Deutschland bewegt sich, aber wohin
Deutschland bewegt sich - rein geographisch gesehen. Gut, politisch auch, aber hier geht es um die Koordinaten, die geographischen, nicht die politischen. Noch bis Anfang Juli werden insgesamt 250 geodätische Punkte bundesweit vermessen. Dann wird ausgewertet und dann wird "ein neues Oberflächenbild" von der Republik gezeichnet, "das möglicherweise einige Überraschungen enthält."
Vorspiel
"Deutschland wird neu vermessen" teilte uns das Amtliche Deutsche Vermessungswesen mit. "Von der See bis zu den Alpen", "millimetergenau"! Und, hier, sehen Sie: Dank der Satellitentechnik ist es möglich, "ein Koordinatensystem zu nutzen, dessen Ursprung im Mittelpunkt der Erde liegt."
Nun, in der Kürze der Zeit haben wir es nicht bis zu den Alpen geschafft. Und den Mittelpunkt der Erde steuerten wir aus anderen Gründen denn doch nicht an.
Endmoränenlandschaft zieht an unserem Auge vorbei, es geht also auf und ab mit dem Auto - wie mit der Republik. Mecklenburg-Vorpommern ist, so scheint uns, ein gutes Terrain für die Erkundung der Vermessung der Republik. Denn, so viel wissen wir schon, während die Wirklichkeit noch vor uns liegt, es geht vor allem um die Höhenmessung, also: Steigt das Land auf oder ab? Geht es aufwärts oder abwärts?
Die Nachrichten teilten gerade mit, es gehe mit der Republik wieder, immer noch, sowieso und jetzt erst recht aufwärts. Was werden die Geodäten dazu sagen? Wir sind gespannt.
Kapitel 1 - Die Vermessung
Hören Sie? Der Messpunkt. So hört er sich an, der "Geodätische Festpunkt". Modernste Technik vermisst ihn zwischen Himmel und Erdmittelpunkt – auf dem Diedrichshagener Berg.
Obenaus: ""Bräuchte man Zeitmaschine, dann könnte man gucken, was hier mal los war vor 20 Jahren."
Messtrupp 44, Geodätischer Grundnetzpunkt 4890.
Stacheldrahtzaun im Quadrat, zwei Sendemasten, eine Funkantenne; Waldmeer, Feldmeer, Nichtsmeer. Da, wo Zeit nicht mehr stattfindet. Aber die Wirklichkeit vermessen wird. Was hier mal los war …
Kollege: ""Wie soll man das rauskriegen? Hier kommt doch so gut wie keiner vorbei, den man da mal fragen könnte."
Einsamkeit. Pro Sekunde ein Messdatensatz per Satellit, zur vollen Stunde Protokoll führen, dazwischen 59 Minuten … Zeit. 24 Stunden lang.
Obenaus: "Ja, man kann halt Lesen, sich in die Sonne setzen und warten halt. Ist aber eine gute Abwechslung zum Arbeitsalltag."
Einer liest etwas Ähnliches wie "Der Herr der Ringe", der andere ist auf Seite 902 in Schätzings "Schwarm" angelangt.
"Ach, geht jetzt dem Ende zu, jetzt sterben die meisten."
Nun ja … Vor ein paar Tagen lag der Vermessungspunkt noch etwas tourimäßiger.
Obenaus: "Am Darßer Ort waren wir am Strand gewesen, Leuchtturm, da hat man sich ein bisschen beschäftigen können, aber hier ist ja wirklich nicht viel zu sehen – außer Felder und ein paar Bilder im Hintergrund."
24 Stunden. Diedrichshagener Berg. …
Zwischenspiel 1 - Der Berg, der Ort
Es ist ein holpriger Weg zu den Erkenntnissen – wie die Fahrt vom Diedrichshagener Berg runter. Wir steuern Jennewitz an, denn der Messpunkt liegt auf Jennewitzer Terrain. Und wir wollen sozusagen den Ort vermessen.
Die Ostseewellen trecken 7,8 Kilometer entfernt an den Strand von Kühlungsborn. Gleich nebenan liegt Heiligendamm. Sie erinnern sich? Vergangenes Jahr … Hier Berg, dort Gipfel.
Hochglanzbroschürenmäßig liegt Jennewitz also in guter Lage. Aber irgendwie scheint es uns nicht die Gegend von Hochglanz zu sein, eher von Hinterland. Liegt es daran, dass der Ort von der Küste aus gesehen - rein rechnerisch – so 2,8 Kilometer hinter dem Horizont liegt?
Auf dem Diedrichshagener Berg empfangen sie himmlische Signale, unten in Jennewitz … wir wissen es noch nicht. Innerlich haben wir die Hände gefaltet, um den holprigen Weg schadlos zu überstehen.
Kapitel 2 - "Ruhig & still"
Kanschat: "Nein! Die Wende hat uns einige Straßen hier gebracht. Und auch eine gute Rente! Das müssen wir Älteren alle sagen."
Wir haben Frau Kanschat aus dem Mittagsschlaf geholt, sie ist sofort hellwach.
Kanschat: "Die älteren Menschen haben ein gutes Auskommen, wenn sie nicht wieder alles an die arbeitslosen Kinder abgeben. Tue ich auch, und alle anderen werden es auch machen."
