"Deutschland ist die Hoffnung Europas"
Als größte Volkswirtschaft und bevölkerungsreichstes Land Europas trägt Deutschland eine besondere Verantwortung, sagt der Präsident des EU-Parlaments, Jerzy Buzek. Und er warnt: Ein Zusammenbruch Griechenlands wäre ein Schlag für die gesamte europäische Wirtschaft.
Deutschlandradio Kultur: Heute mit Patrick Garber und ich bin zu Gast beim Präsidenten des Europäischen Parlaments, bei Professor Jerzy Buzek in dessen Brüsseler Büro. Guten Tag, Herr Buzek und dzień dobry.
Jerzy Buzek: Schönen guten Tag.
Deutschlandradio Kultur: Sie sind Pole, Herr Buzek, Sie kommen aus dem äußersten Süden Polens, Ihr Elternhaus steht ganz nahe an der Grenze zu Tschechien. Und Sie sind, anders als die allermeisten Ihrer Landsleute, kein Katholik, Sie sind Mitglied der Evangelischen Kirche. Haben diese biographischen Besonderheiten Sie prädestiniert, Europa-Politiker zu werden?
Jerzy Buzek: Nein, ich glaube nicht, dass meine evangelische Konfession mich irgendwie dazu prädestiniert hat, mich mit europäischen Angelegenheiten zu beschäftigen. Aber vielleicht meine Herkunft aus Schlesien, weil in Schlesien sich schon immer Nationalitäten, Konfessionen, Religionen und Lebensweisen gemischt haben. Und dadurch sind die Schlesier daran gewöhnt, dass man Dinge unterschiedlich sehen kann, dass man sich darüber verständigen muss. Das erleichtert es mir sehr, mich in Europa zu bewegen. Ich bin stolz, ein Pole aus Schlesien zu sein.
Deutschlandradio Kultur: Sie sind Europapolitiker, im Moment ist es kein großes Vergnügen, Europapolitiker zu sein, denn Europa ist in einer Krise. Machen Sie sich Sorgen wegen dieser Krise, ist es eine ernste Krise?
Jerzy Buzek: Ich mache mir große Sorgen, so wie alle Europäer, über das, was in Griechenland geschieht. In gewissem Sinne verstehen wir die Reaktionen der Griechen, aber wir wissen auch, dass man Reformen durchführen, dass man Verantwortung übernehmen muss. Jetzt ist Griechenland am Zug, denn die Griechen haben viele Jahre lang Beweise der europäischen Solidarität erfahren. Nicht alles in diesem Land ist ideal abgelaufen und darum muss das nun repariert werden. Den ersten Schritt muss Griechenland tun, die weiteren muss die internationale Gemeinschaft gehen. Auf dem Tisch liegen Angebote des Internationalen Währungsfonds, der Europäischen Union, die Europäische Zentralbank ist auch eingebunden, um den Griechen zu helfen. Ohne diese Hilfe würden öffentliche Verwaltung und Wirtschaft in Griechenland schon längst nicht mehr funktionieren. Anfang Juli werden sich die Finanzminister der Euro-Gruppe treffen, um weitere Hilfsmaßnahmen zu verabreden. Darum gehe ich davon aus, dass es gelingen wird, diese Krise zu meistern.
Deutschlandradio Kultur: Sie haben gerade das polnische Wort "Solidarność" benutzt. Solidarność hat in Ihrem Leben eine große Rolle gespielt, Sie waren über viele Jahre ein Führungsmitglied der polnischen Gewerkschaft "Solidarität". Die europäische Solidarität ist jetzt bedroht, reißen die Interessengegensätze zwischen armen Ländern, reichen Ländern, Geberländern, Nehmerländern neue Gräben auf in der Europäischen Union?
Jerzy Buzek: Solidarität wird eigentlich nur dann wirklich benötigt, wenn es solche Interessengegensätze gibt. Denn wenn unsere Interessen identisch sind, brauchen wir keine Solidarität, sondern erledigen einfach gemeinsam unsere gemeinsamen Angelegenheiten. In der Europäischen Union hat es immer Interessengegensätze gegeben, bei denen die Solidarität schließlich gewonnen hat. Dies ist nicht die erste Krise und es ist auch keine umfassende Krise des Euro, sondern es ist lediglich eine Störung des finanziellen Gleichgewichts in einigen Euro-Ländern. Und denen muss man natürlich helfen. Ich wundere mich nicht, dass die Menschen sich in so einer Krise erst einmal abschotten, die Krise zunächst auf eigene Faust bewältigen wollen, bis sich zeigt, dass dies nicht geht, dass man gemeinsam handeln muss. Natürlich erfordert Solidarität Verantwortungsbewusstsein. Und dieses Verantwortungsbewusstsein erwarten wir jetzt zuerst von den Griechen, dann wird Europa sich solidarisch zeigen, da bin ich mir sicher, denn das ist auch in unserem Interesse.
Deutschlandradio Kultur: Sie haben die unterschiedlichen wirtschaftlichen Ausgangsbedingungen der Mitgliedsländer angesprochen. Damit es nicht wieder zu einer Krise kommt – brauchen wir so etwas wie eine europäische Wirtschaftsregierung, die wirtschaftliche, aber auch soziale Dinge wie Renten-Eintrittsalter und anderes europäisch vereinheitlicht oder zumindest europäisch organisiert?
Jerzy Buzek: In der Europäischen Union sind wir so organisiert, dass ein Teil der Zuständigkeiten bei den Mitgliedsländern liegt, ein Teil bei den Europäischen Institutionen. Daher sind für Dinge wie Strukturreformen oder das Rentenalter oder andere Reformen auf dem Arbeitsmarkt die Mitgliedsländer zuständig. Darum ist es gut, dass die Mitgliedsländer im Rahmen des Euro-Plus-Abkommens begonnen haben, dies zu überdenken. Und es ist wichtig, diese Dinge von der Ebene der Mitgliedsstaaten auf die europäische Ebene zu verlagern, dann wird es besser. Wir arbeiten schon an der engeren wirtschaftlichen Verschränkung, das nennt sich "six-pack", also sechs Gesetzgebungsverfahren, welche die gemeinsame wirtschaftliche Entwicklung Europas erleichtern.
