DGB: Ausbildungs-Erfolgsstatistiken sind falsch

Ingrid Sehrbrock im Gespräch mit André Hatting |
Der Deutsche Gewerkschaftsbund hat die Betriebe aufgerufen, auch schwächere Schulabgänger auszubilden. Die stellvertretende DGB-Bundesvorsitzende Ingrid Sehrbrock fordert, die Firmen müssten ihrer gesellschaftlichen Verantwortung nachkommen und denen eine Chance geben, die sonst keine hätten. Dafür gebe es Hilfsangebote von der Bundesanstalt für Arbeit.
André Hatting: Heute beginnt in Deutschland das neue Ausbildungsjahr. Die Arbeitsagenturen haben noch immer über 100.000 freie Lehrstellen. Nach Jahren des Mangels hat sich die Lage scheinbar entspannt. Wie gesagt: scheinbar. Zu einem anderen Ergebnis kommt eine aktuelle Studie des Deutschen Gewerkschaftsbundes. Der DGB hat untersucht, wie sich die Zahl der jungen Menschen ohne Ausbildung entwickelt hat. Da könnte man ja meinen: Mehr Lehrstellen, das bedeutet am Ende auch mehr Menschen mit einer Ausbildung. - Aber genau das ist nicht der Fall. Seit zehn Jahren liegt der Anteil junger Menschen ohne Ausbildung konstant bei 15 Prozent, das sind über zwei Millionen. Ingrid Sehrbrock ist stellvertretende Bundesvorsitzende des DGB und jetzt am Telefon. Guten Morgen, Frau Sehrbrock!

Ingrid Sehrbrock: Guten Morgen, Herr Hatting!

Hatting: Die Lissabon-Strategie der EU wollte die Zahl der Ausbildungslosen halbieren, es gibt einen Ausbildungspakt in Deutschland mit der Industrie, mehrere Bildungsgipfel wurden zu diesem Thema veranstaltet, Ihre Studie zeigt jetzt, genützt hat das nichts. Warum?

Sehrbrock: Ja, wir stellen fest, es gibt da eine "Generation abgehängt". Wir haben im Übrigen schon seit Längerem die Zahlen angezweifelt, die der Ausbildungspakt vorgelegt hat. Sie wissen, dass die Bundesregierung zusammen mit den Arbeitgebern, aber auch mit der Bundesagentur für Arbeit sich jährlich mehrfach trifft, um Maßnahmen zu besprechen, um Jugendliche in Ausbildung zu bringen, und sie stellen auch am Ende des Vermittlungsjahrs fest, wie groß die Ausbildungslücke tatsächlich ist. Und die Lage in den letzten Jahren, in den letzten vier Jahren zwischen 9000 und 14.000. Wenn Sie so einen Mittelwert nehmen, meinetwegen 10.000, und rechnen das auf zehn Jahre hoch, dann müssten wir etwa 110 ... , Entschuldigung, dann müssten wir 100.000 Jugendliche ohne Ausbildung haben. Tatsache ist aber, die Zahl liegt bei 1,5 Millionen bei den 20- bis 29-Jährigen, und wenn Sie die bis 34 zurechnen, dann sind wir bei 2,2 Millionen. Also die Statistiken, die in den letzten Jahren als Erfolgsmeldung auf den Tisch gelegt worden sind, die stimmen nicht. Wir haben eine "Generation abgehängt".

Hatting: Woran liegt das, kann die Bundesregierung nicht rechnen, oder mit welchen Zahlen arbeiten Sie?

Sehrbrock: Nein, das hat natürlich mit der Statistik was zu tun. Zum einen ist es so, dass ja jährlich die BA ein sogenanntes Profiling macht mit jungen Menschen, die sich bewerben, und da fallen schon sehr, sehr viele raus, weil sie aus Sicht der BA noch nicht ausbildungsfähig sind. Die tauchen natürlich auch nicht in der Statistik auf. Das ist das eine, damit wird die Bewerberzahl runtergerechnet. Zum Zweiten haben wir ja dieses Übergangssystem zwischen Ausbildung und Schule oder Schule und Ausbildung, wo viele junge Leute in Maßnahmen landen, in schulischer Ausbildung, in Trainings, in Vorbereitungen, aber keinen Ausbildungsplatz finden. Die fallen auch aus der Statistik heraus. Das sind mindestens 80.000 jedes Jahr, die eigentlich eine Ausbildung suchen, die werden nicht bei der offiziellen Statistik berücksichtigt. Und dann kommt man natürlich zu sehr positiven Ergebnissen, aber wie gesagt, jetzt zeigt sich: Das stimmt alles nicht, sondern da gibt es große Zahlen von jungen Leuten, die überhaupt nicht berücksichtigt werden und keine Ausbildung haben.

