Deutschland kafkaesk

Rezensent: Andreas Baum |
In seinem Essayband "Was zur Wahl steht" aus dem Suhrkamp Verlag analysiert der Soziologe Ulrich Beck die Lage in Deutschland und vergleicht das Verhalten der Deutschen mit dem des Gregor Samsa in Kafkas "Verwandlung". Er fordert eindringlich dazu auf, statt kurzfristigem Aktionismus langfristige Perspektiven zu entwickeln. Keine Partei traut sich seiner Ansicht nach, das Land wirklich grundlegend zu verändern.
Um zu verstehen, in welcher Lage Deutschland ist, bietet uns Ulrich Beck ein Bild aus der Weltliteratur an. Es ist das Bild des Gregor Samsa am Morgen nach seiner Verwandlung. Gleich der Hauptfigur aus Kafkas Novelle seien wir – nicht über Nacht, aber auch, ohne es zu bemerken - etwas ganz anderes geworden, als wir noch gestern waren.

Deutschland hat sich verwandelt. Es ist nicht mehr das Wirtschaftswunderland Adenauers, in dem Wachstum alle Probleme löst. Aber genauso wie Gregor Samsa weigern sich die Deutschen, anzuerkennen, dass sie sich verwandelt haben.

Es wird eine vorübergehende Krankheit sein, mutmaßt Samsa an seinem ersten Morgen als Käfer und beschließt, ein bisschen länger liegen zu bleiben. Später zappelt er mit seinen dünnen Käferbeinchen und scheitert daran, mit seinem zahnlosen Mund die Tür zu öffnen. So tun es auch die Deutschen.

Wir müssen aber, sagt Beck, akzeptieren, dass wir und die Welt um uns herum sich verändert haben, um in die Lage zu geraten, unsere politischen, ökonomischen und sozialen Probleme zu lösen. Wir leben in einer Welt, die globalisiert ist. Nationale Lösungen sind fast völlig wirkungslos. Wir sind, ökonomisch jedenfalls, weitgehend "ausgewachsen". Wir müssen lernen, mit dem Vorhandenen zurechtzukommen. Und wir leben in einer Gesellschaft, in der Produktivität und die Effizienz der Maschinen so groß ist, dass nicht mehr genug Arbeit für alle da ist.

Was aber tun wir?

Wir versuchen, mit den Rezepten von gestern die Krankheiten des Heute zu heilen. Anstatt global zu spielen, bleiben wir national-kurzsichtig und verordnen unserem Sozialstaat eine Hungerkur, an der er verenden könnte. Wir schreien verzweifelt nach Wachstum wie nach einem Gott, der uns nicht erhören will. Und vor allem:

Anstatt zu verstehen, dass wir eine Gesellschaft sind, die reich ist, obwohl oder gerade weil in ihr immer weniger gearbeitet wird, versprechen die Politiker aller Parteien in diesem Wahlkampf, dass sie Arbeit schaffen wollen – manche offenbar um jeden Preis, das Dogma von der Vollbeschäftigung ist so wirkungsmächtig, dass Menschen eher gezwungen werden, sinnlose Arbeiten für eine symbolische Bezahlung auszuführen, als zu akzeptieren, dass sie untätig bleiben. Von rechts bis links hat keine Partei den Mut einzugestehen, dass es nicht mehr Arbeit geben wird.

Was also steht zur Wahl?

Ulrich Beck macht keinen Hehl aus seiner Ansicht, dass keine der Parteien das Land grundlegend ändern wird. Er selbst, so gesteht er, würde einen Gerhard Schröder wählen, der umsetzt, was er 1998 versprochen hat. Der aber steht nicht zur Wahl.

Die echte Freiheit zu wählen müssen sich die Deutschen selbst schaffen. Er fordert sie auf, zu einer "Gesellschaft des Weniger" zu gelangen, er warnt Eltern davor, ihre Kinder dem Exzellenz-Kult der Pisa-Schock-Zeit zu opfern. Er will, dass der Mut aufgebracht wird, "flussaufwärts zu blicken": Ist es wirklich so, dass wir mit dem Strom der Zeit mitmüssen, ohne eine Wahl zu haben? Oder sind bestimmte Entwicklungen doch umkehrbar. Kann die Politik die Wirtschaft doch beeinflussen, steuern und besteuern?

Darüber hinaus plädiert er für gemeinsame Lösungen und den Blick über den nationalen Gartenzaun. Die Diskussionen um Pendlerpauschalen, Dosenpfand und Eigenheimzulage hingegen führen an den eigentlichen Problemen vorbei.

Ulrich Becks kurzes Essay ist schnell geschrieben – oder schnell umgeschrieben - worden, um noch in diesem Sommer veröffentlicht werden zu können. Es ist ein gutes, leicht zu lesendes Gegenmittel gegen die drohende Sprachverwirrung des Wahlkampfes, verzichtet dabei allerdings auf tiefer gehende Analysen der Situation.

"Was zur Wahl steht" versucht, den Kopf freizumachen für die Fragen, auf die es eigentlich ankommt. Antworten gibt das Buch nicht, und das ist zweifellos seine Stärke.

Ulrich Beck: Was zur Wahl steht
Suhrkamp, 127 Seiten, 7 €