80 Jahre alt, Ostpreußin, Ost-Kindergärtnerin, West-Rentnerin. 35 Jahre im Chor 1. Sopran, jetzt Stimmbruch, aber nicht wortlos. Also: Jennewitz. Ein leeres Dorf. Wer Arbeit hat, fährt morgens weg und ….
Kanschat: "Ja, wer Arbeit hat. Ich will mal sagen … naja vielleicht 20 Prozent in der Gemeinde, wenn überhaupt!"
20 Prozent? Das ist andernorts die Zahl für Arbeitslose. Und das Dorfleben … verändert …?
Kanschat: "Na ganz und gar! Es ist ruhig und still geworden."
Ruhe, Stille - damit könnte man Urlauber locken … 11 Autominuten vom Seebad entfernt … aber …
150 Einwohner bleiben unter sich, junge gibt es im Ort kaum noch welche. Und die Feuerwehr soll jetzt auch nicht in Jennewitz gebaut werden.
Kanschat: "So wird dieses Dorf so bleiben, wie es ist!"
Also kein Dorfleben, keine Feiern mehr wie früher, so vor 20 Jahren und davor.
Kanschat: "Ja, auf alle Fälle! Die MTS war hier, hatte hier Feiern, die Gemeinde hatte hier Feiern, jeder Verein, der hier bestand …"
Als noch Arbeit im Dorf war und der Chor vor Bauern und Urlaubern zwischen Bad Doberan und Kühlungsborn ein fröhliches Lied anstimmte.
Kanschat: "Wir haben hier viel gesungen! Wir hatten Aufträge. Heute, wenn der Chor singt … es gibt nichts mehr, wenn die singen."
Kein Geld … da … im Urlaubsparadies.
Kanschat: "Wir kriegen gar nichts mehr. Aber wir müssen alle privat ranfahren. Die LPG hat diesen Bus gehabt, zur Verfügung gestellt. Wir konnten überall hinfahren - zum Nulltarif! Jetzt – kostet Geld. Damit steht und fällt alles."
Weniger "steht", mehr "fällt alles" - in Jennewitz.
Kanschat: "Ach! Gar nichts! Hier kriegen sie kein Brot, hier kriegen sie gar nichts! Nichts!"
Nur Auskünfte.
Kanschat: "Nichts! Wenn ich meine Kinder nicht hätte hier wohnen, ich hätte das Haus schon längst aufgegeben. Ich hätte es aufgeben müssen!"
Eine Tochter arbeitslos, bekommt für ehrenamtliche Arbeit keinen Pfennig; der Sohn fand gestern bei einem Freund im Nachbarort Arbeit; andere Tochter im Westen abgeblieben; ein Enkel verteidigt die Freiheit in Afghanistan.
Kanschat: "Ich liebe die Berge, ich liebe nicht die See! Nein!"
Und Pferde! Die Ostpreußin. Sie hätte jetzt wieder Zeit für den unterbrochenen Mittagsschlaf.
Kanschat: "Nein, kann doch heute Abend rechtzeitig ins Bett gehen. Ich versäume doch nichts."
Zwischenspiel 2 - Der Berg, der Ort
Windstärke 7. Deutschland bewegt sich. Und Mecklenburg-Vorpommern auch! Jedenfalls geographisch. Wie – dies wird gerade auf dem Diedrichshagener Berg gemessen.
Der Messpunkt ist gut ausgesucht, hat eine alte Geschichte, ist sogar ein trigenometrischer Punkt 1.Ordnung! Ja, er stammt noch aus der Großherzoglichen Landesaufnahme von 1856. Da, wir haben die Kopie. Sehen Sie?! Und mehr noch, er war und ist ein geodätischer Hauptpunkt des Landes! Wir finden das sinnfällig, so politisch, menschlich.
Dies werden wir noch erfahren, anderes auch. Einige berichten, da oben sei mal die Stasi gewesen. Andere sagen, dies mit der Stasi würde man so erzählen, aber wissen …. Dritte wiederum wissen nur etwas vom Militär. Hm. Aber damals so wie heute sei der Zutritt zum abgesperrten Messpunkt verboten. Ja, ja …
Apropos Geheimhaltung und so. In Schwerin wird man uns mitteilen, dass die DDR-Karten sehr genau waren. Und die geheimen DDR-Karten hätten eine sehr gute Qualität gehabt und und "waren Grundlage für die heutigen Karten". Wir orientieren uns heute also an … wir untersagen uns das Ende des Gedankenganges. Wir haben nur zitiert!
Kapitel 3 - Umsonst
Wir haben endlich jemanden in Diedrichshagen gesichtet, vor einem alten Haus, vermutlich ein Ehepaar. Knappe, aber freundliche Begrüßung. Neumann – Rehfeld. Schnell ist das Gespräch auf dem Messpunkt oben angelangt: Die alten Baracken aus DDR-Zeiten seien weg, die alten Masten auch; wer sich da eine Hütte baue, wisse man nicht. Und das Haus hier, 1886 … ?