Das ist wichtig, denn wir brauchen nicht nur eine Währungsgemeinschaft, sondern auch eine Wirtschaftsgemeinschaft. Und die bauen wir jetzt auf. Ich bin überzeugt, das wird ähnlich ablaufen wie mit Schengen. Denn der Schengen-Prozess hat angefangen mit zwischenstaatlichen Vereinbarungen und dann hat sich gezeigt, dass man das auf die europäische Ebene ausweiten kann. Ich hoffe nur, dass uns die Prinzipien von Schengen erhalten bleiben, denn die Europäer fürchten sich, dass wir die Grenzen zueinander wieder schließen, und damit würden wir eine der wichtigsten Errungenschaften der Europäischen Union verlieren. Zumindest in den Ländern, die ich kenne, die ich besucht habe, sagen die Bürger, es sei für sie sehr wichtig, dass sie sich frei bewegen können in Europa.
Deutschlandradio Kultur: Trotzdem – jetzt bei dieser Krise spielen die Hauptrolle die Mitgliedsländer, der Europäische Rat, die Euro-Finanzminister. Erwarten Sie in dieser Lage ein bisschen mehr Führung, vielleicht vom wohlhabendsten Mitgliedsland, von Deutschland?
Jerzy Buzek: Die Übernahme der Ratspräsidentschaft durch Polen ist sicher eine Hoffnung für die EU, weil die europäische Integration in Polen ungeheuer starken Rückhalt hat. Wir sind da in Polen sehr enthusiastisch. Aber ein Land wie Deutschland trägt immer Verantwortung für die Integration, denn das ist die größte Volkswirtschaft, das bevölkerungsreichste Land. Und seit Jahrzehnten ist es so, dass Deutschland ganz natürlich, nicht unter Zwang, sondern völlig natürlich, bei der Integration den Ton angegeben hat. Ich war kürzlich auf einer Konferenz der Konrad-Adenauer-Stiftung und dort habe ich gesagt: Wir haben heute keine Angst mehr voreinander, sondern es gibt große Erwartungen und viel Hoffnung in Bezug auf Deutschland, dass es wieder große europäische Solidarität zeigt.
Ich weiß, das ist sehr schwierig für Deutschland, denn die deutschen Bürger zweifeln, ob sie wirklich weiter zahlen und anderen helfen sollen. Aber man muss sich klar machen, dass man, wenn man anderen hilft, auch sich selbst hilft. Denn ein Zusammenbruch Griechenlands würde einen Bruch für die gesamte europäische Wirtschaft bedeuten. Das wäre deutlich teurer und schlimmer für die Bürger als die Unterstützung Griechenlands. Das ist so wie in einer Familie: Dort versucht man auch, sich gegenseitig zu helfen. Und wenn man der Schwester, dem Bruder, den Eltern oder Kindern hilft, dann wird die Familie als Ganzes stärker. So müssen wir es heute in Europa halten, auch wenn das ist nicht leicht ist. Und darum sage ich ganz einfach: Deutschland ist die Hoffnung Europas. Das ist für mich eine sehr wichtige Botschaft.
Deutschlandradio Kultur: Sie haben gerade schon die polnische Ratspräsidentschaft erwähnt, die mit dem 1. Juli begonnen hat. Können die Polen im kommenden halben Jahr eigentlich mehr tun als Krisen-Management, können sie eigene Akzente setzen?
Jerzy Buzek: Natürlich muss man zuerst auf unmittelbare Bedrohungen und Ereignisse reagieren. Da ist die Krise, da ist die Situation in Nordafrika und dem Nahen Osten und wir wissen nicht, was sonst noch geschehen wird. Die Ratspräsidentschaft wird sich damit konkret beschäftigen müssen und ich zweifle nicht, dass die polnische Regierung das mit Hilfe des polnischen Parlaments tun wird. Außerdem müssen Dutzende europäischer Treffen, die in Polen stattfinden werden, organisiert werden, denn wir wollen uns als gut organisiertes und funktionierendes Land präsentieren. Die Hauptaufgabe der Präsidentschaft wird sicher die Überwindung der Krise sein, durch Hilfen für kleine und mittlere Unternehmen, durch Stärkung des Binnenmarkts, durch den mittelfristigen Finanzrahmen der EU, der uns einen Entwicklungsschub für viele Jahre bringen soll. Und gerade auch in der Krise sorgen sich die Bürger um ihre Sicherheit – sichere Energieversorgung etwa, damit es uns nicht an Strom oder Gas mangelt. Oder sichere Grenzen, Stichwort Frontex. Damit wir uns im Inneren frei bewegen können, die äußeren Grenzen der EU aber geschützt werden. Auch unsere gemeinsame europäische Verteidigung oder die Lebensmittel-Sicherheit. Darum geht es bei der polnischen Ratspräsidentschaft. Und natürlich die Öffnung nach außen: nach Süden, das ist heute am wichtigsten, also Nordafrika und der Nahe Osten, aber wir dürfen auch den Osten nicht vergessen. Denn wir können nicht ständig zwischen dem Süden und dem Osten hin und her springen, beide Zielrichtungen sind wichtig. Und sie widersprechen einander nicht, sondern ergänzen sich.
Deutschlandradio Kultur: Gerade der Blick nach Osten ist der polnischen Ratspräsidentschaft ja sehr wichtig, also der Blick auf die Ukraine, auch in den Kaukasus. Alle Augen sind jedoch jetzt im Rest Europas auf den Süden und auch nach Westen gerichtet. Ist es jetzt ein guter Zeitpunkt, Interesse zu wecken bei den übrigen europäischen Ländern und Bürgern für eine engere Zusammenarbeit etwa mit der Ukraine?
