvertretende DGB-Vorsitzende Ingrid Sehrbrock.
Birgit Kolkmann: Seit zwei Jahren gibt es den nationalen Lehrstellenpakt. Doch das Ziel - Ausbildungsplätze für alle Bewerber - ist auch in diesem Jahr wieder nicht erreicht. Zehntausende Schulabgänger suchen auch nach Beginn des Ausbildungsjahres noch nach einer Lehrstelle. Dazu kommen diejenigen, die schon in den letzten Jahren leer ausgingen. Bis zu drei Bewerber kommen auf eine Stelle. Es fehlen die Ausbildungsplätze, obwohl die Wirtschaft zugesagt hatte, mehr zu schaffen. Heute wird die Bundesagentur in Nürnberg genaue Zahlen präsentieren, wie viele Bewerber tatsächlich keine Ausbildung machen können. Wir sind jetzt verbunden mit Ingrid Sehrbrock, der stellvertretenden DGB-Chefin. Schönen guten Morgen.

Ingrid Sehrbrock: Guten Morgen, Frau Kolkmann.

Kolkmann: Frau Sehrbrock, was schätzen Sie, wie viele noch auf der Suche sind?

Sehrbrock: Es sind ziemlich viele auf der Suche. Wir werden ja heute die offiziellen Zahlen haben und die werden so um 43.000 liegen. Das ist die offizielle Lücke. Aber wir wissen natürlich, dass sehr viele junge Leute inzwischen sich einen Job gesucht haben, in einer schulischen Maßnahme gelandet sind, in die Berufsschule gehen, aber keinen Ausbildungsplatz haben. Und die erscheinen alle nicht mehr in der Statistik. Also wir schätzen, dass noch mindestens um die 100.000 junge Leute eigentlich einen Ausbildungsplatz suchen, die aber in der Statistik nicht mehr erscheinen.

Kolkmann: Woran liegt das eigentlich, dass der Ausbildungspakt offensichtlich gescheitert ist?

Sehrbrock: Weil die Instrumente nicht taugen. Es ging ja darum, sozusagen die Betriebe zu motivieren, mehr auszubilden. Und das wird versucht mit Appellen, natürlich auch mit persönlicher Ansprache der Betriebe. Aber wir wissen, dass genau die Appelle überhaupt nicht nutzen. Es gehört schon auch ein Stück Druck dazu. Wir hatten ja vorgeschlagen, dass man eine Ausbildungsplatzumlage entwickelt und dass man das auf Branchenebene macht, so wie das im Baubereich seit 30 Jahren funktioniert. Dort zahlen die Betriebe ein und diejenigen, die ausbilden, erhalten ein Teil der Kosten zurückerstattet. Das funktioniert, das motiviert. Und es ist auch eine Fairness zwischen den Betrieben, die ausbilden, und denen, die nicht ausbilden. Das wäre für uns das richtige Instrument. Der Pakt kann das einfach mit dem Instrumentarium nicht leisten.

Kolkmann: Wo vermuten Sie denn noch Möglichkeiten, Ausbildungsplätze zu schaffen?

Sehrbrock: Im Prinzip kann fast jeder Betrieb ausbilden. Das hören wir immer, wenn wir mit Betrieben reden. Ich habe in der letzten Zeit eine Reihe von Betrieben abgeklappert, die mir gesagt: Eigentlich kann jeder Betrieb ausbilden. Und es ist häufig einfach eine Frage der Kultur. Viele Betriebe machen das seit vielen Jahren. Diejenigen, die nicht ausbilden, überschätzen häufig den Aufwand, der damit verbunden ist. Und das ist genau das, was wir eigentlich brauchen. Wir brauchen wieder sozusagen diese Kultur der Ausbildungsbereitschaft. Und wenn Betriebe ausbilden, stellen sie auch fest, dass es eine Menge für sie bringt. Sie bilden nämlich genau so aus, wie sie das jeweils für ihren Betrieb brauchen. Sie haben dann genau die qualifizierten Leute, die sie auch für ihre Tätigkeitsfelder brauchen.

Kolkmann: Nun sagt ja vor allen Dingen die mittelständische Wirtschaft, sie trage ohnehin die Hauptlast der Ausbildung, allerdings die großen Unternehmen würden sich immer mehr aus der Verantwortung ziehen. Es gibt doch die Forderung, dass die Lehrlingsgehälter gesenkt werden müssten oder dass es mehr öffentliche Zuschüsse für die Ausbildungskosten geben müsste. Was, glauben Sie, wäre ein gangbarer Weg?

