DGB-Chef bejaht Formen von "Vollzeitarbeitslosigkeitsbezahlung"
Angesichts der Wirtschafts- und Finanzkrise hat der Vorsitzende des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB), Michael Sommer, weitere staatliche Maßnahmen zum Schutz der Unternehmen und ihrer Beschäftigten gefordert. Die "Vollzeitarbeitslosigkeitsbezahlung" könnte die Bindung an den Betrieb erhalten und über ein Jahr hinausgehen, so Sommer.
Deutschlandradio Kultur: Herr Sommer, bei den Festaktionen zum 60. Geburtstag des DGB zu Beginn dieser Woche haben Sie im letzten Satz Ihrer Rede gesagt: "Die Gewerkschaften sind das Stärkste, was die Schwachen haben." Da drängt sich für uns die Frage auf: Wie stark aber sind die Gewerkschaften überhaupt noch?
Michael Sommer: So stark, dass die Schwachen sich schon auf die Gewerkschaften verlassen können. Was haben wir jetzt im DGB organisiert in unseren Mitgliedsgewerkschaften? Insgesamt 6,4 Millionen Mitglieder! Das ist mit Abstand das Beste, was Sie im Bereich von organisierter Interessenvertretung haben, weil, Sie können uns mit Kirchen, Glaubensgemeinschaften nur bedingt vergleichen. Wir sind in vielen Betrieben. Wir sind beherrschend, was alle Fragen der Gestaltung der Lebens- und Arbeitsbedingungen nach Artikel 9, Absatz 3 Grundgesetz, sprich, was die Tarifautonomie anbetrifft. Wir haben in diesem Land immer noch eine Tarifbindung weit über 50 Prozent. Wir haben schon was aufzuweisen. Und was die gesellschaftliche Rolle anbetrifft, sind wir wieder wichtiger geworden. Ich glaube, deswegen mache ich das auch mit einem gewissen Selbstbewusstsein.
Natürlich haben wir Mitglieder verloren. Das tut auch weh und das ist auch kein Grund, selbstzufrieden darüber hinwegzugehen wie manche Partei, die meint, man könne schon viele Mitglieder verlieren, das würde sich auf die Wähler nicht umschlagen. Wir wissen, dass die Stärke der Gewerkschaften letztendlich von der Zahl unserer Mitglieder und auch von ihrem Engagement abhängt, aber eben auch von der Zahl.
Wir sind auch nach 20, 25 Jahren Massenarbeitslosigkeit immer noch eine gesellschaftlich ganz entscheidende Kraft in diesem Land.
Deutschlandradio Kultur: Das ist ja unbestritten. Doch 6,3 oder 6,4 Millionen, wie Sie sagen, ist deutlich geringer als, was Sie noch vor zehn Jahren hatten. Der Trend muss aber irgendwann gestoppt werden, sonst leiden Sie an Muskelschwäche.
Michael Sommer: Das ist richtig. Ich mache das auch nicht mit Selbstzufriedenheit, dass ich da drüber hinweggehe. Wir haben vor drei Jahren eine sogenannte Aktion Trendwende eingeleitet, wo wir auf den verschiedensten Feldern versuchen, den Mitgliederschwund zu stoppen. Es ist uns auf zwei, den eigentlich wichtigsten Feldern, gelungen. Wir haben wieder deutlich mehr Mitglieder bei Jugendlichen, bei jungen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, Auszubildenden, aber auch Menschen, die übernommen werden. Und wir haben eine ganz positive Tendenz bei den berufstätigen Mitgliedern. Da haben wir auch im Saldo Gewinn.
Was uns nach wie vor Sorgen macht, ist auch bei uns die demographische Entwicklung. Wir haben eine überalterte Mitgliedschaft. Sehr viele Kolleginnen und Kollegen sind entweder im Rentenalter oder kurz davor, so dass wir uns einfach nur aufgrund dieser demographischen Entwicklung schon Gedanken darüber machen müssen, wie wir die Attraktivität erhöhen.
Wir haben große Schwierigkeiten bei kleinen und Kleinstbetrieben. Die werden noch verstärkt dadurch, dass auch dort bei den Arbeitgebern die Tarifbindung deutlich abnimmt. Das ist natürlich auch objektiv schwierig, den Bäcker um die Ecke zu organisieren oder auch den Friseurladen. Nichtsdestotrotz, die Aufgabe steht.
Bei jugendlichen Mitgliedern - würde ich sagen - ist Gott sei Dank die Tendenz eine andere. Da zahlt sich unsere sehr konsequente Politik für Ausbildungsplätze und für die Übernahme aus. Dort, wo wir Jugendliche tatsächlich im Betrieb haben, wächst die Zahl der Organisierten.
Frauen ist, glaub ich, eins der großen Organisationsbereiche, wo wir nach meiner Auffassung wesentlich besser sein könnten. Es hat auch ein bisschen was mit meiner persönlichen Biografie zu tun, warum ich da immer so besonders drauf gucke. Ich glaube schon, dass wir auch spezielle Beratungs- und Betreuungs- und, wenn Sie so wollen, auch Gestaltungsangebote für Kolleginnen machen müssen, die alleinerziehend sind. Das ist eine große Gruppe in diesem Land. Das ist eine, die sehr benachteiligt ist. Das ist eine, die nicht zum Prekariat gehört, die nicht abrutschen wollen, auch nicht wollen, dass ihre Kinder abrutschen, die aber teilweise unter extrem schwierigsten Bedingungen und zu extrem schlechten Bedingungen, übrigens auch schlechten Löhnen, arbeiten. Da würde ich mir wünschen, dass wir da noch wesentlich mehr Kraft reinsetzen würden. Ich glaube auch, dass das mit sehr treuen Kolleginnen und Kollegen in unseren Gewerkschaften honoriert würde.
Ich habe das während unserer Geburtstagsfeier auch selbstkritisch angemerkt, dass wir nach wie vor Nachholbedarf bei "gleichen Löhnen für gleiche Arbeit" haben.
Deutschlandradio Kultur: Sie haben es angesprochen. Für die Gewerkschaften ist es sicherlich wichtig, Verteilungsgerechtigkeit herzustellen. Das wird sicherlich aber auch schwierig sein in den nächsten Jahren, wo es eigentlich nicht so viel zu verteilen gibt, wenn wir uns die Wirtschafts- und Finanzkrise anschauen. Welche Schwerpunkte wollen Sie dann setzen, denn Tarifforderungen können es ja letztendlich nicht sein? Der große Schluck aus der Pulle wird’s nicht sein. Es gibt nicht viel zu verteilen.
Michael Sommer: Das weiß ich nicht so genau, wenn ich sehe, wie viel Reichtum insbesondere in den letzten Jahren angehäuft worden ist, wie viel Reichtum auch an den Weltbörsen verspielt wurde. Es ist ja nicht so, dass es in dieser Welt an Finanzen, an Kapital mangelt, sondern worunter wir ja leiden ist, dass mit diesem Kapital gespielt worden ist und dass es sehr ungleichmäßig verteilt worden ist. Von daher, Geld wäre da.
Wenn Sie jetzt die Frage stellen, haben Sie eine gute Idee, wie Sie sofort rankommen, würde ich sagen: Das ist ein bisschen schwieriger. Wir können natürlich mit tarifpolitischen Mitteln eine ungleiche Vermögensverteilung, Reichtumsverteilung kaum ändern. Das ist eine Sache, die müssen Sie letztendlich über Formen von gesellschaftlicher Umverteilung machen. Da wäre das Steuersystem, eins derjenigen, das wirklich gefragt wäre. Da hat es in den vergangenen Jahren zaghafte Ansätze gegeben. Ich befürchte nur, dass mit der neuen Koalition genau diese Ansätze wieder rückgängig gemacht werden.
Was die Einkommensverteilung anbetrifft, will ich schon sagen, dass wir aufgrund der verschlechterten Kampfbedingungen insbesondere auch im letzten Jahrzehnt - sprich Massenarbeitslosigkeit - wir natürlich auch bei der Einkommensverteilung nur zweiter Sieger geblieben sind. Wir haben in vielen Jahren die Reallöhne nicht sichern können. Und wenn Sie sich die Schere zwischen Einkommen aus Unternehmertätigkeit und Einkommen aus Arbeitnehmertätigkeit ansehen, dann sehen Sie, wie deutlich die Schere auseinandergegangen ist.
