Deutschland und die westliche Wertegemeinschaft

Von Alexander Gauland |
Sie haben es sehr wichtig mit ihren Achsen und Widerlagern. Während die einen luftig den deutschen Weg ausrufen und eine neue Achse von Moskau über Berlin nach Paris legen, beschwören die anderen das amerikanische Bündnis.
Und wo die einen vor deutschem Selbstbewusstsein strotzen und deshalb Vetomacht werden möchten, streben die anderen zurück in die gute alte Zeit, als die Welt noch geteilt, Amerika für uns Vater- und Mutterersatz und Gut und Böse klar geschieden waren.

Ein wenig erinnert der Kampf der Atlantiker Merkel und Pflüger gegen die neue Unbedenklichkeit an die verzweifelten Versuche Metternichs und des Zaren Alexander nach dem politischen Ende Napoleons Gemeinsamkeiten in der Heiligen Allianz zu beschwören, die mangels individualisierbarem äußeren Feind immer kleiner wurden.

Auch damals war von einer Wertegemeinschaft die Rede, denn nichts anderes war die Beschwörung der monarchischen Legitimität und die Aufrechterhaltung der in Wien geschaffenen Ordnung. Und schon damals war es unmöglich, das Auseinanderdriften der Pentarchie zu verhindern. Die monarchische Legitimität hatte ihren Sinn gegen den korsischen Thronräuber und etwaigen Nachahmer, sie machte keinen mehr gegenüber einem Frankreich, auf dessen Thron der Nachfolger des Heiligen Ludwig saß. Nun muss man Putin nicht gleich zum legitimen Erben der Zaren erklären, aber soviel ist doch richtig an dem Bild: Mit dem Untergang der welterobernden kommunistischen Ideologie ist das Land außenpolitisch – wie einst das Zarenreich – auf Normalmaß geschrumpft, eine Großmacht am Rande Europas, in der die meisten von uns nicht leben möchten, aber eben keine Bedrohung für alle und jeden, sondern allenfalls für diejenigen, die russische Erde losgerissen haben in Kiew, Minsk oder dem Kaukasus.

Mit dem Ende der großen Furcht und der europäischen Teilung rücken alle europäischen Staaten wieder in jene historischen Positionen ein, aus denen sie Hitler und Stalin endgültig vertrieben zu haben glaubten. Und da sind Deutschland und Russland trotz ihrer wirtschaftlichen Schwierigkeiten natürlich wieder ein wenig zu groß und zu mächtig für Engländer, Franzosen und Italiener, aber eben auch für Tschechen, Polen, Letten und Litauer und deren historisches Gedächtnis.

Das heißt, sie entwickeln sofort die Neigung, die Reihen gegen einen oder beide zu schließen, nicht militärisch, aber politisch. So wie Bismarck zwischen Frankreich und Russland dringend einen Verbündeten suchte und statt dem mächtigen England am Ende nur das schwächelnde Österreich fand, ist auch die heutige deutsche Politik auf Einbindung, Alliierte und Partner angewiesen und das Ceterum Censeo der Atlantiker lautet, das könne nur Amerika sein. Nun ist es bestimmt richtig, dass es nicht klug wäre, sich mit der stärksten Macht auf der Welt anzulegen, doch zum utopischen Großbritannien des 21. Jahrhunderts würden die Amerikaner nur dann taugen, wenn eine europäisch-amerikanische Interessenidentität bestünde. Doch diese gibt es kaum noch an beiden Küsten des Atlantiks. Ob wirtschaftlich, gesellschaftspolitisch oder strategisch, das alte Europa setzt zunehmend andere Prioritäten, nicht zuletzt deswegen, weil die Abneigung gegen Putin viele geringer ist als die Furcht vor Stalin oder dem großen Korsen es waren. Adenauers Staatsräson des gleichen Abstandes zwischen Paris und Washington war im westlichen Glasperlenspiel konsequent, in einer Welt der Globalisierung wäre sie so hilfreich wie die dauernde Selbstständigkeit Bayerns zwischen Deutschem Reich und Österreich-Ungarn. Was die Atlantiker wie die Konstrukteure von historischen Achsen bei ihren Mahnungen gern übersehen, sind die Veränderungen seit 1950 oder gar seit 1890, denn wo 1890 Deutschland und England sich auf Augenhöhe gegenüberstanden und Amerikas Patronat 1950 der angstfreien Einbindung Deutschlands in den Westen diente, kämen wir heute in die Rolle Bayerns und Badens bei der Kaiserkrönung. Ludwig II. durfte dem preußischen König die deutsche Kaiserkrone anbieten und der Großherzog von Baden das erste Hoch ausbringen. Allein eingebettet in europäische Strukturen als Schutzmacht der kleineren Länder Europas und damit – historisch bedingt – in wahrnehmbarem Sicherheitsabstand zu Moskau können wir zwei Gefahren bannen: aus der Vergangenheit die Gefahr deutscher Unverträglichkeit, für die Zukunft die der Handlungsunfähigkeit. Zwischen China, Russland und Amerika würde eine deutsch-amerikanische Sonderbeziehung wie das Bündnis von Goethes Landesherren Karl August mit Preußens Friedrich oder die Verbindung von Hessen-Darmstadt mit dem ersten Napoleon wirken. Denn das ist das Neue seit 1989: Die Welt der europäischen Großstaaten, also die Welt zwischen 1870 und 1914 ist global neu erstanden, nur heißen die Mitglieder der neuen Pentarchie heute nicht Frankreich, England, Russland, Deutschland und Österreich-Ungarn sondern Amerika, Russland, China, Japan und Indien und vielleicht einmal in der Zukunft Europa. Doch in einer solchen Welt ist eine nahtlose Übereinstimmung zwischen Europa und Amerika eher unwahrscheinlich und schon gar nicht durch ideologische Anleihen bei der geteilten Welt von gestern zu erzwingen. Es stimmt immer noch, was Palmerston einmal in den Satz fasste: "Es gibt keine ewigen Freundschaften, es gibt nur ewige Interessen." Und die bringen Europa manchmal aber eben nicht immer an die Seite der USA.

Dr. Alexander Gauland, geboren 1941 in Chemnitz, ist Herausgeber der Märkischen Allgemeinen Zeitung in Potsdam. Von 1987 bis 1991 war er Staatssekretär und Chef der hessischen Staatskanzlei. Anfang der 70er Jahre hatte Gauland im Presse- und Informationsamt der Bundesregierung gearbeitet. Als Publizist hat er zahlreiche Artikel und Beiträge zu gesellschaftspolitischen Fragen, zur Wertediskussion und des nationalen Selbstverständnisses veröffentlicht. Letzte Buchveröffentlichung: "Anleitung zum Konservativsein".