Jerzy Buzek: Das Interesse für den Osten ist etwas Natürliches und Dauerhaftes. Wir haben schon lange Partnerschaften mit Ländern im Osten, ich selbst war kürzlich im Süd-Kaukasus, habe in Armenien, Georgien, Aserbaidschan Gespräche geführt. Das ist wichtig für Europa. Natürlich ist heute der Süden am wichtigsten und ich bin sicher, dass die polnische Ratspräsidentschaft sich vor allem darum kümmern wird. Aber wie gesagt: Alle Partnerschaften sind wichtig, auch wenn zur Zeit das, was im Süden geschieht, am wichtigsten ist.
Deutschlandradio Kultur: Die europäische Nachbarschaftspolitik beschäftigt sich mit engerer Zusammenarbeit, allerdings noch nicht mit Aufnahmeperspektiven. Eine Aufnahmeperspektive hat Kroatien – 2013 soll Kroatien in die EU aufgenommen werden, andere Länder auf dem Balkan machen sich auch Hoffnungen. Ist die EU inzwischen nicht zu groß, um noch mehr Länder aufzunehmen, gerade nach den Erfahrungen, die man jetzt mit Bulgarien und Rumänien gemacht hat, die nicht hundertprozentig positiv waren?
Jerzy Buzek: Was heutzutage für unsere europäischen Bürger bedrohlich wirkt, kommt von außen: Die Krise wurde aus den USA importiert, deren Wirtschaft zur Zeit in schlechterem Zustand ist als die europäische. Die Terrorgefahr ist eine äußere. Sichere Energieversorgung, Klimaschutz oder die großen Migrationsbewegungen, das sind Probleme, die Europa nach außen hin lösen muss. In der Welt zählen nur die Großen. Selbst die größten Einzelstaaten der EU sind im Vergleich mit China, Indien oder auch den USA eher klein. Darum müssen wir unsere Anstrengungen bündeln, damit wir stärker sind und Einfluss nehmen können auf die globale Politik. Das sind die heutigen Anforderungen an europäische Politik.
Daher liegt die immer tiefere europäische Integration im Interesse jedes europäischen Bürgers, damit Europa nach außen hin stark ist, seine Bürger vor äußeren Bedrohungen bewahren kann und gleichzeitig den Binnenmarkt stärken oder die Energieversorgung durch bessere grenzüberschreitende Netze sichern. Schauen Sie zwischen Polen und Deutschland oder Litauen, da fehlt es an ausreichenden Erdgasleitungen, sodass wir uns nicht gegenseitig mit Gas aushelfen können. Ähnlich sieht es zwischen Frankreich und Spanien aus. Wir haben viele Gemeinschaftsaufgaben, die wir gemeinsam lösen sollten.
Deutschlandradio Kultur: Trotzdem noch einmal zurück zur Frage der Erweiterung, da gibt es in Europa ganz unterschiedliche Auffassungen, gerade wenn wir zum Beispiel auf den Fall Türkei schauen. Polen ist eher ein Land, das für eine Erweiterung der Europäischen Union durchaus offen ist, in Frankreich und auch in Deutschland gibt es da eine gewisse Reserviertheit. Wie ist Ihre Ansicht dazu, gerade zur Türkei als EU-Mitglied?
Jerzy Buzek: Wichtig ist nicht, ob die EU noch ein bisschen größer wird oder nicht, sondern ob wir sie innerlich vernünftig organisieren. Das versuchen wir schon die ganze Zeit zu verbessern, der Vertrag von Lissabon bietet uns dafür enorme Chancen. Ich würde mir keine Sorgen machen, wenn auch Kroatien und der ganze Balkan dazukommen und vielleicht in Zukunft, in sehr ferner Zukunft die EU sich weiter öffnen würde. Es ist wichtig, dass wir groß und stark, vor allem aber gut organisiert sind. Kroatien und andere westliche Balkan-Länder stehen vor großen Möglichkeiten, doch die Türkei ist eine andere Frage. Denn die Türken haben die enorme Aufgabe, die Kopenhagener Kriterien zu erfüllen, was nicht leicht ist. Da bleibt in der Türkei immer noch sehr viel zu tun. Hier geht es um unsere grundlegenden Prinzipien, unsere Wertvorstellungen, von denen wir nicht abrücken. Diese grundlegenden Werte sind in den Kopenhagener Kriterien niedergelegt, die derzeit die Länder des westlichen Balkans mit einiger Mühe umzusetzen versuchen. Wenn wir die große Krise rund um Nord-Zypern beilegen könnten – dadurch wird ja die Möglichkeit eines Beitritts der Türkei zu EU völlig blockiert – dann würden wir über die weiteren Schritte nachdenken. Aber heute ist dieser Weg in gewissem Sinn verschlossen.
Deutschlandradio Kultur: Sie haben gerade erwähnt, dass auch die Europäische Union selbst sich intern erst einmal besser organisieren muss und dazu gehört natürlich auch das Geld. Derzeit sind Haushalts-Verhandlungen im Gange, es geht um die Finanzplanung für die Jahre 2014 bis 2020. Die Bewilligung des Haushalts ist ein traditionelles Königsrecht jedes Parlaments, welche Akzente will das Europaparlament jetzt bei den Haushalts-Beratungen setzen?