Deutschlandradio Kultur: Wie wird sich denn dann die Gewerkschaft in Zeiten von Schwarz-Gelb künftig positionieren? Sie haben ja zwei Möglichkeiten genannt. Sie sagten: Ja, Kooperation, aber an dem Punkt, wo es Ihnen nicht gefällt, ist auch Konfrontation möglich. - Wo ist der Punkt dann gekommen?
Michael Sommer: Wenn ich eins vorwegschicken darf. Die Menschen sind nicht nur bei Gewerkschaften und arbeiten mit Gewerkschaften zusammen und sehen in uns ihre Interessenvertretung, wenn wir Klamauk oder Krawall machen oder kämpfen. Ich will das jetzt gar nicht runterreden. Sondern die Menschen erwarten von uns eine sehr konsequente Form von Interessenvertretung und von Interessenpolitik. Diese Interessenpolitik müssen Sie so oder so wahrnehmen. Sie müssen beides können. Es ist wirklich dialektisch. Sie müssen verhandeln können, Sie müssen politisch Einfluss nehmen können. Und Sie müssen auf der anderen Seite natürlich auch in der Lage sein zu kämpfen, gesellschaftlich zu kämpfen - da haben wir viele Mittel -, aber Sie müssen natürlich auch in der Lage sein, tarifpolitisch zu kämpfen.
Ich warne allerdings vor der Annahme, man könne mit tarifpolitischen Mitteln Wählerentscheidungen korrigieren. Das kann man in keinem einzigen Politikfeld und man kann es nicht grundsätzlich. Es entspricht auch nicht dem Selbstverständnis von deutschen Gewerkschaften. Wir achten Demokratie, wir verteidigen sie sogar.
Deutschlandradio Kultur: Gut, aber wenn jetzt der Punkt erreicht ist, wo Sie sagen, hier ist jetzt Schluss, hier machen wir nicht mehr mit, welche Möglichkeiten haben Sie denn dann bei einem Konfrontationskurs? Ich erinnere daran, Sie haben mal eine halbe Million Menschen vor ungefähr fünf Jahren gegen die Agenda 2010 auf die Straße gebracht. Es hat nicht viel gebracht unterm Strich. Sie haben 200.000 Menschen im Herbst 2006 auf die Straße gebracht. Da ging es um Sozialabbau im Großen und Ganzen. Das hat am Ende auch nicht schrecklich viel gebracht. Jetzt im Mai 2009 waren es im Zuge der Wirtschafts- und Finanzkrise 100.000 Menschen, hat auch nicht so schrecklich viel gebracht. Welche Möglichkeiten haben Sie? Was sehen Sie da?
Michael Sommer: In allen drei Punkten würde ich Ihren Nachsatz nicht ganz teilen.
Deutschlandradio Kultur: Hab ich erwartet.
Michael Sommer: Das ist schon klar, wobei ich möglicherweise jetzt auch etwas deutlicher widerspreche, als ich das vielleicht früher getan hätte. Die große Demonstration in Berlin, ich glaube, das war am 3. April 2004, gegen die Agenda 2010 ist von der Regierung Schröder mit einem "Basta" ausgesessen worden. Jetzt können Sie nun nachdenken, ob das so eine kluge Politik von Schröder war, wenn Sie sehen, dass sich in der Zeit seit der Agenda die Wählerschaft der SPD halbiert hat und die Zahl ihrer Mitglieder auch.
Wenn Sie sich unsere drei Demonstrationen gegen eine falsche Sozialpolitik - es war ja nicht für eine grundsätzlich andere Politik, sondern gegen falsche Sozialpolitik - ansehen, dann müssen Sie sehen, wir haben tatsächlich diese von Ihnen genannte Zahl auf die Straße gebracht, unter anderem mit dem Thema: Leute lasst die Finger weg von der Rente mit 67, findet intelligentere Lösungen, die auch gerechter für die Menschen sind. Und dann fragen Sie mal nach, warum welches Wahlergebnis jetzt zustande gekommen ist.
Was jetzt die Frage der 100.000 in Berlin anbetrifft, die wir am 16. Mai hier hatten, dann kann ich Ihnen nur sagen: Dass das nichts gebracht hat, glaube ich schon deshalb nicht, weil wir mit dafür gesorgt haben, dass das Thema Regulierung der Finanzmärkte, obwohl es sperrig ist, auf der Tagesordnung geblieben ist, diese Große Koalition sich dessen angenommen hat. Im zweiten Teil gebe ich Ihnen allerdings Recht, nämlich bei der Frage: Wer bezahlt die Zeche für diese Krise? Die Frage ist bislang nicht positiv beantwortet.
Und ich kann nur sagen, wenn man, immer Ihrer Fragestellung folgend, daraus Schlussfolgerungen zieht, wäre man gut beraten, diese Frage doch dann positiver zu beantworten. Schröder hat das 2004 ignoriert. 2005/ 2006 wurden die großen Demonstrationen auch noch ignoriert. Jetzt in diesem Jahr haben sich alle möglichen Spitzenpolitiker am Montag nach der Demonstration bei mir gemeldet und haben gesagt: Ja, wir wollen und wir wollen mit Ihnen weiter reden. Wir wollen am Ball bleiben.
Ich behaupte, dass es nicht so ist, dass gesellschaftlicher Druck nichts bringt. Er bringt nur nichts automatisch. Ich kann nicht sagen, 500.000 bringen eine Regierung zum Wanken, 300.000 noch nicht. Wenn Sie allein sehen, was im Zuge des Wahlkampfes mit dieser doch relativ spontanen Anti-Atomkraftdemonstration, die wir in Berlin hatten, bewegt worden ist, auch politisch bewegt worden ist, dann würde ich sagen: Gesellschaftlicher Protest bringt durchaus was, genau auch wie tarifpolitische Auseinandersetzungen etwas bringen.
Ich bleibe nur dabei: Wenn man am 27. September sein Kreuzchen gemacht hat, dann hat man damit natürlich ein ganzes Politik-Potpourri gewählt - man wählt ja nicht nur für eine Frage - und für vier Jahre eine demokratische Legitimation gegeben. Das ist in unserem System so, auch völlig zurecht so. Das können Sie nicht alles mit gesellschaftlichen Kämpfen wegmachen. Sie können in Einzelpunkten sicherlich korrigieren. Sie können in Einzelpunkten möglicherweise auch eine andere Politik bewirken, aber nicht in der grundsätzlichen Anlage.
Deutschlandradio Kultur: Das sieht ja im Moment gar nicht so schlecht aus, wenn man die ersten Ergebnisse von Schwarz-Gelb sieht - beispielsweise Steuererleichterungen für Familien, Kindergeld soll erhöht werden. Das große Monster kommt da nicht. Das sieht eher so aus, als ob man da Korrekturen macht, die auch im Sinne der Gewerkschaften richtig sind.
Michael Sommer: Nun warten wir erst mal ab, getreu nach Helmut Kohl, was hinten rauskommt. Ich persönlich glaube schon, dass zumindest Teile der Union - einschließlich der Bundeskanzlerin - ein Stücken aus den Wahlen 2005 und aus der politisch-gesellschaftlich-ökonomischen Entwicklung der Jahre 2005 bis 2009 einige Lehren gezogen haben.
Wenn ich heute zum Beispiel mit führenden CDU-Politikern über Mitbestimmung spreche, dann ist das ein völlig anderes Gespräch, als ich das noch vor vier Jahren hatte, einfach, weil die jetzt - gerade auch in der Krise - gemerkt haben, welche Bedeutung Unternehmensmitbestimmung, betriebliche Mitbestimmung haben, um dieses Land, auch, wenn Sie so wollen, diese Gesellschaft und auch diese Ökonomie zu stabilisieren. Wenn ich mit denen heute über Mindestlöhne rede, dann sagen die, ja, es gibt Verwerfungen, die kann man auch nicht zulassen usw.
Auf der anderen Seite haben Sie natürlich in der Union nach wie vor die Kräfte, die früher durch Friedrich Merz repräsentiert wurden, und die Kräfte, die eigentlich klammheimliche FDP-Anhänger sind, die auch wahrscheinlich mit ihrer Zweitstimme der FDP zu 14 Prozent verholfen haben, die eine prinzipiell andere Politik wollen.