Herr Neumann: "Ja, das war mal eine alte Molkerei. Ja, die haben wir uns mal zu DDR-Zeiten ausgebaut, dass heißt, der vordere Teil war bewohnt und hinten war die Molkerei. Und das hat mein Schwiegervater dann gekauft und dann haben wir es ausgebaut."
"Aber wenn man hier so durchfährt, wunderschöne Straßenschilder – Rerik, Kühlungsborn, Bad Doberan, aber im Ort selbst ist …"
"Hier ist ja auch nichts weiter los. Hier sagen sich die Füchse gute Nacht."
Frau Neumann: "Wir waren eine Zeit weg, haben es vermietet und ist alles kaputt. Müssen wir jetzt alles noch renovieren."
"Ja?"
Herr Neumann: "Ja, wir wollten es verkaufen und denn …" Frau Neumann: "Ja wir wollten es verkaufen. Aber die Frau XYZ da drüben wollte es kaufen …"
Herr Neumann. "Musst den Namen nicht sagen."
Frau Neumann: "Na klar. Und denn hat sie alles uns kaputt gemacht. Haben nicht so viel Geld, dass wir das nicht mal bezahlen können."
"Au Scheiße"
"Müssen das immer etappenweise machen. Wie wir Geld haben, müssen wir das machen. Sonst geht es nicht."
"Ist ja ein böses Erwachen."
"Aber ganz schön."
Herr Neumann: "Fünf Jahre lang umsonst gehaust hier – auf Deutsch gesagt."
"Und was heißt: kurz weg? Waren Sie schon ausgezogen oder wie?" "Ja, wir wollten nach Hannover, da liegt unser Sohn beerdigt, und wir wollten mal da bleiben, aber die Frau hat sich nicht von zu Hause trennen können."
"Heimweh."
Frau Neumann: "Ich bin hier groß geworden."
"Hier in dem Haus?"
"Ja. sieben Jahre, als meine Eltern hier, ich kam ja aus Ostpreußen, und mit sieben Jahre war ich, da sind wir hierher gekommen."
"Und dann hatten Sie es einer Person jetzt übergeben?"
"Ja, ich wollte es verkaufen, aber … die ganze Familie. 3 Mann haben sich gemeldet und 15 haben sie drinne gewohnt. Haben sie alles kaputt gemacht, oben die Dusche, alles ist kaputt, alles ist kaputt und wir haben nicht so viel Geld, um das zu bezahlen."
"Sie sind beide Rentiers?"
"Ja."
"Und Rente wird hier nicht sprudeln, nehme ich mal an."
"Aber wie."
Herr Neumann: "Aber wie! Die sprudelt über."
Frau Neumann: "Ich habe bloß über 400 Euro Rente."
Herr Neumann: "Frau 459 und ich 677 – und das ist viel."
"459 und …"
"677."
"Davon muss man leben."
"Altersrente. Allerdings, Gott sei dank, habe ich noch eine Silikose, Gott sei dank ist zuviel gesagt, und da kriege ich darauf auch noch eine Unfallrente, weil ich nicht im Bergbau, aber in der Keramik gearbeitet habe früher. Und da habe ich mir die Silikose zugezogen. 40 Prozent Lunge bloß noch. Ja und nun habe ich da Bescheid gekriegt von Meißen, dass ich mehr Rente kriege, weil es schlimmer geworden ist - hat man mir die Altersrente gleich runter genommen. Weg. Aus. Weiter gibt’s keine Rente."
"Haben Sie denn noch Unterstützung aus dem Ort, dass man Ihnen hilft oder …?"
"Wer soll noch helfen? Ist doch keiner mehr da."
Zwischenspiel 3 - Zeichen aus der Provinz
"Wer soll noch helfen? Ist doch keiner mehr da." hatte Herr Neumann noch gesagt. Wir glauben dies. Zwischen Diedrichshagen und Jennewitz liegen zwar zwei Kilometer, aber keine Welten.
Die Vermessung der Wirklichkeit – die Geographen holen sich die notwendigen Daten vom Himmel, die Politiker … wir wissen es nicht. Die Neuvermessung der Republik erfolgt millimetergenau, die Bestimmung der menschlichen Lage durch die Politiker scheint uns da eine größere Abweichung aufzuweisen. Sie daheim meinen, die hohe Politik hätte nicht in Heiligendamm absteigen sollen, sondern in Jennewitz oder Diedrichshagen? DAS haben Sie gedacht, wir nicht!
Aber wir wollen jetzt nicht vom Weg nach Schwerin abschweifen, denn im Amt für Geoinformation hoffen wir endlich Antwort auf unsere Frage zu finden: Steigt sie auf oder ab die Republik? Wir sind gespannt … auf die geodätische Antwort. Vielleicht geht es ja tatsächlich aufwärts, nur wir merken es nicht, jedenfalls nicht so richtig.
Kapitel 4 - Die Vermessung von Mecklenburg-Vorpommern
Rubach: "Die Höhenänderungen resultieren im Wesentlichen aus, ja, wir sind zwar auf einer relativ starren Erdkrustenplatte, aber man weiß ja landläufig, dass sich Skandinavien permanent hebt, also Skandinavien hebt sich etwa ein Zentimeter pro Jahr."
Wir lassen jetzt mal die geotektonischen Bewegungen von den Alpen her außen vor und steuern mit Herrn Dr. Rubach direkt die Republik an.