Jerzy Buzek: Das Europaparlament ist überzeugt, dass der Haushalt verantwortbar sein muss, denn wir leben in schwierigen Zeiten. Die Mitgliedsländer sparen und auch auf EU-Ebene muss man das tun. Aber der EU-Haushalt wird zu fast 95 Prozent für Investitionen genutzt, zur Entwicklung des Unternehmertums, zur Schaffung neuer Arbeitsplätze. Alle Projekte wie Infrastruktur, Bahn- und Straßenverbindungen, Energie- und Internet-Leitungen verbessern unseren gemeinsamen europäischen Markt. Alle Aktivitäten im Bereich Forschung und Entwicklung neuer Technologien machen uns konkurrenzfähiger, was auch wieder neue Arbeitsplätze bedeutet. Nur 5 Prozent des EU-Haushalts wird für Verwaltung und Ähnliches ausgegeben. Es gibt keinen anderen Haushalt innerhalb der EU, der diese Relation schafft. Außerdem kann man manche Probleme eben nur auf europäischer Ebene lösen, zum Beispiel haben wir unseren Europäischen Auswärtigen Dienst, um die EU gut nach außen zu repräsentieren und unsere Bürger vor äußeren Bedrohungen zu schützen. Es gibt immer mehr solcher Gemeinschaftsaufgaben, die ihrerseits dann die nationalen Haushalte entlasten, die Mitgliedsländer sparen dadurch einiges. Eine weitere Gemeinschaftsaufgabe wäre ein gemeinsames europäisches Verteidigungssystem, das würde in den nationalen Verteidigungshaushalten viel Geld sparen. Und so ist es mit vielen anderen Dingen. Darum ist dieser Haushalt so wichtig und das Europaparlament schlägt eine wirklich nur geringe Steigerung vor, damit wir all die gemeinschaftlichen Politiken realisieren können, auf die sich die Mitgliedsländer geeinigt haben. Das wird den Bürgern zugutekommen und dabei ist die wichtigste Aufgabe die Schaffung von Arbeitsplätzen, vor allem für junge Menschen. In vielen Gegenden Europas liegt die Jugendarbeitslosigkeit über 30 Prozent.
Deutschlandradio Kultur: So viel zur Ausgabenseite, es gibt auch Diskussionen über die Seite der Einnahmen. Die Kommission hat vorgeschlagen, eine eigene europäische Steuer zu erheben, zum Beispiel eine Finanztransaktionssteuer. Wozu um Himmels Willen jetzt auch noch EU-Steuern, wo die Bürger doch für ihre nationalen Budgets mehr als genug an Abgaben zahlen müssen?
Jerzy Buzek: Gut dass Sie fragen, da gibt es einige Missverständnisse. Der Vorschlag, dem EU-Haushalt eigene Einnahmen zu verschaffen, die ihm direkt zufließen, zielt darauf ab, die nationalen Haushalte zu entlasten. Damit aus den Haushalten der Mitgliedsstaaten weniger Steuermittel an die EU abgeführt werden müssen. Es geht uns nicht darum, zusätzliche Steuern zu erheben. Sondern eigene direkte Einnahmen der EU bedeuten, dass sie weniger Zuwendungen aus den Haushalten der Mitgliedländer benötigt. Jetzt ist es doch so, dass in regelmäßigen Abständen die 27 Mitgliedsstaaten am runden Tisch zusammenkommen und sich in die Haare geraten, sich streiten, das sind äußerst schwierige und erregte Diskussionen. Das möchten wir vermeiden. Die Bürger sollen auf keinen Fall zusätzlich belastet werden, sie sollen nicht mehr Steuern zahlen, sondern eher weniger. Und die Mitgliedsländer sollen sich nicht immer wieder über den Haushalt streiten müssen. Es wird dann einfacher in der EU, mit weniger Konflikten, das ist unser Ziel.
Ich erinnere daran, dass vor 30, 40 Jahren der EU-Haushalt zu mehr als der Hälfte aus eigenen Einnahmen bestritten wurde und nur ein kleiner Teil aus Zuwendungen der nationalen Haushalte kam. Kehren wir doch zu diesem guten Grundsatz zurück, auf dem früher der EU-Haushalt beruht hat. Ich weiß, Sie würden jetzt gerne Details hören, aber ehrlich gesagt, im Europaparlament kennen wir selbst noch nicht die Einzelheiten. In den nächsten Wochen wird die Diskussion sich unter der polnischen Ratspräsidentschaft entwickeln. Ich freue mich, dass die vorangegangene ungarische Ratspräsidentschaft das Europaparlament von Anfang an in diese Diskussion einbezogen hat, denn am Ende der Haushalts-Beratungen kann das Parlament nur ja oder nein sagen, es kann im Grunde nichts mehr am Budget-Entwurf ändern. Doch wenn es von Anfang an in die Beratungen eingebunden ist, dann fällt es den Abgeordneten am Ende leichter zuzustimmen, denn sie verstehen, worum es geht. Wenn man ihnen aber einfach einen fertigen Haushalt auf den Tisch legt, von dem sie nicht wissen, wie er zustande gekommen ist, dann sagen viele eher nein.
Dieser Haushalt wird die Antwort darauf sein, ob wir solidarisch sein wollen, ob das Prinzip Freiheit und Verantwortung, ich betone Verantwortung, weiter in der EU gilt, ob wir mehr gemeinsamen Markt wollen, besser transnationale Verbindungen, ob wir gemeinsam unsere Grenzen schützen, ob wir mit 500 Millionen Bürgern und der größten Volkswirtschaft der Welt gemeinsam auf die Weltpolitik einwirken wollen. Das sind die Aufgaben. Wir wollen ein global player sein, denn nur die entscheiden über die Zukunft. Wir wollen auch gut mit den Vereinigten Staaten zusammenarbeiten und das geht nur, wenn wir unsere Anstrengungen bündeln, um auf Entscheidungen auf der anderen Seite des Atlantiks Einfluss zu nehmen. Unser transatlantisches Bündnis ist für beide Seiten von größter Bedeutung. Und es lohnt sich, dass wir uns darum in der EU gemeinsam kümmern.
Deutschlandradio Kultur: Herr Professor Buzek, am Sonntag feiern Sie Geburtstag, dazu schon einmal herzlichen Glückwunsch. Was würde sich der Europapolitiker Jerzy Buzek wünschen, wenn es egal wäre, wie realistisch dieser Wunsch ist?
Jerzy Buzek: Meine Wünsche, ja meine Träume haben sich in meinem Leben schon erfüllt. Vor 25, 30 Jahren habe ich nur davon geträumt, in einem freien Land zu leben, mehr nicht. Und heute bin ich Abgeordneter, sogar Präsident des Europaparlaments. Mehr wage ich eigentlich gar nicht zu wünschen, denn ich finde, dass wir uns in der Europäischen Union Erfolg einfach verdient haben, durch die schwere Arbeit hunderter Millionen von Europäern. Und wenn Sie mich persönlich fragen, dann wünsche ich mir etwas ganz gewöhnliches: Gesundheit, für mich und meine Familie.