Die spannende Frage wird zum einen sein: Wie wird sich jetzt in den nächsten Tagen und Wochen dieses Kräfteverhältnis innerhalb der CDU umsetzen? Und zum zweiten: Wo entdeckt auch die FDP, dass sie mit 14 Prozent nicht mehr nur die Partei der Pöstchenjäger und Besserverdienenden sein kann?
Deutschlandradio Kultur: Was halten Sie eigentlich von der Idee der FDP, ein Bürgergeld einzuführen, also, alle Sozialleistungen zu bündeln, und die dann übers Finanzamt auszuzahlen?
Michael Sommer: Das halte ich für eine relativ große Mogelpackung, die letztendlich unsozial ist, weil sie natürlich auf den ersten Blick deutlich über dem liegt, was Hartz IV heute ausmacht. Da dann aber alle Leistungen zusammengepackt werden, wäre es eine deutliche Absenkung. Es wäre auch ein richtiger Systembruch, der zweite nach der Agenda 2010. Wir hatten ja die Agenda 2010, wo die meisten überhaupt nicht wissen, warum wir oder ich auch so prinzipiell dagegen sind. Weil es die Abkehr von der Lebensstandardsicherung in Wechselfällen des Lebens war und die Hinwendung zur Armutssicherung. Niemand stirbt mit Hartz IV. Das ist klar. Aber es ist was anderes, ob ich Hartz IV bekomme oder ob ich im Fall von Arbeitslosigkeit, auch länger anhaltender Arbeitslosigkeit einigermaßen den Lebensstandard halten kann.
Wenn jetzt dieses Bürgergeld á la FDP käme, hieße das, dass sie alle gleich behandeln würden, dass sie letztendlich alle Wechselfälle des Lebens nicht beantworten und deutlich die Sozialleistungen runtersetzen würden. Sie hätten überhaupt dann auch noch jeweils den Ansatzpunkt, um bei jeder finanziellen Krise des Staates zu sagen, na ja, 625 Euro, oder wie viel das sein sollen, müssen es ja nicht sein, das können ja auch 595 sein. Es wäre eine Abkehr von dieses Systems, was wir wollen, nämlich dass es schon eine Beziehung gibt zwischen der tatsächlichen Not und Bedürftigkeit und der Absenkung von Lebensstandard auf der einen Seite und dass wir das auf der anderen Seite auch einigermaßen sozial gerecht machen müssen.
Ich glaube übrigens nicht, dass es kommen wird. Eins kann man sagen: Die Agenda ist wahrscheinlich die große Ausnahme. In Deutschland sind Reformen, auch in sozialen Systemen, immer auf dem Pfad geblieben. Man hat nie den Pfad verlassen. Das würde wirklich zu einer totalen Umkehr führen.
Deutschlandradio Kultur: Aber Hartz IV, so wie wir es im Moment haben, macht Sie auch nicht glücklich. Das heißt, Sie fordern auch da Reformen.
Michael Sommer: Ja, natürlich. Zum einen müssen wir sehen, dass wir gerade jetzt in der Krise die Zahl derer, die in Hartz IV fallen könnten, nicht noch wesentlich steigern. Das heißt, wir müssen Zwischenwege finden, dass wir während der Dauer der Krise dafür sorgen, dass nicht noch mehr Menschen in Hartz IV kommen. Das heißt insbesondere auch, dass die, die wir in diesem Land die Leistungsträger nennen, weil die Krise oder die Beschäftigungslosigkeit zu lange andauert, ihren Job verlieren. Deswegen sind wir bei Überlegungen, krisenbedingt die Zahlung des Arbeitslosengeldes I zu verlängern oder analoge Systeme zu machen. Da muss man sich über die Finanzierung unterhalten.
Deutschlandradio Kultur: Genau, aber das ist ja der Punkt.
Michael Sommer: Die Finanzierung muss dann mindestens zum Teil aus Steuergeldern kommen, sonst geht das gar nicht. Die Alternative ist, um das mal ganz brutal zu sagen: Der 35-jährige Entwicklungsingenieur oder die 40-jährige Facharbeiterin fallen in Arbeitslosigkeit. Die sind dann im Zweifelsfall nach einem Jahr in Hartz IV. Denen ist mit der Verbesserung von Schonvermögen überhaupt nicht geholfen. Die brauchen andere Lösungen, zumal auch die deutsche Wirtschaft andere Lösungen braucht, weil das Fachkräfte sind, auf die sie wahrscheinlich in anderthalb oder zwei Jahren nicht verzichten wollen.
Aber noch mal zur prinzipiellen Frage Hartz IV: Wenn Sie sich die Sozialpolitik von Müntefering angefangen bis hin zu Scholz als Arbeitsminister ansehen, dann haben die alles getan, um den Zuzug zu Hartz IV nicht noch zu vergrößern. Ob Sie an die Kindergeldzahlungen denken, ob Sie an Wohngeldzahlungen denken, und, und, und. Immer im klaren Wissen, dass Hartz IV letztendlich eine Sauerei den Menschen gegenüber ist.
Jetzt können Sie da zwei Sachen ansetzen: Sie werden Hartz IV als System nicht wegkriegen - bei allen Schwächen. Dann haben wir uns entschieden zu sagen, dann wollen wir wenigstens grundlegende Verbesserungen bei Hartz IV, was die Zahlung der Grundvergütung anbetrifft, Kinder, und, und, und. Das würde helfen, würde das ein Stück beheben. Aber was es nicht behebt, ist die Tatsache, dass natürlich immer noch Hartz IV für die Betroffenen eine Sauerei ist und für die potenziell Betroffenen einen unglaublich hohen Angstfaktor darstellt. Das ist auch etwas, was wir der Sozialdemokratie immer gesagt haben, was die aber völlig unterschätzt haben. Das ist einer der Gründe, warum man in der SPD vielleicht mal drüber nachdenken sollte, warum man Wahlen verliert.
Deutschlandradio Kultur: Reden wir mal von denen, die noch nicht in Hartz IV sind, denen aber jetzt die Arbeitslosigkeit, das Arbeitslosengeld I droht. Wir alle wissen, die Zahl der Arbeitslosen wird in den nächsten Monaten krisenbedingt steigen, unter anderem auch weil den Unternehmen allmählich das Instrument der Kurzarbeit zu teuer wird. Wie kann man das lösen? Sollte man den Unternehmen noch weiter entgegenkommen, sie weiter entlasten an der Stelle?
Michael Sommer: Erst mal will ich das Positive sagen und dann kommen wir zu den Problemen. Dass wir jetzt diese großen Beschäftigungsbrücken gebaut haben, ist eine der großen sozialpartnerschaftlichen Leistungen dieses Landes. Und jetzt kommt der zweite Punkt: Sie haben Recht. Auch für die Unternehmen ist das natürlich teuer, weil denen laufen die Kapitalkosten weiter, bei denen läuft möglicherweise auch das weiter, was sie dann Lohnzusatzleistungen nennen, also, 13. Monatsgehalt und all das. Das muss auch finanziert werden, neben den vielen Erleichterungen, die der Staat gemacht hat.
Dann sage ich, wir brauchen den langen Atem, hoffentlich auch mit dem Ziel, jeweils da ranzukommen. Wir müssen jedes Instrument nutzen und, wenn es notwendig ist, müssen wir auch zusätzliche Instrumente seitens der öffentlichen Hand oder auch der Arbeitslosenversicherung bereitstellen. Nur viel mehr Olaf Scholz, Dieter Hundt und ich Anfang Mai vereinbart und unterschrieben haben, also diese wahnsinnigen Erleichterungen zum Beispiel bei Kurzarbeit, wenn die über ein halbes Jahr hinausgeht, dass man das auch kumulieren kann usw., dass auch Auszubildende mit in diese Programme reinkommen, dass Leiharbeiterinnen und Leiharbeiter da mit reinkommen, das sind ja alles unglaublich viele Sachen, dass wir die Schwellenwerte für die Kurzarbeit so ausgedehnt haben, dass auch jeder Handwerksbetrieb da rein kommt - viel mehr wird uns nicht einfallen.