Rubach: "Und was eigentlich die größten Höhenveränderungen aber bewirkt, das ist der Mensch selber."
Das Auf und Ab durch die Politik?
Rubach: "Der Mensch verändert ja permanent, untergräbt die Erde durch Bergbau, nimmt Bodenschätze aus der Erde heraus, und das sackt natürlich flächig nach, ohne dass man das so richtig mitkriegt."
Wir schon. Manchmal wird uns schwindlig!
Rubach: "Also im Bereich Nordrhein-Westfalen, Niedersachsen, Saarland, wo öfter auch mal Erdbeben stattfinden, da sinken also ganze Landstriche um mehrere zig Zentimeter, so zwei Dezimeter Höhenunterschiede sind da keine Seltenheit."
Zwischen zwei Meßperioden … also in … 20 Jahren.
Rubach: "In Mecklenburg-Vorpommern ist das nicht so doll. Also …"
Wir nicken. Kein Bergbau und so, jedenfalls nicht so richtig.
Rubach: "Gut, aber … obwohl heute in der Zeitung war zu lesen, dass hier auch Erdöl gefördert wird."
Vielleicht wollen deshalb Energiekonzerne hier eine unterirdische "CO-2-Müllkippe" anlegen!?
Rubach: "Insofern ist eigentlich jetzt so ein Trend wie in, wo wirklich was los ist, wie in Nordrhein-Westfalen, wo es immer nach unten geht, da fällt die Erde halt in sich zusammen, weil die Hohlräume sich zusammendrücken durch die Bodenlast, das ist hier in Mecklenburg-Vorpommern nicht der Fall."
Also Abstieg im Westen, Aufstieg im Osten?
Rubach: "Die vielen Punkte, die wir an der Küste haben oder in Mecklenburg-Vorpommern, haben alle einen unterschiedlichen Trend. Einer hebt sich etwas, einer senkt sich etwas, so dass man eigentlich …"
Entschuldigung, nicht mal beim höhenmäßigen Aufstieg hält Deutschland mit Skandinavien Schritt?
Rubach: "Nein, die entfernen sich von uns in der Höhe."
Zwischenspiel 4 - Umgekehrt
Beim größten deutschen Vermessungsprojekt funktionierten die Aufzeichnungsgeräte tadellos, bei uns nicht immer. Das Aufnahmegerät löschte einige, so empfanden wir sie, doch recht symbolträchtige Situationen. Als wir uns ein Merkzeichen auf dem Band setzten!
Gelöscht, aber nicht vergessen. Jennewitz. Die Frau, die gerade Mittag anrichtete und herzhaft lachte, als wir einfach so nach Arbeit im Dorf und so fragten. Wir haben dann auch gelacht … und erfahren, hierorts nennt man nicht, wie andernorts, die Zahl der Arbeitslosen, sondern die Zahl derer, die noch Arbeit haben.
Gelöscht, aber nicht vergessen der ältere Herr, der sich mit Rasen mähen ein paar Pfennige dazu verdienen wollte und eine Gras-Sense, im Volksmund Trimmer genannt, anzuwerfen versuchte. Zig mal jaulte der Trimmer kurz und jämmerlich auf - aus. Plötzlich blieb er an. Der alte Mann nahm ihn sachte hoch, stiefelte vorsichtig los … 5, 6 Meter. Aus, Ende, Trimmer stumm. Der Mann ging weiter.
Deutschland bewegt sich.
Kapitel 5 - Noch viele Geschichten
Hören Sie ihn, den Messpunkt? Das Mikrofon liegt genau auf dem "Geodätischen Festpunkt". Das Messgerät sammelt Daten, wir sammelten Eindrücke. Und könnten noch so manche Geschichte erzählen.
Zum Beispiel die von der kurzen Begegnung mit einem Wessi, der gerade seinen 46.Tages-Kilometer in die Pedalen getreten hatte und die Ferne zur Küste lobte – schöne Landschaft, vergessene Gegend, alles billiger.
Tourist: "Ist ja Wahnsinn. Da habe ich dann auch noch eine Tasse Kaffee und ein Stück Kuchen für 2.75 Euro am Mann, muss man an der Küste 5 Euro für zahlen."
Auch Frau Kanschat aus Jennewitz gab uns noch die eine oder andere Geschichte mit ins Radio. Zum Beispiel die von ihrem Mann, einem Ostpreußen, der die Arbeitsmarkt-Anforderungen nach "Flexibilität" mit 5 Berufen, unter anderem Müller und Uhrmacher, geradezu beispielhaft erfüllt hatte und nach dem 8. Schlaganfall vor sechs Jahren verstarb.
Kanschat: "Er hat sich aufgeopfert für dieses Dorf. Wenn er heute die Augen öffnen würde, da ist nichts mehr, nichts mehr!"
Geschichten, die zwei Kilometer weiter in Diedrichshagen nicht aufhören. Kühlungsborn und Heiligendamm liegen zwar gleich um die Ecke, aber dennoch … sehr weit weg. Sie erinnern sich, Herr und Frau Neumann und die alte Molkerei. Haus-Käufer kamen und gingen gleich wieder, weil: im Anbau der Molkerei wohnt ihr Neffe, der seinen Anbau nicht verkaufen will.