Deutschlandradio Kultur: Vielen Dank, Herr Buzek, für dieses Gespräch.
Jerzy Buzek: Schönen guten Tag.
Deutschlandradio Kultur: Sie sind Pole, Herr Buzek, Sie kommen aus dem äußersten Süden Polens, Ihr Elternhaus steht ganz nahe an der Grenze zu Tschechien. Und Sie sind, anders als die allermeisten Ihrer Landsleute, kein Katholik, Sie sind Mitglied der Evangelischen Kirche. Haben diese biographischen Besonderheiten Sie prädestiniert, Europa-Politiker zu werden?
Jerzy Buzek: Nein, ich glaube nicht, dass meine evangelische Konfession mich irgendwie dazu prädestiniert hat, mich mit europäischen Angelegenheiten zu beschäftigen. Aber vielleicht meine Herkunft aus Schlesien, weil in Schlesien sich schon immer Nationalitäten, Konfessionen, Religionen und Lebensweisen gemischt haben. Und dadurch sind die Schlesier daran gewöhnt, dass man Dinge unterschiedlich sehen kann, dass man sich darüber verständigen muss. Das erleichtert es mir sehr, mich in Europa zu bewegen. Ich bin stolz, ein Pole aus Schlesien zu sein.
Deutschlandradio Kultur: Sie sind Europapolitiker, im Moment ist es kein großes Vergnügen, Europapolitiker zu sein, denn Europa ist in einer Krise. Machen Sie sich Sorgen wegen dieser Krise, ist es eine ernste Krise?
Jerzy Buzek: Ich mache mir große Sorgen, so wie alle Europäer, über das, was in Griechenland geschieht. In gewissem Sinne verstehen wir die Reaktionen der Griechen, aber wir wissen auch, dass man Reformen durchführen, dass man Verantwortung übernehmen muss. Jetzt ist Griechenland am Zug, denn die Griechen haben viele Jahre lang Beweise der europäischen Solidarität erfahren. Nicht alles in diesem Land ist ideal abgelaufen und darum muss das nun repariert werden. Den ersten Schritt muss Griechenland tun, die weiteren muss die internationale Gemeinschaft gehen. Auf dem Tisch liegen Angebote des Internationalen Währungsfonds, der Europäischen Union, die Europäische Zentralbank ist auch eingebunden, um den Griechen zu helfen. Ohne diese Hilfe würden öffentliche Verwaltung und Wirtschaft in Griechenland schon längst nicht mehr funktionieren. Anfang Juli werden sich die Finanzminister der Euro-Gruppe treffen, um weitere Hilfsmaßnahmen zu verabreden. Darum gehe ich davon aus, dass es gelingen wird, diese Krise zu meistern.
Deutschlandradio Kultur: Sie haben gerade das polnische Wort "Solidarność" benutzt. Solidarność hat in Ihrem Leben eine große Rolle gespielt, Sie waren über viele Jahre ein Führungsmitglied der polnischen Gewerkschaft "Solidarität". Die europäische Solidarität ist jetzt bedroht, reißen die Interessengegensätze zwischen armen Ländern, reichen Ländern, Geberländern, Nehmerländern neue Gräben auf in der Europäischen Union?
Jerzy Buzek: Solidarität wird eigentlich nur dann wirklich benötigt, wenn es solche Interessengegensätze gibt. Denn wenn unsere Interessen identisch sind, brauchen wir keine Solidarität, sondern erledigen einfach gemeinsam unsere gemeinsamen Angelegenheiten. In der Europäischen Union hat es immer Interessengegensätze gegeben, bei denen die Solidarität schließlich gewonnen hat. Dies ist nicht die erste Krise und es ist auch keine umfassende Krise des Euro, sondern es ist lediglich eine Störung des finanziellen Gleichgewichts in einigen Euro-Ländern. Und denen muss man natürlich helfen. Ich wundere mich nicht, dass die Menschen sich in so einer Krise erst einmal abschotten, die Krise zunächst auf eigene Faust bewältigen wollen, bis sich zeigt, dass dies nicht geht, dass man gemeinsam handeln muss. Natürlich erfordert Solidarität Verantwortungsbewusstsein. Und dieses Verantwortungsbewusstsein erwarten wir jetzt zuerst von den Griechen, dann wird Europa sich solidarisch zeigen, da bin ich mir sicher, denn das ist auch in unserem Interesse.
Deutschlandradio Kultur: Sie haben die unterschiedlichen wirtschaftlichen Ausgangsbedingungen der Mitgliedsländer angesprochen. Damit es nicht wieder zu einer Krise kommt – brauchen wir so etwas wie eine europäische Wirtschaftsregierung, die wirtschaftliche, aber auch soziale Dinge wie Renten-Eintrittsalter und anderes europäisch vereinheitlicht oder zumindest europäisch organisiert?
Jerzy Buzek: In der Europäischen Union sind wir so organisiert, dass ein Teil der Zuständigkeiten bei den Mitgliedsländern liegt, ein Teil bei den Europäischen Institutionen. Daher sind für Dinge wie Strukturreformen oder das Rentenalter oder andere Reformen auf dem Arbeitsmarkt die Mitgliedsländer zuständig. Darum ist es gut, dass die Mitgliedsländer im Rahmen des Euro-Plus-Abkommens begonnen haben, dies zu überdenken. Und es ist wichtig, diese Dinge von der Ebene der Mitgliedsstaaten auf die europäische Ebene zu verlagern, dann wird es besser. Wir arbeiten schon an der engeren wirtschaftlichen Verschränkung, das nennt sich "six-pack", also sechs Gesetzgebungsverfahren, welche die gemeinsame wirtschaftliche Entwicklung Europas erleichtern.