Hatting: Was ich besonders erschreckend finde, ist, dass fast genauso viele Abiturienten wie Jugendliche ohne Schulabschluss davon betroffen sind. Wie kommt das denn?

Sehrbrock: Ich glaube, da gibt es keinen Zusammenhang. Also wir müssen bei den Abiturienten vermuten - da haben wir jetzt keine exakten Angaben, dass da viele dabei sind, die auch sozusagen ein Studium begonnen haben und es abgebrochen haben. Es sind sicherlich auch viele dabei, die direkt einen Ausbildungsplatz gesucht haben und keinen gefunden haben, aber ich denke, da gibt es keinen Zusammenhang, das ist eher Zufall.

Hatting: Was bedeuten Ihre Zahlen für den Fachkräftemangel in Deutschland?

Sehrbrock: Ja, das heißt: Da gibt es noch erhebliche Potenziale. Also ich denke, die Betriebe müssen weg von ihrer bisherigen Strategie, sich die Allerbesten auszusuchen, sondern wir wollen ja auch, dass junge Leute möglichst ihren Unterhalt selber verdienen können, nicht abhängig sind von Sozialleistungen. Das geht aber nur mit einer Ausbildung. Und deshalb denke ich, ist es wichtig, dass die Betriebe - was im Übrigen schon einige große machen - auch die Schwächeren ausbilden. Da gibt es ausbildungsbegleitende Hilfen, jetzt schon, die die BA finanziert, also da denke ich, werden auch die Unternehmen ein Stück unterstützt. Manche Betriebe wählen auch ganz bewusst etwa eine Quote aus, die sie für junge Leute mit schlechten Schulabschlüssen reservieren für die Ausbildung. Da gibt es viele Möglichkeiten. Ich denke, hier sind die Betriebe gefordert, denen jetzt auch eine Chance zu geben, die bisher keine Chance hatten.

Hatting: Aber ist das nicht nachvollziehbar, dass sich Betriebe natürlich die Besten aussuchen?

Sehrbrock: Ja, aber wissen Sie: Wir haben früher auch die Situation gehabt, dass auch die Schwächeren eine Chance hatten, da hat sich früher der Meister nebendran gesetzt und hat mit ihnen Mathe und Deutsch und weiß ich was gebüffelt. Das war nicht nötig in den letzten Jahren, weil das Angebot so groß war, da konnten die Betriebe auswählen. Aber das führt natürlich zu den Ergebnissen, die wir jetzt auf dem Tisch haben. Und da gibt es auch eine gesellschaftliche Verantwortung von Betrieben, und es gibt ja auch eben Hilfen - sie müssen es ja nicht alleine tun, es gibt Maßnahmen unterschiedlichster Art. Übrigens haben auch die Tarifpartner Vereinbarungen getroffen, beispielsweise die Gewerkschaft IG BCE, es gibt einen Tarifvertrag in der Metallindustrie, die ein Angebot machen, dass junge Leute vor der eigentlichen Ausbildung eine Qualifizierung erhalten, aber schon einen Ausbildungsvertrag, sodass sie auch noch mal vorbereitet werden und dann die Ausbildung machen. Das hat sich jedenfalls in einigen Bereichen sehr bewährt, und in diese Richtung könnte man weitergehen, um solche Ergebnisse für die Zukunft zu verhindern.

Hatting: Ingrid Sehrbrock war das, stellvertretende Bundesvorsitzende des DGB. Ich bedanke mich für das Gespräch, Frau Sehrbrock!

Sehrbrock: Bitte sehr!

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