Herr und Frau Neumann: "Nee, um Gottes Willen"
Herr Neumann: "Nein, sind doch auch arbeitslos. Der eine ist herzkrank, der kann nicht arbeiten. Und der andere ist arbeitslos. Hat umgeschult, kriegt aber keine Arbeit. Hat früher im Schweinestall gearbeitet – ist ja alles weg, ist ja nichts mehr hier. Kuhställe sind alle abgerissen. Schweineställe auch nicht mehr. Waren da oben mal über 1000 Schweine und nun ist gar nichts mehr."
Irgendwie kommen einem solche Geschichten bekannt vor. Vielleicht erklärte uns deshalb Herr Rubach in Schwerin, weshalb es manchmal auch sinnvoll sei, Fakten zu notieren, die nicht unbedingt Neuigkeiten vermelden würden. Also keine News, nix für Schlagzeilen sind, sondern "nur" die Bestätigung von Daten, also von Wirklichkeiten vor Ort.
Rubach: "Auch eine Nichtveränderung ist ja ein Wissen, was man haben muss. Also auch wenn ich weiß, es verändert sich nichts, ist es immer noch besser, als wenn ich nicht weiß, ob sich nichts verändert."
Nachspiel - Hügel oder Berg?
Ach so, beinahe hätten wir es vergessen. Wann wird ein Hügel zum Berg? Oder andersrum: Wann wird ein Berg zum Hügel?
Die Frage lag uns die ganze Zeit auf der Zunge, da doch die "Position und Höhe" unserer Republik die Geodäten interessiert. Also ob es aufwärts geht oder abwärts? So rein höhenmäßig, halt geodätisch. Aber das sagten wir ja schon: mehr runter. Und …
Wann ein Hügel zum Berg wird? Nun, in der Grundschule lernen sie: Ein Berg ist ein Berg, wenn er 200 Meter hoch ist. Der Diedrichshagener Berg schafft exakt 129,8 Meter. Ist also, leider, leider, nur ein Hügel.
Und wenn schon. Der Diedrichshagener Berg ist zwar kein richtiger Berg, aber der Gipfel in Heiligendamm schaffte es nicht mal bis zum Hügel! Wir stellen uns gerade vor, wenn Angie damals … statt Heiligendamm … oder heute mal … da in Jennewitz … Sie daheim am Lautsprecher können das zu Ende denken, wir müssen auf die Straße achten!
Apropos Straße. Die Geodäten glauben tatsächlich, nach der Messaktion würden die Karten der Bundesländer zu einander passen, also die Übergänge von Bundesland zu Bundesland exakt stimmen, weil: bisher nutzten die Bundesländer verschiedene Koordinatensysteme. Die Karten waren mitunter so föderal vermessen, dass bei Bauvorhaben schon mal die Autobahn in einem Land da endete und im anderen Bundesland aber dort anfing. So versetzt. Sie als Autofahrer hätten da ganz schön …
"Deutschland wird neu vermessen" teilte uns das Amtliche Deutsche Vermessungswesen mit. "Von der See bis zu den Alpen", "millimetergenau"! Und, hier, sehen Sie: Dank der Satellitentechnik ist es möglich, "ein Koordinatensystem zu nutzen, dessen Ursprung im Mittelpunkt der Erde liegt."
Nun, in der Kürze der Zeit haben wir es nicht bis zu den Alpen geschafft. Und den Mittelpunkt der Erde steuerten wir aus anderen Gründen denn doch nicht an.
Endmoränenlandschaft zieht an unserem Auge vorbei, es geht also auf und ab mit dem Auto - wie mit der Republik. Mecklenburg-Vorpommern ist, so scheint uns, ein gutes Terrain für die Erkundung der Vermessung der Republik. Denn, so viel wissen wir schon, während die Wirklichkeit noch vor uns liegt, es geht vor allem um die Höhenmessung, also: Steigt das Land auf oder ab? Geht es aufwärts oder abwärts?
Die Nachrichten teilten gerade mit, es gehe mit der Republik wieder, immer noch, sowieso und jetzt erst recht aufwärts. Was werden die Geodäten dazu sagen? Wir sind gespannt.
Kapitel 1 - Die Vermessung
Hören Sie? Der Messpunkt. So hört er sich an, der "Geodätische Festpunkt". Modernste Technik vermisst ihn zwischen Himmel und Erdmittelpunkt – auf dem Diedrichshagener Berg.
Obenaus: ""Bräuchte man Zeitmaschine, dann könnte man gucken, was hier mal los war vor 20 Jahren."
Messtrupp 44, Geodätischer Grundnetzpunkt 4890.
Stacheldrahtzaun im Quadrat, zwei Sendemasten, eine Funkantenne; Waldmeer, Feldmeer, Nichtsmeer. Da, wo Zeit nicht mehr stattfindet. Aber die Wirklichkeit vermessen wird. Was hier mal los war …
Kollege: ""Wie soll man das rauskriegen? Hier kommt doch so gut wie keiner vorbei, den man da mal fragen könnte."
Einsamkeit. Pro Sekunde ein Messdatensatz per Satellit, zur vollen Stunde Protokoll führen, dazwischen 59 Minuten … Zeit. 24 Stunden lang.