Das ist wichtig, denn wir brauchen nicht nur eine Währungsgemeinschaft, sondern auch eine Wirtschaftsgemeinschaft. Und die bauen wir jetzt auf. Ich bin überzeugt, das wird ähnlich ablaufen wie mit Schengen. Denn der Schengen-Prozess hat angefangen mit zwischenstaatlichen Vereinbarungen und dann hat sich gezeigt, dass man das auf die europäische Ebene ausweiten kann. Ich hoffe nur, dass uns die Prinzipien von Schengen erhalten bleiben, denn die Europäer fürchten sich, dass wir die Grenzen zueinander wieder schließen, und damit würden wir eine der wichtigsten Errungenschaften der Europäischen Union verlieren. Zumindest in den Ländern, die ich kenne, die ich besucht habe, sagen die Bürger, es sei für sie sehr wichtig, dass sie sich frei bewegen können in Europa.
Deutschlandradio Kultur: Trotzdem – jetzt bei dieser Krise spielen die Hauptrolle die Mitgliedsländer, der Europäische Rat, die Euro-Finanzminister. Erwarten Sie in dieser Lage ein bisschen mehr Führung, vielleicht vom wohlhabendsten Mitgliedsland, von Deutschland?
Jerzy Buzek: Die Übernahme der Ratspräsidentschaft durch Polen ist sicher eine Hoffnung für die EU, weil die europäische Integration in Polen ungeheuer starken Rückhalt hat. Wir sind da in Polen sehr enthusiastisch. Aber ein Land wie Deutschland trägt immer Verantwortung für die Integration, denn das ist die größte Volkswirtschaft, das bevölkerungsreichste Land. Und seit Jahrzehnten ist es so, dass Deutschland ganz natürlich, nicht unter Zwang, sondern völlig natürlich, bei der Integration den Ton angegeben hat. Ich war kürzlich auf einer Konferenz der Konrad-Adenauer-Stiftung und dort habe ich gesagt: Wir haben heute keine Angst mehr voreinander, sondern es gibt große Erwartungen und viel Hoffnung in Bezug auf Deutschland, dass es wieder große europäische Solidarität zeigt.
Ich weiß, das ist sehr schwierig für Deutschland, denn die deutschen Bürger zweifeln, ob sie wirklich weiter zahlen und anderen helfen sollen. Aber man muss sich klar machen, dass man, wenn man anderen hilft, auch sich selbst hilft. Denn ein Zusammenbruch Griechenlands würde einen Bruch für die gesamte europäische Wirtschaft bedeuten. Das wäre deutlich teurer und schlimmer für die Bürger als die Unterstützung Griechenlands. Das ist so wie in einer Familie: Dort versucht man auch, sich gegenseitig zu helfen. Und wenn man der Schwester, dem Bruder, den Eltern oder Kindern hilft, dann wird die Familie als Ganzes stärker. So müssen wir es heute in Europa halten, auch wenn das ist nicht leicht ist. Und darum sage ich ganz einfach: Deutschland ist die Hoffnung Europas. Das ist für mich eine sehr wichtige Botschaft.
Deutschlandradio Kultur: Sie haben gerade schon die polnische Ratspräsidentschaft erwähnt, die mit dem 1. Juli begonnen hat. Können die Polen im kommenden halben Jahr eigentlich mehr tun als Krisen-Management, können sie eigene Akzente setzen?
Jerzy Buzek: Natürlich muss man zuerst auf unmittelbare Bedrohungen und Ereignisse reagieren. Da ist die Krise, da ist die Situation in Nordafrika und dem Nahen Osten und wir wissen nicht, was sonst noch geschehen wird. Die Ratspräsidentschaft wird sich damit konkret beschäftigen müssen und ich zweifle nicht, dass die polnische Regierung das mit Hilfe des polnischen Parlaments tun wird. Außerdem müssen Dutzende europäischer Treffen, die in Polen stattfinden werden, organisiert werden, denn wir wollen uns als gut organisiertes und funktionierendes Land präsentieren. Die Hauptaufgabe der Präsidentschaft wird sicher die Überwindung der Krise sein, durch Hilfen für kleine und mittlere Unternehmen, durch Stärkung des Binnenmarkts, durch den mittelfristigen Finanzrahmen der EU, der uns einen Entwicklungsschub für viele Jahre bringen soll. Und gerade auch in der Krise sorgen sich die Bürger um ihre Sicherheit – sichere Energieversorgung etwa, damit es uns nicht an Strom oder Gas mangelt. Oder sichere Grenzen, Stichwort Frontex. Damit wir uns im Inneren frei bewegen können, die äußeren Grenzen der EU aber geschützt werden. Auch unsere gemeinsame europäische Verteidigung oder die Lebensmittel-Sicherheit. Darum geht es bei der polnischen Ratspräsidentschaft. Und natürlich die Öffnung nach außen: nach Süden, das ist heute am wichtigsten, also Nordafrika und der Nahe Osten, aber wir dürfen auch den Osten nicht vergessen. Denn wir können nicht ständig zwischen dem Süden und dem Osten hin und her springen, beide Zielrichtungen sind wichtig. Und sie widersprechen einander nicht, sondern ergänzen sich.
Deutschlandradio Kultur: Gerade der Blick nach Osten ist der polnischen Ratspräsidentschaft ja sehr wichtig, also der Blick auf die Ukraine, auch in den Kaukasus. Alle Augen sind jedoch jetzt im Rest Europas auf den Süden und auch nach Westen gerichtet. Ist es jetzt ein guter Zeitpunkt, Interesse zu wecken bei den übrigen europäischen Ländern und Bürgern für eine engere Zusammenarbeit etwa mit der Ukraine?
Jerzy Buzek: Das Interesse für den Osten ist etwas Natürliches und Dauerhaftes. Wir haben schon lange Partnerschaften mit Ländern im Osten, ich selbst war kürzlich im Süd-Kaukasus, habe in Armenien, Georgien, Aserbaidschan Gespräche geführt. Das ist wichtig für Europa. Natürlich ist heute der Süden am wichtigsten und ich bin sicher, dass die polnische Ratspräsidentschaft sich vor allem darum kümmern wird. Aber wie gesagt: Alle Partnerschaften sind wichtig, auch wenn zur Zeit das, was im Süden geschieht, am wichtigsten ist.
