Deutschlands kleinster Urwald

Von Dirk Asendorpf · 16.10.2011
Wie würde sich Natur entwickeln, wenn der Mensch nicht eingriffe? Die Frage ist in Deutschland kaum noch zu beantworten. Fast jeder Hektar wird irgendwie genutzt. Nur wenige Schutzgebiete sind davon verschont, eines der kleinsten ist die Insel Vilm südostlich von Rügen.
Hans Dieter Knapp: "Ladies and Gentlemen, dear colleagues, it's a real pleasure for me to welcome you at this Isle of Vilm at the International Academy of Nature Conservation, my name is Hans Knapp ..."

Hans Dieter Knapp ist in seinem Element. Der groß gewachsene Biologe mit dem rauschenden weißen Haar empfängt eine Gruppe vietnamesischer Journalisten zu einer Führung über "seine" Insel. Seit der Gründung im Wendejahr 1990 leitet er die Internationale Naturschutzakademie auf der kleinen Insel Vilm vor der Südostküste Rügens. Viele Tausend Teilnehmer haben seitdem an Tagungen und Workshops teilgenommen, auf einer Weltkarte am Eingang der Akademie sind die 160 Länder markiert, aus denen sie kamen.

"Es macht einen großen Unterschied, ob man sich in einem klimatisierten, kunstlichtbeleuchteten Konferenzraum am Flughafen trifft und arbeitet oder an einem Ort wie diesem inmitten von Natur, wie es sie nur an wenigen Orten in Deutschland noch gibt – (Atmo Laubfrosch) – mit Stille, das wird von Gästen aus Großstädten und Ballungsräumen mit Erstaunen und Verwunderung wahrgenommen, dass es einen Ort gibt, an dem nur natürliche Geräusche vorkommen."

Heiße Debatten über Klimawandel, Meeresschutz oder Biodiversitäts-Strategien können auf der Insel Vilm mit einem Spaziergang durch den kühlen Naturwald befruchtet werden. 300, 400 Jahre alte Baumriesen säumen den schmalen Pfad, der sich nah am Ufer rund um die halbe Insel schlängelt. Äste die ab- und Stämme die umfallen bleiben im Unterholz liegen. Seit 500 Jahren wird die Insel nicht mehr forstwirtschaftlich genutzt, seit 1936 steht sie unter Naturschutz. Immer wieder geht der Blick vom Steilufer weit hinaus über die Ostsee, davor dehnt sich ein einsamer Sandstrand.

"We have sea eagel as a predator …"

"How big are they?"

"Giant uhhh … - one of the largest ..."

Im hinteren Teil der Insel brüten Seeadler, dort ist sie für Menschen komplett gesperrt. Und außer den Tagungsgästen darf niemand auf Vilm wohnen. Das war vor Gründung der Naturschutzakademie anders. Ab 1960 war Vilm für die Öffentlichkeit tabu. Denn hier verbrachten die Minister der DDR ihre Ferien. Elf schmucke mit Reet gedeckte Häuser wurden damals gebaut, das größte war für Walter Ulbricht bestimmt. Jetzt beherbergen sie die Gästezimmer der Naturschutzakademie.

Wolfgang Brzyk hatte das Bauprojekt 1960 geleitet. Heute ist er mit Frau und Tochter zum ersten Mal wieder auf die Insel zurückgekehrt. Und freut sich, dass sich der Wald unangetastet entwickeln konnte. Nicht jeder hatte damals Verständnis dafür.

"Da gab es den Spruch von der Insel der Verdammten (lacht), aber es hat sich alles dann in Wohlgefallen ergeben. Sicher gab es Bestrebungen einzelner Objektleiter, die meinten, Ordnung müsse sein, der Wald müsste aufgeräumt werden, die verfallenen morschen Bäume müssten entsorgt werden. Dem musste auf zentrale Weisung, wie man so schön sagt, Einhalt geboten werden, diesem Bestreben. Das ist ja dann auch eingehalten worden, weitgehendst. Der Eindruck, den ich heute hier gewonnen habe, ist so, als wenn ich vor einigen Wochen hier gewesen wäre. Und das ist inzwischen 50 Jahre her, wo ich nach 50 Jahren das erste Mal wieder diese Insel hier betreten konnte."

Nicht nur auf den Projektleiter von damals, auch auf die Gäste von heute übt die Naturwaldinsel die erwünschte Wirkung aus. Cam Nhung ist Morgenmoderatorin im vietnamesischen Staatsfernsehen. Dass ihre goldenen Stoffschühchen nach dem Inselrundgang ruiniert sind, schmälert ihre Begeisterung für den Naturwald nicht im geringsten.

Pham Cam Nhung: "Ich bin zum ersten Mal in so einem alten Biosphärenreservat. Das ist völlig anders als alles, was ich im tropischen Vietnam gesehen habe. Und ich würde mir wünschen, dass es immer mehr solcher Naturreservate auf der Welt gäbe. Denn sie kühlen die Erde und retten sie vor der Umweltverschmutzung. Wir wissen doch alle, dass Bäume und Tiere gefährdet sind. Wir brauchen solche Schutzgebiete, um möglichst viele Tier- und Pflanzenarten zu bewahren."

Hans Dieter Knapp hört es gerne. Rund 40 Mitarbeiter des Bundesamts für Naturschutz kommen täglich auf die Insel, um das Akademieprogramm zu organisieren, an Konzept- und Strategiepapieren für den Naturschutz zu arbeiten, Tagungsgäste zu versorgen. Doch die müssen jetzt leider aufbrechen.

Ein Elektrowagen bringt das Gepäck zum kleinen Anleger, die Gäste gehen zu Fuß. Das Schiff wartet schon mit laufendem Motor, dem ersten, der an diesem Tag zu hören ist. Keine 15 Minuten dauert die Rückfahrt nach Rügen, doch nach zwei Tagen Vilm fühlt sie sich an wie ein Sprung aus dem Paradies ins Industriezeitalter.