Obenaus: "Ja, man kann halt Lesen, sich in die Sonne setzen und warten halt. Ist aber eine gute Abwechslung zum Arbeitsalltag."
Einer liest etwas Ähnliches wie "Der Herr der Ringe", der andere ist auf Seite 902 in Schätzings "Schwarm" angelangt.
"Ach, geht jetzt dem Ende zu, jetzt sterben die meisten."
Nun ja … Vor ein paar Tagen lag der Vermessungspunkt noch etwas tourimäßiger.
Obenaus: "Am Darßer Ort waren wir am Strand gewesen, Leuchtturm, da hat man sich ein bisschen beschäftigen können, aber hier ist ja wirklich nicht viel zu sehen – außer Felder und ein paar Bilder im Hintergrund."
24 Stunden. Diedrichshagener Berg. …
Zwischenspiel 1 - Der Berg, der Ort
Es ist ein holpriger Weg zu den Erkenntnissen – wie die Fahrt vom Diedrichshagener Berg runter. Wir steuern Jennewitz an, denn der Messpunkt liegt auf Jennewitzer Terrain. Und wir wollen sozusagen den Ort vermessen.
Die Ostseewellen trecken 7,8 Kilometer entfernt an den Strand von Kühlungsborn. Gleich nebenan liegt Heiligendamm. Sie erinnern sich? Vergangenes Jahr … Hier Berg, dort Gipfel.
Hochglanzbroschürenmäßig liegt Jennewitz also in guter Lage. Aber irgendwie scheint es uns nicht die Gegend von Hochglanz zu sein, eher von Hinterland. Liegt es daran, dass der Ort von der Küste aus gesehen - rein rechnerisch – so 2,8 Kilometer hinter dem Horizont liegt?
Auf dem Diedrichshagener Berg empfangen sie himmlische Signale, unten in Jennewitz … wir wissen es noch nicht. Innerlich haben wir die Hände gefaltet, um den holprigen Weg schadlos zu überstehen.
Kapitel 2 - "Ruhig & still"
Kanschat: "Nein! Die Wende hat uns einige Straßen hier gebracht. Und auch eine gute Rente! Das müssen wir Älteren alle sagen."
Wir haben Frau Kanschat aus dem Mittagsschlaf geholt, sie ist sofort hellwach.
Kanschat: "Die älteren Menschen haben ein gutes Auskommen, wenn sie nicht wieder alles an die arbeitslosen Kinder abgeben. Tue ich auch, und alle anderen werden es auch machen."
80 Jahre alt, Ostpreußin, Ost-Kindergärtnerin, West-Rentnerin. 35 Jahre im Chor 1. Sopran, jetzt Stimmbruch, aber nicht wortlos. Also: Jennewitz. Ein leeres Dorf. Wer Arbeit hat, fährt morgens weg und ….
Kanschat: "Ja, wer Arbeit hat. Ich will mal sagen … naja vielleicht 20 Prozent in der Gemeinde, wenn überhaupt!"
20 Prozent? Das ist andernorts die Zahl für Arbeitslose. Und das Dorfleben … verändert …?
Kanschat: "Na ganz und gar! Es ist ruhig und still geworden."
Ruhe, Stille - damit könnte man Urlauber locken … 11 Autominuten vom Seebad entfernt … aber …
150 Einwohner bleiben unter sich, junge gibt es im Ort kaum noch welche. Und die Feuerwehr soll jetzt auch nicht in Jennewitz gebaut werden.
Kanschat: "So wird dieses Dorf so bleiben, wie es ist!"
Also kein Dorfleben, keine Feiern mehr wie früher, so vor 20 Jahren und davor.
Kanschat: "Ja, auf alle Fälle! Die MTS war hier, hatte hier Feiern, die Gemeinde hatte hier Feiern, jeder Verein, der hier bestand …"
Als noch Arbeit im Dorf war und der Chor vor Bauern und Urlaubern zwischen Bad Doberan und Kühlungsborn ein fröhliches Lied anstimmte.
Kanschat: "Wir haben hier viel gesungen! Wir hatten Aufträge. Heute, wenn der Chor singt … es gibt nichts mehr, wenn die singen."
Kein Geld … da … im Urlaubsparadies.
Kanschat: "Wir kriegen gar nichts mehr. Aber wir müssen alle privat ranfahren. Die LPG hat diesen Bus gehabt, zur Verfügung gestellt. Wir konnten überall hinfahren - zum Nulltarif! Jetzt – kostet Geld. Damit steht und fällt alles."
Weniger "steht", mehr "fällt alles" - in Jennewitz.
Kanschat: "Ach! Gar nichts! Hier kriegen sie kein Brot, hier kriegen sie gar nichts! Nichts!"
Nur Auskünfte.
Kanschat: "Nichts! Wenn ich meine Kinder nicht hätte hier wohnen, ich hätte das Haus schon längst aufgegeben. Ich hätte es aufgeben müssen!"
Eine Tochter arbeitslos, bekommt für ehrenamtliche Arbeit keinen Pfennig; der Sohn fand gestern bei einem Freund im Nachbarort Arbeit; andere Tochter im Westen abgeblieben; ein Enkel verteidigt die Freiheit in Afghanistan.