Deswegen glaube ich schon, wird man wieder zu einem Politik-Mix kommen müssen, dass man dann den Firmen zum Beispiel auch deutlich dabei hilft, ihre Kapital- und Finanzierungskosten zu senken. Da ist die Regierung unmittelbar gefordert durch Regulierung, möglicherweise auch durch das, was Herr Steinbrück mal während des Wahlkampfs angekündigt hatte, nämlich eine Kreditvergabe unmittelbar durch den Staat und nicht mehr durch die Banken, wenn die Banken versagen. Das ist übrigens einer der wesentlichen Punkte, nach dem die Unternehmen in Wahrheit rufen.
Und wenn das alles nicht reicht, werden wir sehen müssen, dass wir zu Formen von "Vollzeitarbeitslosigkeitsbezahlung", böses Wort, aber zur Bezahlung von Arbeitslosen kommen, auch wenn sie Vollzeit sind, die trotzdem die Bindung an den Betrieb erhält und die möglicherweise über das normale Jahr hinausgeht, was wir bislang haben.
Deutschlandradio Kultur: Wie lange wollen Sie Kurzarbeitergeld in Betrieben zahlen, wo deutlich ist, dass es beispielsweise Überkapazitäten gibt, dass abgebaut werden muss? Man muss die Transformation irgendwann hinbekommen.
Michael Sommer: Sie müssen ja die Lücke füllen - die Lücke zwischen der Krise jetzt und dem Zeitpunkt, wo die Transformation gelungen ist. Jetzt sagen wir: Früher ist die Lücke damit gefüllt worden, dass man die Leute einfach auf die Straße gesetzt hat. Jetzt macht man es anders, durch Qualifikation und ähnliches mehr, allemal gesellschaftlich sinnvoller, menschlich sinnvoller und übrigens auch billiger als die Zahlung von Arbeitslosigkeit.
Ich kenne dieses Argument, was da lautet: Ihr behindert den Strukturbruch. Und ich sage: Genau das stimmt nicht. Was wir machen, ist, wir begleiten den Strukturbruch sozial. Wir schieben zum Beispiel alleine 700 Millionen Euro in die Innovation der Automobilindustrie. Auch das ist übrigens Teil des Konjunkturprogramms II. Das heißt, wir machen unglaublich viele Maßnahmen, die auch mit uns vereinbart worden sind, teilweise auch von uns entwickelt worden sind, um diesen Strukturbruch hinzukriegen.
Wogegen ich mich nur wehre, ist, zu sagen: Na ja, gut, die einen müssen eben leiden und die anderen können weiter verdienen. Ich glaube, da hat es einen Paradigmenwechsel in der deutschen Politik in den vergangenen Jahren gegeben. Wenn Sie sich die Kurven angucken, dann ist Deutschland von allen Industrienationen in punkto Entwicklung der Arbeitslosigkeit am besten, was ein Zeichen dafür ist, dass man auch das machen kann. Denn auch dort, wo man dann gesagt hat, wir machen die Art Strukturbrüche wie in USA und man muss die Leute dann eben entlassen, ist das ja nicht so, als ob die wesentlich weiter in der Wirtschaftsentwicklung wären. Das ist nur wesentlich unsozialer gelaufen. Von daher glaube ich schon, dass dieser neue Weg ein Weg ist, den man durchaus nicht nur begründen kann, sondern der sich auch auf mittlere Sicht sogar für den Steuerzahler und den Staat rechnet.
Deutschlandradio Kultur: Herr Sommer, die FDP will den Kündigungsschutz eindeutig liberalisieren. Bei der Union ist man da noch unentschieden, da gibt’s verschiedene Auffassungen.
Michael Sommer: Die Kanzlerin ist da sehr entschieden. Die sagt Nein. Wen habe ich denn sonst als die Kanzlerin und die Parteivorsitzende als Referenzgröße für das, was die CDU will?
Deutschlandradio Kultur: Wie wäre es denn mit Folgendem? Vielleicht sagen Sie gleich, völlig absurde Idee, Blödsinn. Es gibt einen inneren Zusammenhang zwischen Kündigungsschutz auf der einen Seite und der extensiven Nutzung - um es positiv zu wenden - der Leiharbeit. Könnten Sie sich vorstellen, vielleicht dass man auch von Gewerkschaftsseite sagt, okay, gut, beim Kündigungsschutz sind gewisse Liberalisierungen möglich, wenn bitteschön bei der Leiharbeit endlich das equal pay berücksichtigt wird und die Ausnahmeregelungen wegfallen?
Michael Sommer: Sie fragen mich jetzt gerade so, als ob die "Spiegel"-Meldung stimmen würde, dass ich der dritte Verhandlungspartner am Koalitionstisch wäre. Dann könnte man die Frage wahrscheinlich anders beantworten.
Deutschlandradio Kultur: Aber Sie können sich ja was wünschen, auch wenn Sie nicht am Verhandlungstisch sitzen.
Michael Sommer: Ich kann sogar noch mehr machen. Ich kann Vorschläge machen. Ich kann mit dem einen oder anderen reden und versuchen, den davon zu überzeugen. Wir waren ja mit den Gewerkschaftsvorsitzenden mehrfach in diesem Jahr mit Spitzenpolitikern der Großen Koalition zusammen. Da haben wir natürlich auch über die Verwerfungen im Arbeitnehmerüberlassungsgesetz geredet und nicht mit dem Ziel, Leiharbeit abzuschaffen, sondern die tatsächlichen Verwerfungen, nämlich dass zum Beispiel equal pay wirklich verhindert wird, dass sie Löhne bis 30 Prozent unterlaufen und, und, und, dass wir da zu strukturellen Änderungen kommen - immer mit dem Ziel, nicht die Leiharbeit kaputtzumachen, sondern sie so zu gestalten, dass sie zu einem vernünftigen Instrument von Arbeitsmarktpolitik und Beschäftigung wird.
Ich gehe davon aus, dass die Verabredungen, die wir dort getroffen haben, auch mit der neuen Regierung halten, nämlich dass wir uns da auch in gemeinsamen Gruppen mal drüber unterhalten, wie man das machen kann. Ich hoffe sehr, dass einfach die Koalitionsvereinbarung an der Stelle letztendlich nicht mehr macht, als die Möglichkeit offenlegen.
Deutschlandradio Kultur: Also, der Kündigungsschutz ist für Sie in Stein gemeißelt und bei dem anderen soll was passieren?
Michael Sommer: Na, jetzt kommen wir noch mal zum Kündigungsschutz. Wenn Sie mal den Kündigungsschutz der Propaganda entkleiden, auch in den Wahlprogrammen, dann werden Sie feststellen, dass die Arbeitgeber mitnichten die Wahlfreiheit zwischen Abfindung und gesetzlichem Kündigungsschutz wollen, weil die nämlich wissen, das wäre teurer als die jetzige Regelung. Wir haben durch diverseste Untersuchungen nachgewiesen, dass nur 14 Prozent der Menschen, die gekündigt werden, überhaupt in den Genuss von Abfindungen kommen. Wenn die jetzt von vornherein die Wahlfreiheit hätten, würden wir davon ausgehen, dass die Zahl höher wäre.
Man wird glaub ich auch beim Kündigungsschutz, wenn man das klug machen will, ohne die eigentliche Regelung anzutasten, gibt's ja viele kleine Unternehmer, die ich mal so treffe, na ja, selbst wenn's Samstag auf dem Markt ist, die sagen: Kündigungsschutz ist deshalb Mist, weil ich hab keine Zeit, mich einen Tag vorm Arbeitsgericht zu finden. Das ist übrigens ein Punkt, den ich nachvollziehen kann, weil, der soll ja an dem Tag malern und nicht vorm Arbeitsgericht sitzen. Und der entlässt ja möglicherweise nicht immer nur aus bösen Gründen oder so. Da muss man sehen, ob man da Formen anderer Regularien, Vorformen von Regularien findet, wo man sich da verständigt. Es geht aber um die prinzipielle Frage. Der Kündigungsschutz ist eigentlich ein Ausfluss des Prinzips der Menschenwürde in unserem Grundgesetz, weil der Kündigungsschutz eigentlich sagt, nicht dass niemand gekündigt werden darf, sondern er sagt nur: Niemand darf sozial ungerecht gekündigt werden. Das ist der entscheidende Punkt. Das heißt, wir schließen Willkür aus. Wir schließen "hire and fire" aus. Das ist ein Punkt, über den lassen wir mit uns nicht reden. Es geht um das Grundprinzip, wie man Arbeitsbeziehungen in diesem Land anlegt, ob man das auf gleicher Augenhöhe macht oder ob man das im Wege der Ober- und Unterordnung macht, die es ja sowieso immer im Arbeitsleben gibt. An dieser Frage lassen wir dann allerdings wirklich nicht mit uns reden.
