Deutschland - einig Einwanderungsland?

Von Naika Foroutan |
Wenn es den Deutschen gelänge, ihre Nachkriegsgeschichte neu zu erzählen, dann würde der soziale Zusammenhalt schnell wachsen, glaubt die Sozialwissenschaftlerin Naika Foroutan. Das Vorbild sieht sie in den USA, die sich seit den 1960er-Jahren bewusst als "Nation of Immigrants" definierten, um gesellschaftlichen Spaltungen entgegenzuwirken.
Deutschland ist ein Einwanderungsland. Auch wenn es viele Jahre lang geleugnet wurde, so wird diese Tatsache spätestens seit den irritierenden Erfahrungen in der Sarrazin-Debatte nicht mehr in Frage gestellt.

In diesem Land leben 16 Millionen Menschen mit einem sogenannten Migrationshintergrund, von denen bereits neun Millionen die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen. Dennoch schaffen wir es vielfach nicht, aus dieser Tatsache eine neue Erzählung für unser Land zu generieren.

Die narrativen Elemente, die mit Deutschland verbunden werden, sind vielfach: der Zweite Weltkrieg, der Holocaust, der Wiederaufbau, die Teilung, die Wiedervereinigung. Sicher unterscheiden sich Narrationen in Ost und West: Wirtschaftswunder, 68er Revolte, deutscher Herbst auf der einen; 17. Juni, Stasi, und internationale Sporterfolge auf der anderen Seite – sie alle bieten prägende kollektive Erinnerungsmomente, die sinnstiftend und verbindend wirken.

Nur fällt auf, dass in all diese Narrationen die Einwanderer nicht mit hineingedacht werden. Ihre Geschichten werden nicht miterzählt in einem deutschen Wir. Dabei gäbe es spätestens ab dem Moment des Wiederaufbaus nach dem Krieg Motive, die eine gemeinsame Geschichte erzählbar machen.

Wenn Deutschsein sich über ein Leistungsethos definiert, so müsste gerade hier ein deutlicher Anknüpfungspunkt vorhanden sein: Ja, die erste Generation, die kam, hat viel geleistet. Es wurden Arbeiter gesucht. Sie kamen, um Deutschland gemeinsam wieder aufzubauen, die sogenannten "Gastarbeiter" in Westdeutschland und die "Vertragsarbeiter" in Ostdeutschland.

Von ihnen – nehmen wir mal exemplarisch die Einwanderer aus der Türkei - hatten nur sieben Prozent eine höhere Schulbildung. Die neuesten Bildungs-Daten weisen dagegen für die Türkeistämmigen eine Abiturquote von 26 Prozent aus, bei den hier geborenen Mädchen sogar 33 Prozent. Auch hier wurde in der aufholenden Bildung viel geleistet. Aber die Narration der Bildungsarmut erscheint stärker als die Realität des Bildungsaufstiegs.

Wir müssen lernen, unsere Narrationen anzupassen an diese Realitäten. Wir müssen unsere Erzählungen entkoppeln von festgefahrenen Stereotypen, sie anknüpfen aneinander. Narrationen sind Geschichten, die nur teilweise auf historischen Erfahrungen beruhen. Vielfach entwickeln sie einen Moment von immer schon Dagewesenem und dadurch nicht Veränderbarem. Wir vergessen dabei aber, dass Narrationen immer wieder neu erdacht und in die Zeit zurückgedacht werden können.

So gehen wir zum Beispiel davon aus, dass für die USA das Etikett einer "Nation of Immigrants" ein sogenannter Gründungsmythos ist. Tatsächlich wurde aber dieses Narrativ erst in den 1960er-Jahren etabliert, um die soziale Kohäsion zu stärken in Gesellschaft, die durch gesellschaftliche Spaltungen geprägt war.

Uns fehlt in Deutschland ein Narrativ, das dieses Land in seiner bestehenden Vielfalt als deutsch beschreibt. Die sogenannte "International-Mannschaft" der WM 2010 konnte diese Erzählung eines neuen Deutschlands für kurze Zeit auch als Außenbild darstellen, auf das teilweise euphorisch, teilweise ungläubig reagiert wurde. Bereits kurze Zeit später erfolgte in der Sarrazin-Debatte der öffentlich diskutierte Ausschluss der Muslime aus dem nationalen Narrativ - wohlgemerkt der größten religiösen Minderheit in diesem Land.

In der Außenwahrnehmung bestätigte dies eine bekannte Erzählung, mit der sich viele sicherer fühlen, weil sie ihr Stereotyp nicht so herausfordert wie das neue leichtere, buntere Deutschland: das Bild des ugly old german, der zurückzuckt vor Veränderung, Überfremdung fürchtet, dort wo die deutschen Kinder einfach nur anders aussehen und Kübra heißen oder Tarek.

Wir müssen anfangen uns gegenseitig neue Geschichten zu erzählen, von dem was Deutschsein heißt, in einem Land, in dem jedes dritte eingeschulte Kind im letzten Jahr einen Hintergrund hatte, der heute noch Migrationshintergrund heißt und in der kommenden Generation vielleicht schon typisch deutsch sein könnte.


Naika Foroutan ist Sozialwissenschaftlerin an der Humboldt-Universität zu Berlin. Sie leitet dort als Schumpeter-Fellow seit 2008 das Forschungsprojekt "Hybride europäisch-muslimische Identitätsmodelle (HEYMAT)", das von der Volkswagen-Stiftung gefördert wird. Zu den Schwerpunkten ihrer Forschungs- und Lehrtätigkeit gehören u.a. die Themen Migration und Integration; Islam- und Muslimbilder in Deutschland; Identität und Hybridität; politischer Islam und Transformation von Einwanderungsländern. Seit 2011 ist sie zudem Leiterin der Forschungsgruppe Junge Islambezogene Themen in Deutschland (JUNITED) im Rahmen des Projekts Junge Islam Konferenz (JIK), welches von der Stiftung Mercator gefördert wird. Im Jahr 2011 erhielt sie den Berliner Integrationspreis für ihr Eingreifen in die bundesweit kontrovers geführte "Sarrazindebatte". Im Jahr 2012 erhielt sie für ihre wissenschaftlichen Leistungen den Wissenschaftspreis der Fritz-Behrens Stiftung.
Naika Foroutan, Sozialwissenschaftlerin, Humboldt-Universität Berlin
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