Kanschat: "Ich liebe die Berge, ich liebe nicht die See! Nein!"
Und Pferde! Die Ostpreußin. Sie hätte jetzt wieder Zeit für den unterbrochenen Mittagsschlaf.
Kanschat: "Nein, kann doch heute Abend rechtzeitig ins Bett gehen. Ich versäume doch nichts."
Zwischenspiel 2 - Der Berg, der Ort
Windstärke 7. Deutschland bewegt sich. Und Mecklenburg-Vorpommern auch! Jedenfalls geographisch. Wie – dies wird gerade auf dem Diedrichshagener Berg gemessen.
Der Messpunkt ist gut ausgesucht, hat eine alte Geschichte, ist sogar ein trigenometrischer Punkt 1.Ordnung! Ja, er stammt noch aus der Großherzoglichen Landesaufnahme von 1856. Da, wir haben die Kopie. Sehen Sie?! Und mehr noch, er war und ist ein geodätischer Hauptpunkt des Landes! Wir finden das sinnfällig, so politisch, menschlich.
Dies werden wir noch erfahren, anderes auch. Einige berichten, da oben sei mal die Stasi gewesen. Andere sagen, dies mit der Stasi würde man so erzählen, aber wissen …. Dritte wiederum wissen nur etwas vom Militär. Hm. Aber damals so wie heute sei der Zutritt zum abgesperrten Messpunkt verboten. Ja, ja …
Apropos Geheimhaltung und so. In Schwerin wird man uns mitteilen, dass die DDR-Karten sehr genau waren. Und die geheimen DDR-Karten hätten eine sehr gute Qualität gehabt und und "waren Grundlage für die heutigen Karten". Wir orientieren uns heute also an … wir untersagen uns das Ende des Gedankenganges. Wir haben nur zitiert!
Kapitel 3 - Umsonst
Wir haben endlich jemanden in Diedrichshagen gesichtet, vor einem alten Haus, vermutlich ein Ehepaar. Knappe, aber freundliche Begrüßung. Neumann – Rehfeld. Schnell ist das Gespräch auf dem Messpunkt oben angelangt: Die alten Baracken aus DDR-Zeiten seien weg, die alten Masten auch; wer sich da eine Hütte baue, wisse man nicht. Und das Haus hier, 1886 … ?
Herr Neumann: "Ja, das war mal eine alte Molkerei. Ja, die haben wir uns mal zu DDR-Zeiten ausgebaut, dass heißt, der vordere Teil war bewohnt und hinten war die Molkerei. Und das hat mein Schwiegervater dann gekauft und dann haben wir es ausgebaut."
"Aber wenn man hier so durchfährt, wunderschöne Straßenschilder – Rerik, Kühlungsborn, Bad Doberan, aber im Ort selbst ist …"
"Hier ist ja auch nichts weiter los. Hier sagen sich die Füchse gute Nacht."
Frau Neumann: "Wir waren eine Zeit weg, haben es vermietet und ist alles kaputt. Müssen wir jetzt alles noch renovieren."
"Ja?"
Herr Neumann: "Ja, wir wollten es verkaufen und denn …" Frau Neumann: "Ja wir wollten es verkaufen. Aber die Frau XYZ da drüben wollte es kaufen …"
Herr Neumann. "Musst den Namen nicht sagen."
Frau Neumann: "Na klar. Und denn hat sie alles uns kaputt gemacht. Haben nicht so viel Geld, dass wir das nicht mal bezahlen können."
"Au Scheiße"
"Müssen das immer etappenweise machen. Wie wir Geld haben, müssen wir das machen. Sonst geht es nicht."
"Ist ja ein böses Erwachen."
"Aber ganz schön."
Herr Neumann: "Fünf Jahre lang umsonst gehaust hier – auf Deutsch gesagt."
"Und was heißt: kurz weg? Waren Sie schon ausgezogen oder wie?" "Ja, wir wollten nach Hannover, da liegt unser Sohn beerdigt, und wir wollten mal da bleiben, aber die Frau hat sich nicht von zu Hause trennen können."
"Heimweh."
Frau Neumann: "Ich bin hier groß geworden."
"Hier in dem Haus?"
"Ja. sieben Jahre, als meine Eltern hier, ich kam ja aus Ostpreußen, und mit sieben Jahre war ich, da sind wir hierher gekommen."
"Und dann hatten Sie es einer Person jetzt übergeben?"
"Ja, ich wollte es verkaufen, aber … die ganze Familie. 3 Mann haben sich gemeldet und 15 haben sie drinne gewohnt. Haben sie alles kaputt gemacht, oben die Dusche, alles ist kaputt, alles ist kaputt und wir haben nicht so viel Geld, um das zu bezahlen."
"Sie sind beide Rentiers?"
"Ja."
"Und Rente wird hier nicht sprudeln, nehme ich mal an."
"Aber wie."
Herr Neumann: "Aber wie! Die sprudelt über."
Frau Neumann: "Ich habe bloß über 400 Euro Rente."
Herr Neumann: "Frau 459 und ich 677 – und das ist viel."
"459 und …"
"677."
"Davon muss man leben."