Deutschlandradio Kultur: Herr Sommer, ganz herzlichen Dank für das Gespräch.
Michael Sommer: So stark, dass die Schwachen sich schon auf die Gewerkschaften verlassen können. Was haben wir jetzt im DGB organisiert in unseren Mitgliedsgewerkschaften? Insgesamt 6,4 Millionen Mitglieder! Das ist mit Abstand das Beste, was Sie im Bereich von organisierter Interessenvertretung haben, weil, Sie können uns mit Kirchen, Glaubensgemeinschaften nur bedingt vergleichen. Wir sind in vielen Betrieben. Wir sind beherrschend, was alle Fragen der Gestaltung der Lebens- und Arbeitsbedingungen nach Artikel 9, Absatz 3 Grundgesetz, sprich, was die Tarifautonomie anbetrifft. Wir haben in diesem Land immer noch eine Tarifbindung weit über 50 Prozent. Wir haben schon was aufzuweisen. Und was die gesellschaftliche Rolle anbetrifft, sind wir wieder wichtiger geworden. Ich glaube, deswegen mache ich das auch mit einem gewissen Selbstbewusstsein.
Natürlich haben wir Mitglieder verloren. Das tut auch weh und das ist auch kein Grund, selbstzufrieden darüber hinwegzugehen wie manche Partei, die meint, man könne schon viele Mitglieder verlieren, das würde sich auf die Wähler nicht umschlagen. Wir wissen, dass die Stärke der Gewerkschaften letztendlich von der Zahl unserer Mitglieder und auch von ihrem Engagement abhängt, aber eben auch von der Zahl.
Wir sind auch nach 20, 25 Jahren Massenarbeitslosigkeit immer noch eine gesellschaftlich ganz entscheidende Kraft in diesem Land.
Deutschlandradio Kultur: Das ist ja unbestritten. Doch 6,3 oder 6,4 Millionen, wie Sie sagen, ist deutlich geringer als, was Sie noch vor zehn Jahren hatten. Der Trend muss aber irgendwann gestoppt werden, sonst leiden Sie an Muskelschwäche.
Michael Sommer: Das ist richtig. Ich mache das auch nicht mit Selbstzufriedenheit, dass ich da drüber hinweggehe. Wir haben vor drei Jahren eine sogenannte Aktion Trendwende eingeleitet, wo wir auf den verschiedensten Feldern versuchen, den Mitgliederschwund zu stoppen. Es ist uns auf zwei, den eigentlich wichtigsten Feldern, gelungen. Wir haben wieder deutlich mehr Mitglieder bei Jugendlichen, bei jungen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, Auszubildenden, aber auch Menschen, die übernommen werden. Und wir haben eine ganz positive Tendenz bei den berufstätigen Mitgliedern. Da haben wir auch im Saldo Gewinn.
Was uns nach wie vor Sorgen macht, ist auch bei uns die demographische Entwicklung. Wir haben eine überalterte Mitgliedschaft. Sehr viele Kolleginnen und Kollegen sind entweder im Rentenalter oder kurz davor, so dass wir uns einfach nur aufgrund dieser demographischen Entwicklung schon Gedanken darüber machen müssen, wie wir die Attraktivität erhöhen.
Wir haben große Schwierigkeiten bei kleinen und Kleinstbetrieben. Die werden noch verstärkt dadurch, dass auch dort bei den Arbeitgebern die Tarifbindung deutlich abnimmt. Das ist natürlich auch objektiv schwierig, den Bäcker um die Ecke zu organisieren oder auch den Friseurladen. Nichtsdestotrotz, die Aufgabe steht.
Bei jugendlichen Mitgliedern - würde ich sagen - ist Gott sei Dank die Tendenz eine andere. Da zahlt sich unsere sehr konsequente Politik für Ausbildungsplätze und für die Übernahme aus. Dort, wo wir Jugendliche tatsächlich im Betrieb haben, wächst die Zahl der Organisierten.
Frauen ist, glaub ich, eins der großen Organisationsbereiche, wo wir nach meiner Auffassung wesentlich besser sein könnten. Es hat auch ein bisschen was mit meiner persönlichen Biografie zu tun, warum ich da immer so besonders drauf gucke. Ich glaube schon, dass wir auch spezielle Beratungs- und Betreuungs- und, wenn Sie so wollen, auch Gestaltungsangebote für Kolleginnen machen müssen, die alleinerziehend sind. Das ist eine große Gruppe in diesem Land. Das ist eine, die sehr benachteiligt ist. Das ist eine, die nicht zum Prekariat gehört, die nicht abrutschen wollen, auch nicht wollen, dass ihre Kinder abrutschen, die aber teilweise unter extrem schwierigsten Bedingungen und zu extrem schlechten Bedingungen, übrigens auch schlechten Löhnen, arbeiten. Da würde ich mir wünschen, dass wir da noch wesentlich mehr Kraft reinsetzen würden. Ich glaube auch, dass das mit sehr treuen Kolleginnen und Kollegen in unseren Gewerkschaften honoriert würde.
Ich habe das während unserer Geburtstagsfeier auch selbstkritisch angemerkt, dass wir nach wie vor Nachholbedarf bei "gleichen Löhnen für gleiche Arbeit" haben.
Deutschlandradio Kultur: Sie haben es angesprochen. Für die Gewerkschaften ist es sicherlich wichtig, Verteilungsgerechtigkeit herzustellen. Das wird sicherlich aber auch schwierig sein in den nächsten Jahren, wo es eigentlich nicht so viel zu verteilen gibt, wenn wir uns die Wirtschafts- und Finanzkrise anschauen. Welche Schwerpunkte wollen Sie dann setzen, denn Tarifforderungen können es ja letztendlich nicht sein? Der große Schluck aus der Pulle wird’s nicht sein. Es gibt nicht viel zu verteilen.
Michael Sommer: Das weiß ich nicht so genau, wenn ich sehe, wie viel Reichtum insbesondere in den letzten Jahren angehäuft worden ist, wie viel Reichtum auch an den Weltbörsen verspielt wurde. Es ist ja nicht so, dass es in dieser Welt an Finanzen, an Kapital mangelt, sondern worunter wir ja leiden ist, dass mit diesem Kapital gespielt worden ist und dass es sehr ungleichmäßig verteilt worden ist. Von daher, Geld wäre da.
Wenn Sie jetzt die Frage stellen, haben Sie eine gute Idee, wie Sie sofort rankommen, würde ich sagen: Das ist ein bisschen schwieriger. Wir können natürlich mit tarifpolitischen Mitteln eine ungleiche Vermögensverteilung, Reichtumsverteilung kaum ändern. Das ist eine Sache, die müssen Sie letztendlich über Formen von gesellschaftlicher Umverteilung machen. Da wäre das Steuersystem, eins derjenigen, das wirklich gefragt wäre. Da hat es in den vergangenen Jahren zaghafte Ansätze gegeben. Ich befürchte nur, dass mit der neuen Koalition genau diese Ansätze wieder rückgängig gemacht werden.
Was die Einkommensverteilung anbetrifft, will ich schon sagen, dass wir aufgrund der verschlechterten Kampfbedingungen insbesondere auch im letzten Jahrzehnt - sprich Massenarbeitslosigkeit - wir natürlich auch bei der Einkommensverteilung nur zweiter Sieger geblieben sind. Wir haben in vielen Jahren die Reallöhne nicht sichern können. Und wenn Sie sich die Schere zwischen Einkommen aus Unternehmertätigkeit und Einkommen aus Arbeitnehmertätigkeit ansehen, dann sehen Sie, wie deutlich die Schere auseinandergegangen ist.
Deutschlandradio Kultur: Wie wird sich denn dann die Gewerkschaft in Zeiten von Schwarz-Gelb künftig positionieren? Sie haben ja zwei Möglichkeiten genannt. Sie sagten: Ja, Kooperation, aber an dem Punkt, wo es Ihnen nicht gefällt, ist auch Konfrontation möglich. - Wo ist der Punkt dann gekommen?