Deutschlandradio Kultur: Die europäische Nachbarschaftspolitik beschäftigt sich mit engerer Zusammenarbeit, allerdings noch nicht mit Aufnahmeperspektiven. Eine Aufnahmeperspektive hat Kroatien – 2013 soll Kroatien in die EU aufgenommen werden, andere Länder auf dem Balkan machen sich auch Hoffnungen. Ist die EU inzwischen nicht zu groß, um noch mehr Länder aufzunehmen, gerade nach den Erfahrungen, die man jetzt mit Bulgarien und Rumänien gemacht hat, die nicht hundertprozentig positiv waren?
Jerzy Buzek: Was heutzutage für unsere europäischen Bürger bedrohlich wirkt, kommt von außen: Die Krise wurde aus den USA importiert, deren Wirtschaft zur Zeit in schlechterem Zustand ist als die europäische. Die Terrorgefahr ist eine äußere. Sichere Energieversorgung, Klimaschutz oder die großen Migrationsbewegungen, das sind Probleme, die Europa nach außen hin lösen muss. In der Welt zählen nur die Großen. Selbst die größten Einzelstaaten der EU sind im Vergleich mit China, Indien oder auch den USA eher klein. Darum müssen wir unsere Anstrengungen bündeln, damit wir stärker sind und Einfluss nehmen können auf die globale Politik. Das sind die heutigen Anforderungen an europäische Politik.
Daher liegt die immer tiefere europäische Integration im Interesse jedes europäischen Bürgers, damit Europa nach außen hin stark ist, seine Bürger vor äußeren Bedrohungen bewahren kann und gleichzeitig den Binnenmarkt stärken oder die Energieversorgung durch bessere grenzüberschreitende Netze sichern. Schauen Sie zwischen Polen und Deutschland oder Litauen, da fehlt es an ausreichenden Erdgasleitungen, sodass wir uns nicht gegenseitig mit Gas aushelfen können. Ähnlich sieht es zwischen Frankreich und Spanien aus. Wir haben viele Gemeinschaftsaufgaben, die wir gemeinsam lösen sollten.
Deutschlandradio Kultur: Trotzdem noch einmal zurück zur Frage der Erweiterung, da gibt es in Europa ganz unterschiedliche Auffassungen, gerade wenn wir zum Beispiel auf den Fall Türkei schauen. Polen ist eher ein Land, das für eine Erweiterung der Europäischen Union durchaus offen ist, in Frankreich und auch in Deutschland gibt es da eine gewisse Reserviertheit. Wie ist Ihre Ansicht dazu, gerade zur Türkei als EU-Mitglied?
Jerzy Buzek: Wichtig ist nicht, ob die EU noch ein bisschen größer wird oder nicht, sondern ob wir sie innerlich vernünftig organisieren. Das versuchen wir schon die ganze Zeit zu verbessern, der Vertrag von Lissabon bietet uns dafür enorme Chancen. Ich würde mir keine Sorgen machen, wenn auch Kroatien und der ganze Balkan dazukommen und vielleicht in Zukunft, in sehr ferner Zukunft die EU sich weiter öffnen würde. Es ist wichtig, dass wir groß und stark, vor allem aber gut organisiert sind. Kroatien und andere westliche Balkan-Länder stehen vor großen Möglichkeiten, doch die Türkei ist eine andere Frage. Denn die Türken haben die enorme Aufgabe, die Kopenhagener Kriterien zu erfüllen, was nicht leicht ist. Da bleibt in der Türkei immer noch sehr viel zu tun. Hier geht es um unsere grundlegenden Prinzipien, unsere Wertvorstellungen, von denen wir nicht abrücken. Diese grundlegenden Werte sind in den Kopenhagener Kriterien niedergelegt, die derzeit die Länder des westlichen Balkans mit einiger Mühe umzusetzen versuchen. Wenn wir die große Krise rund um Nord-Zypern beilegen könnten – dadurch wird ja die Möglichkeit eines Beitritts der Türkei zu EU völlig blockiert – dann würden wir über die weiteren Schritte nachdenken. Aber heute ist dieser Weg in gewissem Sinn verschlossen.
Deutschlandradio Kultur: Sie haben gerade erwähnt, dass auch die Europäische Union selbst sich intern erst einmal besser organisieren muss und dazu gehört natürlich auch das Geld. Derzeit sind Haushalts-Verhandlungen im Gange, es geht um die Finanzplanung für die Jahre 2014 bis 2020. Die Bewilligung des Haushalts ist ein traditionelles Königsrecht jedes Parlaments, welche Akzente will das Europaparlament jetzt bei den Haushalts-Beratungen setzen?
Jerzy Buzek: Das Europaparlament ist überzeugt, dass der Haushalt verantwortbar sein muss, denn wir leben in schwierigen Zeiten. Die Mitgliedsländer sparen und auch auf EU-Ebene muss man das tun. Aber der EU-Haushalt wird zu fast 95 Prozent für Investitionen genutzt, zur Entwicklung des Unternehmertums, zur Schaffung neuer Arbeitsplätze. Alle Projekte wie Infrastruktur, Bahn- und Straßenverbindungen, Energie- und Internet-Leitungen verbessern unseren gemeinsamen europäischen Markt. Alle Aktivitäten im Bereich Forschung und Entwicklung neuer Technologien machen uns konkurrenzfähiger, was auch wieder neue Arbeitsplätze bedeutet. Nur 5 Prozent des EU-Haushalts wird für Verwaltung und Ähnliches ausgegeben. Es gibt keinen anderen Haushalt innerhalb der EU, der diese Relation schafft. Außerdem kann man manche Probleme eben nur auf europäischer Ebene lösen, zum Beispiel haben wir unseren Europäischen Auswärtigen Dienst, um die EU gut nach außen zu repräsentieren und unsere Bürger vor äußeren Bedrohungen zu schützen. Es gibt immer mehr solcher Gemeinschaftsaufgaben, die ihrerseits dann die nationalen Haushalte entlasten, die Mitgliedsländer sparen dadurch einiges. Eine weitere Gemeinschaftsaufgabe wäre ein gemeinsames europäisches Verteidigungssystem, das würde in den nationalen Verteidigungshaushalten viel Geld sparen. Und so ist es mit vielen anderen Dingen. Darum ist dieser Haushalt so wichtig und das Europaparlament schlägt eine wirklich nur geringe Steigerung vor, damit wir all die gemeinschaftlichen Politiken realisieren können, auf die sich die Mitgliedsländer geeinigt haben. Das wird den Bürgern zugutekommen und dabei ist die wichtigste Aufgabe die Schaffung von Arbeitsplätzen, vor allem für junge Menschen. In vielen Gegenden Europas liegt die Jugendarbeitslosigkeit über 30 Prozent.