Sehrbrock: Es ist richtig, die kleinen und die mittleren Betriebe sind diejenigen, die am meisten ausbilden, die großen haben sich zurückgezogen, gerade auch die DAX-Unternehmen haben erhebliche Ausbildungskapazitäten zurückgefahren. Wir wissen allerdings auch aus Gesprächen, auch mit den Kleinen- und Mittelständlern, dass die Ausbildungsvergütung nicht eigentlich das Thema ist. Im zweiten Jahr rechnet sich in aller Regel Ausbildung. Es gibt sogar Betriebe, die eine verhältnismäßig hohe Quote an Auszubildenden haben - das ist dann auch wieder ein Problem, aber sie machen das häufig sogar, weil sich die Ausbildung für sie rechnet. Also die Absenkung der Ausbildungsvergütung ist meiner Meinung nach der falsche Weg.

Kolkmann: Die Zahlen der Schulabgänger werden ja sinken in den nächsten Jahren. Entspannt sich dann die Lage?

Sehrbrock: Wenn sich nicht auch gleichzeitig das, was ich als Kultur der Ausbildung bezeichnet habe, ändert, dann, glaube ich, wird sich da nichts Wesentliches ändern. Also ich denke, wir müssen wirklich darauf hinwirken und das müssen sozusagen die Betriebe sein, die bisher schon ausbilden, die wissen, wie es geht, die wissen, welche Probleme es gibt, aber die wissen auch, welche Hilfen es gibt, die wissen, welche Unterstützung es gibt, ein Stück sozusagen auch darum bemühen, andere Betriebe dafür zu gewinnen, zukünftig auszubilden.

Kolkmann: Müssten auch die jungen Leute früher und intensiver motiviert werden, sich zu bewerben, sich mit der beruflichen Zukunft auseinanderzusetzen - und zwar nicht erst in der zehnten Klasse, sondern schon viel früher, in der achten zum Beispiel?

Sehrbrock: Ganz eindeutig. Da, denke ich, gibt es auch noch große Mängel. Es hängt immer noch ganz stark von der einzelnen Schule ab, wie sie die jungen Leute vorbereitet, ob sie sich rechtzeitig um Praktika bemüht - es ist auch wichtig, dass die jungen Leute nicht nur ein Praktikum, sondern sie sollten auch möglichst mehrere Praktika machen, um einen Überblick zu gewinnen. Aber wir brauchen im Übrigen auch die Bundesagentur, die sich zurückgezogen hat, was die Beratung betrifft. Auch die Bundesagentur muss wieder stärker einsteigen, muss jungen Leuten einen besseren Überblick vermitteln. Aber die Schulen müssen jungen Leuten auch helfen, sie müssen ihnen beispielsweise dabei helfen, festzustellen, was sie eigentlich an Stärken haben, wo sozusagen ihren besonderen Fähigkeiten liegen. Und das Ganze muss sehr viel stärker institutionalisiert sein. Es darf nicht von der einzelnen Schule abhängen, ob es ein gutes Übergangsmanagement, eine gute Beratung gibt oder nicht.

Kolkmann: Der Facharbeitermangel ist in Deutschland jetzt schon gravierend. Wenn das so weitergeht und in diesem Maße vor allen Dingen nicht ausgebildet wird, was bedeutet das letztlich für die Wirtschaft, für die Wettbewerbsfähigkeit?

Sehrbrock: Das ist eine ganz, ganz wichtige Frage. Die Unternehmen sind natürlich auf qualifizierte Mitarbeiter angewiesen. In Kürze werden gerade im Osten Deutschlands ganze Belegschaften ausscheiden, weil sie ins Rentenalter wachsen. Die Betriebe haben häufig offenbar noch nicht darüber nachgedacht, wie sie diese Fachkräfte ersetzen. Das wird ein riesengroßes Problem, denn die Leistungsfähigkeit, die Wettbewerbsfähigkeit eines Unternehmens hängt natürlich ganz stark von der Qualifikation der Mitarbeiter ab. Und ich habe den Eindruck, viele haben noch nicht verstanden, dass da ein Riesenproblem auf sie zurollt.

Kolkmann: Was bedeutet es eigentlich gesellschaftlich, wenn so viele junge Leute nicht einmal den Einstieg auf den Arbeitsmarkt schaffen?

Sehrbrock: Das ist für sie häufig ein großes persönliches Problem. Es ist für sie ja eigentlich der Einstieg in die Erwachsenenwelt. Und es wird vielen signalisiert, dass man sie eigentlich gar nicht braucht, man glaubt auch nicht an sie. Und irgendwann glauben sie auch selber nicht mehr an sich. Ich denke, das ist ein riesen-gesellschaftliches Problem. Und wir können die Dinge nicht einfach so laufen lassen. Wir können nicht sagen: Sollen sich die Eltern kümmern, sollen sich andere kümmern. Sondern es ist schon eine gesellschaftliche Aufgabe, für junge Leute Perspektiven zu eröffnen. Und ich denke, da fehlt es noch an einer Menge Engagement, sowohl von den Betrieben als auch von vielen anderen.

Kolkmann: Das war Ingrid Sehrbrock, die stellvertretende DGB-Chefin im Gespräch mit Deutschlandradio Kultur. Vielen Dank dafür.