Michael Sommer: Wenn ich eins vorwegschicken darf. Die Menschen sind nicht nur bei Gewerkschaften und arbeiten mit Gewerkschaften zusammen und sehen in uns ihre Interessenvertretung, wenn wir Klamauk oder Krawall machen oder kämpfen. Ich will das jetzt gar nicht runterreden. Sondern die Menschen erwarten von uns eine sehr konsequente Form von Interessenvertretung und von Interessenpolitik. Diese Interessenpolitik müssen Sie so oder so wahrnehmen. Sie müssen beides können. Es ist wirklich dialektisch. Sie müssen verhandeln können, Sie müssen politisch Einfluss nehmen können. Und Sie müssen auf der anderen Seite natürlich auch in der Lage sein zu kämpfen, gesellschaftlich zu kämpfen - da haben wir viele Mittel -, aber Sie müssen natürlich auch in der Lage sein, tarifpolitisch zu kämpfen.
Ich warne allerdings vor der Annahme, man könne mit tarifpolitischen Mitteln Wählerentscheidungen korrigieren. Das kann man in keinem einzigen Politikfeld und man kann es nicht grundsätzlich. Es entspricht auch nicht dem Selbstverständnis von deutschen Gewerkschaften. Wir achten Demokratie, wir verteidigen sie sogar.
Deutschlandradio Kultur: Gut, aber wenn jetzt der Punkt erreicht ist, wo Sie sagen, hier ist jetzt Schluss, hier machen wir nicht mehr mit, welche Möglichkeiten haben Sie denn dann bei einem Konfrontationskurs? Ich erinnere daran, Sie haben mal eine halbe Million Menschen vor ungefähr fünf Jahren gegen die Agenda 2010 auf die Straße gebracht. Es hat nicht viel gebracht unterm Strich. Sie haben 200.000 Menschen im Herbst 2006 auf die Straße gebracht. Da ging es um Sozialabbau im Großen und Ganzen. Das hat am Ende auch nicht schrecklich viel gebracht. Jetzt im Mai 2009 waren es im Zuge der Wirtschafts- und Finanzkrise 100.000 Menschen, hat auch nicht so schrecklich viel gebracht. Welche Möglichkeiten haben Sie? Was sehen Sie da?
Michael Sommer: In allen drei Punkten würde ich Ihren Nachsatz nicht ganz teilen.
Deutschlandradio Kultur: Hab ich erwartet.
Michael Sommer: Das ist schon klar, wobei ich möglicherweise jetzt auch etwas deutlicher widerspreche, als ich das vielleicht früher getan hätte. Die große Demonstration in Berlin, ich glaube, das war am 3. April 2004, gegen die Agenda 2010 ist von der Regierung Schröder mit einem "Basta" ausgesessen worden. Jetzt können Sie nun nachdenken, ob das so eine kluge Politik von Schröder war, wenn Sie sehen, dass sich in der Zeit seit der Agenda die Wählerschaft der SPD halbiert hat und die Zahl ihrer Mitglieder auch.
Wenn Sie sich unsere drei Demonstrationen gegen eine falsche Sozialpolitik - es war ja nicht für eine grundsätzlich andere Politik, sondern gegen falsche Sozialpolitik - ansehen, dann müssen Sie sehen, wir haben tatsächlich diese von Ihnen genannte Zahl auf die Straße gebracht, unter anderem mit dem Thema: Leute lasst die Finger weg von der Rente mit 67, findet intelligentere Lösungen, die auch gerechter für die Menschen sind. Und dann fragen Sie mal nach, warum welches Wahlergebnis jetzt zustande gekommen ist.
Was jetzt die Frage der 100.000 in Berlin anbetrifft, die wir am 16. Mai hier hatten, dann kann ich Ihnen nur sagen: Dass das nichts gebracht hat, glaube ich schon deshalb nicht, weil wir mit dafür gesorgt haben, dass das Thema Regulierung der Finanzmärkte, obwohl es sperrig ist, auf der Tagesordnung geblieben ist, diese Große Koalition sich dessen angenommen hat. Im zweiten Teil gebe ich Ihnen allerdings Recht, nämlich bei der Frage: Wer bezahlt die Zeche für diese Krise? Die Frage ist bislang nicht positiv beantwortet.
Und ich kann nur sagen, wenn man, immer Ihrer Fragestellung folgend, daraus Schlussfolgerungen zieht, wäre man gut beraten, diese Frage doch dann positiver zu beantworten. Schröder hat das 2004 ignoriert. 2005/ 2006 wurden die großen Demonstrationen auch noch ignoriert. Jetzt in diesem Jahr haben sich alle möglichen Spitzenpolitiker am Montag nach der Demonstration bei mir gemeldet und haben gesagt: Ja, wir wollen und wir wollen mit Ihnen weiter reden. Wir wollen am Ball bleiben.
Ich behaupte, dass es nicht so ist, dass gesellschaftlicher Druck nichts bringt. Er bringt nur nichts automatisch. Ich kann nicht sagen, 500.000 bringen eine Regierung zum Wanken, 300.000 noch nicht. Wenn Sie allein sehen, was im Zuge des Wahlkampfes mit dieser doch relativ spontanen Anti-Atomkraftdemonstration, die wir in Berlin hatten, bewegt worden ist, auch politisch bewegt worden ist, dann würde ich sagen: Gesellschaftlicher Protest bringt durchaus was, genau auch wie tarifpolitische Auseinandersetzungen etwas bringen.
Ich bleibe nur dabei: Wenn man am 27. September sein Kreuzchen gemacht hat, dann hat man damit natürlich ein ganzes Politik-Potpourri gewählt - man wählt ja nicht nur für eine Frage - und für vier Jahre eine demokratische Legitimation gegeben. Das ist in unserem System so, auch völlig zurecht so. Das können Sie nicht alles mit gesellschaftlichen Kämpfen wegmachen. Sie können in Einzelpunkten sicherlich korrigieren. Sie können in Einzelpunkten möglicherweise auch eine andere Politik bewirken, aber nicht in der grundsätzlichen Anlage.
Deutschlandradio Kultur: Das sieht ja im Moment gar nicht so schlecht aus, wenn man die ersten Ergebnisse von Schwarz-Gelb sieht - beispielsweise Steuererleichterungen für Familien, Kindergeld soll erhöht werden. Das große Monster kommt da nicht. Das sieht eher so aus, als ob man da Korrekturen macht, die auch im Sinne der Gewerkschaften richtig sind.
Michael Sommer: Nun warten wir erst mal ab, getreu nach Helmut Kohl, was hinten rauskommt. Ich persönlich glaube schon, dass zumindest Teile der Union - einschließlich der Bundeskanzlerin - ein Stücken aus den Wahlen 2005 und aus der politisch-gesellschaftlich-ökonomischen Entwicklung der Jahre 2005 bis 2009 einige Lehren gezogen haben.
Wenn ich heute zum Beispiel mit führenden CDU-Politikern über Mitbestimmung spreche, dann ist das ein völlig anderes Gespräch, als ich das noch vor vier Jahren hatte, einfach, weil die jetzt - gerade auch in der Krise - gemerkt haben, welche Bedeutung Unternehmensmitbestimmung, betriebliche Mitbestimmung haben, um dieses Land, auch, wenn Sie so wollen, diese Gesellschaft und auch diese Ökonomie zu stabilisieren. Wenn ich mit denen heute über Mindestlöhne rede, dann sagen die, ja, es gibt Verwerfungen, die kann man auch nicht zulassen usw.
Auf der anderen Seite haben Sie natürlich in der Union nach wie vor die Kräfte, die früher durch Friedrich Merz repräsentiert wurden, und die Kräfte, die eigentlich klammheimliche FDP-Anhänger sind, die auch wahrscheinlich mit ihrer Zweitstimme der FDP zu 14 Prozent verholfen haben, die eine prinzipiell andere Politik wollen.
Die spannende Frage wird zum einen sein: Wie wird sich jetzt in den nächsten Tagen und Wochen dieses Kräfteverhältnis innerhalb der CDU umsetzen? Und zum zweiten: Wo entdeckt auch die FDP, dass sie mit 14 Prozent nicht mehr nur die Partei der Pöstchenjäger und Besserverdienenden sein kann?