Deutschlandradio Kultur: So viel zur Ausgabenseite, es gibt auch Diskussionen über die Seite der Einnahmen. Die Kommission hat vorgeschlagen, eine eigene europäische Steuer zu erheben, zum Beispiel eine Finanztransaktionssteuer. Wozu um Himmels Willen jetzt auch noch EU-Steuern, wo die Bürger doch für ihre nationalen Budgets mehr als genug an Abgaben zahlen müssen?
Jerzy Buzek: Gut dass Sie fragen, da gibt es einige Missverständnisse. Der Vorschlag, dem EU-Haushalt eigene Einnahmen zu verschaffen, die ihm direkt zufließen, zielt darauf ab, die nationalen Haushalte zu entlasten. Damit aus den Haushalten der Mitgliedsstaaten weniger Steuermittel an die EU abgeführt werden müssen. Es geht uns nicht darum, zusätzliche Steuern zu erheben. Sondern eigene direkte Einnahmen der EU bedeuten, dass sie weniger Zuwendungen aus den Haushalten der Mitgliedländer benötigt. Jetzt ist es doch so, dass in regelmäßigen Abständen die 27 Mitgliedsstaaten am runden Tisch zusammenkommen und sich in die Haare geraten, sich streiten, das sind äußerst schwierige und erregte Diskussionen. Das möchten wir vermeiden. Die Bürger sollen auf keinen Fall zusätzlich belastet werden, sie sollen nicht mehr Steuern zahlen, sondern eher weniger. Und die Mitgliedsländer sollen sich nicht immer wieder über den Haushalt streiten müssen. Es wird dann einfacher in der EU, mit weniger Konflikten, das ist unser Ziel.
Ich erinnere daran, dass vor 30, 40 Jahren der EU-Haushalt zu mehr als der Hälfte aus eigenen Einnahmen bestritten wurde und nur ein kleiner Teil aus Zuwendungen der nationalen Haushalte kam. Kehren wir doch zu diesem guten Grundsatz zurück, auf dem früher der EU-Haushalt beruht hat. Ich weiß, Sie würden jetzt gerne Details hören, aber ehrlich gesagt, im Europaparlament kennen wir selbst noch nicht die Einzelheiten. In den nächsten Wochen wird die Diskussion sich unter der polnischen Ratspräsidentschaft entwickeln. Ich freue mich, dass die vorangegangene ungarische Ratspräsidentschaft das Europaparlament von Anfang an in diese Diskussion einbezogen hat, denn am Ende der Haushalts-Beratungen kann das Parlament nur ja oder nein sagen, es kann im Grunde nichts mehr am Budget-Entwurf ändern. Doch wenn es von Anfang an in die Beratungen eingebunden ist, dann fällt es den Abgeordneten am Ende leichter zuzustimmen, denn sie verstehen, worum es geht. Wenn man ihnen aber einfach einen fertigen Haushalt auf den Tisch legt, von dem sie nicht wissen, wie er zustande gekommen ist, dann sagen viele eher nein.
Dieser Haushalt wird die Antwort darauf sein, ob wir solidarisch sein wollen, ob das Prinzip Freiheit und Verantwortung, ich betone Verantwortung, weiter in der EU gilt, ob wir mehr gemeinsamen Markt wollen, besser transnationale Verbindungen, ob wir gemeinsam unsere Grenzen schützen, ob wir mit 500 Millionen Bürgern und der größten Volkswirtschaft der Welt gemeinsam auf die Weltpolitik einwirken wollen. Das sind die Aufgaben. Wir wollen ein global player sein, denn nur die entscheiden über die Zukunft. Wir wollen auch gut mit den Vereinigten Staaten zusammenarbeiten und das geht nur, wenn wir unsere Anstrengungen bündeln, um auf Entscheidungen auf der anderen Seite des Atlantiks Einfluss zu nehmen. Unser transatlantisches Bündnis ist für beide Seiten von größter Bedeutung. Und es lohnt sich, dass wir uns darum in der EU gemeinsam kümmern.
Deutschlandradio Kultur: Herr Professor Buzek, am Sonntag feiern Sie Geburtstag, dazu schon einmal herzlichen Glückwunsch. Was würde sich der Europapolitiker Jerzy Buzek wünschen, wenn es egal wäre, wie realistisch dieser Wunsch ist?
Jerzy Buzek: Meine Wünsche, ja meine Träume haben sich in meinem Leben schon erfüllt. Vor 25, 30 Jahren habe ich nur davon geträumt, in einem freien Land zu leben, mehr nicht. Und heute bin ich Abgeordneter, sogar Präsident des Europaparlaments. Mehr wage ich eigentlich gar nicht zu wünschen, denn ich finde, dass wir uns in der Europäischen Union Erfolg einfach verdient haben, durch die schwere Arbeit hunderter Millionen von Europäern. Und wenn Sie mich persönlich fragen, dann wünsche ich mir etwas ganz gewöhnliches: Gesundheit, für mich und meine Familie.
Deutschlandradio Kultur: Vielen Dank, Herr Buzek, für dieses Gespräch.