Deutschlandradio Kultur: Was halten Sie eigentlich von der Idee der FDP, ein Bürgergeld einzuführen, also, alle Sozialleistungen zu bündeln, und die dann übers Finanzamt auszuzahlen?
Michael Sommer: Das halte ich für eine relativ große Mogelpackung, die letztendlich unsozial ist, weil sie natürlich auf den ersten Blick deutlich über dem liegt, was Hartz IV heute ausmacht. Da dann aber alle Leistungen zusammengepackt werden, wäre es eine deutliche Absenkung. Es wäre auch ein richtiger Systembruch, der zweite nach der Agenda 2010. Wir hatten ja die Agenda 2010, wo die meisten überhaupt nicht wissen, warum wir oder ich auch so prinzipiell dagegen sind. Weil es die Abkehr von der Lebensstandardsicherung in Wechselfällen des Lebens war und die Hinwendung zur Armutssicherung. Niemand stirbt mit Hartz IV. Das ist klar. Aber es ist was anderes, ob ich Hartz IV bekomme oder ob ich im Fall von Arbeitslosigkeit, auch länger anhaltender Arbeitslosigkeit einigermaßen den Lebensstandard halten kann.
Wenn jetzt dieses Bürgergeld á la FDP käme, hieße das, dass sie alle gleich behandeln würden, dass sie letztendlich alle Wechselfälle des Lebens nicht beantworten und deutlich die Sozialleistungen runtersetzen würden. Sie hätten überhaupt dann auch noch jeweils den Ansatzpunkt, um bei jeder finanziellen Krise des Staates zu sagen, na ja, 625 Euro, oder wie viel das sein sollen, müssen es ja nicht sein, das können ja auch 595 sein. Es wäre eine Abkehr von dieses Systems, was wir wollen, nämlich dass es schon eine Beziehung gibt zwischen der tatsächlichen Not und Bedürftigkeit und der Absenkung von Lebensstandard auf der einen Seite und dass wir das auf der anderen Seite auch einigermaßen sozial gerecht machen müssen.
Ich glaube übrigens nicht, dass es kommen wird. Eins kann man sagen: Die Agenda ist wahrscheinlich die große Ausnahme. In Deutschland sind Reformen, auch in sozialen Systemen, immer auf dem Pfad geblieben. Man hat nie den Pfad verlassen. Das würde wirklich zu einer totalen Umkehr führen.
Deutschlandradio Kultur: Aber Hartz IV, so wie wir es im Moment haben, macht Sie auch nicht glücklich. Das heißt, Sie fordern auch da Reformen.
Michael Sommer: Ja, natürlich. Zum einen müssen wir sehen, dass wir gerade jetzt in der Krise die Zahl derer, die in Hartz IV fallen könnten, nicht noch wesentlich steigern. Das heißt, wir müssen Zwischenwege finden, dass wir während der Dauer der Krise dafür sorgen, dass nicht noch mehr Menschen in Hartz IV kommen. Das heißt insbesondere auch, dass die, die wir in diesem Land die Leistungsträger nennen, weil die Krise oder die Beschäftigungslosigkeit zu lange andauert, ihren Job verlieren. Deswegen sind wir bei Überlegungen, krisenbedingt die Zahlung des Arbeitslosengeldes I zu verlängern oder analoge Systeme zu machen. Da muss man sich über die Finanzierung unterhalten.
Deutschlandradio Kultur: Genau, aber das ist ja der Punkt.
Michael Sommer: Die Finanzierung muss dann mindestens zum Teil aus Steuergeldern kommen, sonst geht das gar nicht. Die Alternative ist, um das mal ganz brutal zu sagen: Der 35-jährige Entwicklungsingenieur oder die 40-jährige Facharbeiterin fallen in Arbeitslosigkeit. Die sind dann im Zweifelsfall nach einem Jahr in Hartz IV. Denen ist mit der Verbesserung von Schonvermögen überhaupt nicht geholfen. Die brauchen andere Lösungen, zumal auch die deutsche Wirtschaft andere Lösungen braucht, weil das Fachkräfte sind, auf die sie wahrscheinlich in anderthalb oder zwei Jahren nicht verzichten wollen.
Aber noch mal zur prinzipiellen Frage Hartz IV: Wenn Sie sich die Sozialpolitik von Müntefering angefangen bis hin zu Scholz als Arbeitsminister ansehen, dann haben die alles getan, um den Zuzug zu Hartz IV nicht noch zu vergrößern. Ob Sie an die Kindergeldzahlungen denken, ob Sie an Wohngeldzahlungen denken, und, und, und. Immer im klaren Wissen, dass Hartz IV letztendlich eine Sauerei den Menschen gegenüber ist.
Jetzt können Sie da zwei Sachen ansetzen: Sie werden Hartz IV als System nicht wegkriegen - bei allen Schwächen. Dann haben wir uns entschieden zu sagen, dann wollen wir wenigstens grundlegende Verbesserungen bei Hartz IV, was die Zahlung der Grundvergütung anbetrifft, Kinder, und, und, und. Das würde helfen, würde das ein Stück beheben. Aber was es nicht behebt, ist die Tatsache, dass natürlich immer noch Hartz IV für die Betroffenen eine Sauerei ist und für die potenziell Betroffenen einen unglaublich hohen Angstfaktor darstellt. Das ist auch etwas, was wir der Sozialdemokratie immer gesagt haben, was die aber völlig unterschätzt haben. Das ist einer der Gründe, warum man in der SPD vielleicht mal drüber nachdenken sollte, warum man Wahlen verliert.
Deutschlandradio Kultur: Reden wir mal von denen, die noch nicht in Hartz IV sind, denen aber jetzt die Arbeitslosigkeit, das Arbeitslosengeld I droht. Wir alle wissen, die Zahl der Arbeitslosen wird in den nächsten Monaten krisenbedingt steigen, unter anderem auch weil den Unternehmen allmählich das Instrument der Kurzarbeit zu teuer wird. Wie kann man das lösen? Sollte man den Unternehmen noch weiter entgegenkommen, sie weiter entlasten an der Stelle?
Michael Sommer: Erst mal will ich das Positive sagen und dann kommen wir zu den Problemen. Dass wir jetzt diese großen Beschäftigungsbrücken gebaut haben, ist eine der großen sozialpartnerschaftlichen Leistungen dieses Landes. Und jetzt kommt der zweite Punkt: Sie haben Recht. Auch für die Unternehmen ist das natürlich teuer, weil denen laufen die Kapitalkosten weiter, bei denen läuft möglicherweise auch das weiter, was sie dann Lohnzusatzleistungen nennen, also, 13. Monatsgehalt und all das. Das muss auch finanziert werden, neben den vielen Erleichterungen, die der Staat gemacht hat.
Dann sage ich, wir brauchen den langen Atem, hoffentlich auch mit dem Ziel, jeweils da ranzukommen. Wir müssen jedes Instrument nutzen und, wenn es notwendig ist, müssen wir auch zusätzliche Instrumente seitens der öffentlichen Hand oder auch der Arbeitslosenversicherung bereitstellen. Nur viel mehr Olaf Scholz, Dieter Hundt und ich Anfang Mai vereinbart und unterschrieben haben, also diese wahnsinnigen Erleichterungen zum Beispiel bei Kurzarbeit, wenn die über ein halbes Jahr hinausgeht, dass man das auch kumulieren kann usw., dass auch Auszubildende mit in diese Programme reinkommen, dass Leiharbeiterinnen und Leiharbeiter da mit reinkommen, das sind ja alles unglaublich viele Sachen, dass wir die Schwellenwerte für die Kurzarbeit so ausgedehnt haben, dass auch jeder Handwerksbetrieb da rein kommt - viel mehr wird uns nicht einfallen.
Deswegen glaube ich schon, wird man wieder zu einem Politik-Mix kommen müssen, dass man dann den Firmen zum Beispiel auch deutlich dabei hilft, ihre Kapital- und Finanzierungskosten zu senken. Da ist die Regierung unmittelbar gefordert durch Regulierung, möglicherweise auch durch das, was Herr Steinbrück mal während des Wahlkampfs angekündigt hatte, nämlich eine Kreditvergabe unmittelbar durch den Staat und nicht mehr durch die Banken, wenn die Banken versagen. Das ist übrigens einer der wesentlichen Punkte, nach dem die Unternehmen in Wahrheit rufen.
Und wenn das alles nicht reicht, werden wir sehen müssen, dass wir zu Formen von "Vollzeitarbeitslosigkeitsbezahlung", böses Wort, aber zur Bezahlung von Arbeitslosen kommen, auch wenn sie Vollzeit sind, die trotzdem die Bindung an den Betrieb erhält und die möglicherweise über das normale Jahr hinausgeht, was wir bislang haben.
Deutschlandradio Kultur: Wie lange wollen Sie Kurzarbeitergeld in Betrieben zahlen, wo deutlich ist, dass es beispielsweise Überkapazitäten gibt, dass abgebaut werden muss? Man muss die Transformation irgendwann hinbekommen.
Michael Sommer: Sie müssen ja die Lücke füllen - die Lücke zwischen der Krise jetzt und dem Zeitpunkt, wo die Transformation gelungen ist. Jetzt sagen wir: Früher ist die Lücke damit gefüllt worden, dass man die Leute einfach auf die Straße gesetzt hat. Jetzt macht man es anders, durch Qualifikation und ähnliches mehr, allemal gesellschaftlich sinnvoller, menschlich sinnvoller und übrigens auch billiger als die Zahlung von Arbeitslosigkeit.
Ich kenne dieses Argument, was da lautet: Ihr behindert den Strukturbruch. Und ich sage: Genau das stimmt nicht. Was wir machen, ist, wir begleiten den Strukturbruch sozial. Wir schieben zum Beispiel alleine 700 Millionen Euro in die Innovation der Automobilindustrie. Auch das ist übrigens Teil des Konjunkturprogramms II. Das heißt, wir machen unglaublich viele Maßnahmen, die auch mit uns vereinbart worden sind, teilweise auch von uns entwickelt worden sind, um diesen Strukturbruch hinzukriegen.
Wogegen ich mich nur wehre, ist, zu sagen: Na ja, gut, die einen müssen eben leiden und die anderen können weiter verdienen. Ich glaube, da hat es einen Paradigmenwechsel in der deutschen Politik in den vergangenen Jahren gegeben. Wenn Sie sich die Kurven angucken, dann ist Deutschland von allen Industrienationen in punkto Entwicklung der Arbeitslosigkeit am besten, was ein Zeichen dafür ist, dass man auch das machen kann. Denn auch dort, wo man dann gesagt hat, wir machen die Art Strukturbrüche wie in USA und man muss die Leute dann eben entlassen, ist das ja nicht so, als ob die wesentlich weiter in der Wirtschaftsentwicklung wären. Das ist nur wesentlich unsozialer gelaufen. Von daher glaube ich schon, dass dieser neue Weg ein Weg ist, den man durchaus nicht nur begründen kann, sondern der sich auch auf mittlere Sicht sogar für den Steuerzahler und den Staat rechnet.
Deutschlandradio Kultur: Herr Sommer, die FDP will den Kündigungsschutz eindeutig liberalisieren. Bei der Union ist man da noch unentschieden, da gibt’s verschiedene Auffassungen.
Michael Sommer: Die Kanzlerin ist da sehr entschieden. Die sagt Nein. Wen habe ich denn sonst als die Kanzlerin und die Parteivorsitzende als Referenzgröße für das, was die CDU will?
Deutschlandradio Kultur: Wie wäre es denn mit Folgendem? Vielleicht sagen Sie gleich, völlig absurde Idee, Blödsinn. Es gibt einen inneren Zusammenhang zwischen Kündigungsschutz auf der einen Seite und der extensiven Nutzung - um es positiv zu wenden - der Leiharbeit. Könnten Sie sich vorstellen, vielleicht dass man auch von Gewerkschaftsseite sagt, okay, gut, beim Kündigungsschutz sind gewisse Liberalisierungen möglich, wenn bitteschön bei der Leiharbeit endlich das equal pay berücksichtigt wird und die Ausnahmeregelungen wegfallen?
Michael Sommer: Sie fragen mich jetzt gerade so, als ob die "Spiegel"-Meldung stimmen würde, dass ich der dritte Verhandlungspartner am Koalitionstisch wäre. Dann könnte man die Frage wahrscheinlich anders beantworten.
Deutschlandradio Kultur: Aber Sie können sich ja was wünschen, auch wenn Sie nicht am Verhandlungstisch sitzen.
Michael Sommer: Ich kann sogar noch mehr machen. Ich kann Vorschläge machen. Ich kann mit dem einen oder anderen reden und versuchen, den davon zu überzeugen. Wir waren ja mit den Gewerkschaftsvorsitzenden mehrfach in diesem Jahr mit Spitzenpolitikern der Großen Koalition zusammen. Da haben wir natürlich auch über die Verwerfungen im Arbeitnehmerüberlassungsgesetz geredet und nicht mit dem Ziel, Leiharbeit abzuschaffen, sondern die tatsächlichen Verwerfungen, nämlich dass zum Beispiel equal pay wirklich verhindert wird, dass sie Löhne bis 30 Prozent unterlaufen und, und, und, dass wir da zu strukturellen Änderungen kommen - immer mit dem Ziel, nicht die Leiharbeit kaputtzumachen, sondern sie so zu gestalten, dass sie zu einem vernünftigen Instrument von Arbeitsmarktpolitik und Beschäftigung wird.
Ich gehe davon aus, dass die Verabredungen, die wir dort getroffen haben, auch mit der neuen Regierung halten, nämlich dass wir uns da auch in gemeinsamen Gruppen mal drüber unterhalten, wie man das machen kann. Ich hoffe sehr, dass einfach die Koalitionsvereinbarung an der Stelle letztendlich nicht mehr macht, als die Möglichkeit offenlegen.
Deutschlandradio Kultur: Also, der Kündigungsschutz ist für Sie in Stein gemeißelt und bei dem anderen soll was passieren?
Michael Sommer: Na, jetzt kommen wir noch mal zum Kündigungsschutz. Wenn Sie mal den Kündigungsschutz der Propaganda entkleiden, auch in den Wahlprogrammen, dann werden Sie feststellen, dass die Arbeitgeber mitnichten die Wahlfreiheit zwischen Abfindung und gesetzlichem Kündigungsschutz wollen, weil die nämlich wissen, das wäre teurer als die jetzige Regelung. Wir haben durch diverseste Untersuchungen nachgewiesen, dass nur 14 Prozent der Menschen, die gekündigt werden, überhaupt in den Genuss von Abfindungen kommen. Wenn die jetzt von vornherein die Wahlfreiheit hätten, würden wir davon ausgehen, dass die Zahl höher wäre.
Man wird glaub ich auch beim Kündigungsschutz, wenn man das klug machen will, ohne die eigentliche Regelung anzutasten, gibt's ja viele kleine Unternehmer, die ich mal so treffe, na ja, selbst wenn's Samstag auf dem Markt ist, die sagen: Kündigungsschutz ist deshalb Mist, weil ich hab keine Zeit, mich einen Tag vorm Arbeitsgericht zu finden. Das ist übrigens ein Punkt, den ich nachvollziehen kann, weil, der soll ja an dem Tag malern und nicht vorm Arbeitsgericht sitzen. Und der entlässt ja möglicherweise nicht immer nur aus bösen Gründen oder so. Da muss man sehen, ob man da Formen anderer Regularien, Vorformen von Regularien findet, wo man sich da verständigt. Es geht aber um die prinzipielle Frage. Der Kündigungsschutz ist eigentlich ein Ausfluss des Prinzips der Menschenwürde in unserem Grundgesetz, weil der Kündigungsschutz eigentlich sagt, nicht dass niemand gekündigt werden darf, sondern er sagt nur: Niemand darf sozial ungerecht gekündigt werden. Das ist der entscheidende Punkt. Das heißt, wir schließen Willkür aus. Wir schließen "hire and fire" aus. Das ist ein Punkt, über den lassen wir mit uns nicht reden. Es geht um das Grundprinzip, wie man Arbeitsbeziehungen in diesem Land anlegt, ob man das auf gleicher Augenhöhe macht oder ob man das im Wege der Ober- und Unterordnung macht, die es ja sowieso immer im Arbeitsleben gibt. An dieser Frage lassen wir dann allerdings wirklich nicht mit uns reden.
Deutschlandradio Kultur: Herr Sommer, ganz herzlichen Dank für das Gespräch.