"Altersrente. Allerdings, Gott sei dank, habe ich noch eine Silikose, Gott sei dank ist zuviel gesagt, und da kriege ich darauf auch noch eine Unfallrente, weil ich nicht im Bergbau, aber in der Keramik gearbeitet habe früher. Und da habe ich mir die Silikose zugezogen. 40 Prozent Lunge bloß noch. Ja und nun habe ich da Bescheid gekriegt von Meißen, dass ich mehr Rente kriege, weil es schlimmer geworden ist - hat man mir die Altersrente gleich runter genommen. Weg. Aus. Weiter gibt’s keine Rente."
"Haben Sie denn noch Unterstützung aus dem Ort, dass man Ihnen hilft oder …?"
"Wer soll noch helfen? Ist doch keiner mehr da."
Zwischenspiel 3 - Zeichen aus der Provinz
"Wer soll noch helfen? Ist doch keiner mehr da." hatte Herr Neumann noch gesagt. Wir glauben dies. Zwischen Diedrichshagen und Jennewitz liegen zwar zwei Kilometer, aber keine Welten.
Die Vermessung der Wirklichkeit – die Geographen holen sich die notwendigen Daten vom Himmel, die Politiker … wir wissen es nicht. Die Neuvermessung der Republik erfolgt millimetergenau, die Bestimmung der menschlichen Lage durch die Politiker scheint uns da eine größere Abweichung aufzuweisen. Sie daheim meinen, die hohe Politik hätte nicht in Heiligendamm absteigen sollen, sondern in Jennewitz oder Diedrichshagen? DAS haben Sie gedacht, wir nicht!
Aber wir wollen jetzt nicht vom Weg nach Schwerin abschweifen, denn im Amt für Geoinformation hoffen wir endlich Antwort auf unsere Frage zu finden: Steigt sie auf oder ab die Republik? Wir sind gespannt … auf die geodätische Antwort. Vielleicht geht es ja tatsächlich aufwärts, nur wir merken es nicht, jedenfalls nicht so richtig.
Kapitel 4 - Die Vermessung von Mecklenburg-Vorpommern
Rubach: "Die Höhenänderungen resultieren im Wesentlichen aus, ja, wir sind zwar auf einer relativ starren Erdkrustenplatte, aber man weiß ja landläufig, dass sich Skandinavien permanent hebt, also Skandinavien hebt sich etwa ein Zentimeter pro Jahr."
Wir lassen jetzt mal die geotektonischen Bewegungen von den Alpen her außen vor und steuern mit Herrn Dr. Rubach direkt die Republik an.
Rubach: "Und was eigentlich die größten Höhenveränderungen aber bewirkt, das ist der Mensch selber."
Das Auf und Ab durch die Politik?
Rubach: "Der Mensch verändert ja permanent, untergräbt die Erde durch Bergbau, nimmt Bodenschätze aus der Erde heraus, und das sackt natürlich flächig nach, ohne dass man das so richtig mitkriegt."
Wir schon. Manchmal wird uns schwindlig!
Rubach: "Also im Bereich Nordrhein-Westfalen, Niedersachsen, Saarland, wo öfter auch mal Erdbeben stattfinden, da sinken also ganze Landstriche um mehrere zig Zentimeter, so zwei Dezimeter Höhenunterschiede sind da keine Seltenheit."
Zwischen zwei Meßperioden … also in … 20 Jahren.
Rubach: "In Mecklenburg-Vorpommern ist das nicht so doll. Also …"
Wir nicken. Kein Bergbau und so, jedenfalls nicht so richtig.
Rubach: "Gut, aber … obwohl heute in der Zeitung war zu lesen, dass hier auch Erdöl gefördert wird."
Vielleicht wollen deshalb Energiekonzerne hier eine unterirdische "CO-2-Müllkippe" anlegen!?
Rubach: "Insofern ist eigentlich jetzt so ein Trend wie in, wo wirklich was los ist, wie in Nordrhein-Westfalen, wo es immer nach unten geht, da fällt die Erde halt in sich zusammen, weil die Hohlräume sich zusammendrücken durch die Bodenlast, das ist hier in Mecklenburg-Vorpommern nicht der Fall."
Also Abstieg im Westen, Aufstieg im Osten?
Rubach: "Die vielen Punkte, die wir an der Küste haben oder in Mecklenburg-Vorpommern, haben alle einen unterschiedlichen Trend. Einer hebt sich etwas, einer senkt sich etwas, so dass man eigentlich …"
Entschuldigung, nicht mal beim höhenmäßigen Aufstieg hält Deutschland mit Skandinavien Schritt?
Rubach: "Nein, die entfernen sich von uns in der Höhe."
Zwischenspiel 4 - Umgekehrt
Beim größten deutschen Vermessungsprojekt funktionierten die Aufzeichnungsgeräte tadellos, bei uns nicht immer. Das Aufnahmegerät löschte einige, so empfanden wir sie, doch recht symbolträchtige Situationen. Als wir uns ein Merkzeichen auf dem Band setzten!
Gelöscht, aber nicht vergessen. Jennewitz. Die Frau, die gerade Mittag anrichtete und herzhaft lachte, als wir einfach so nach Arbeit im Dorf und so fragten. Wir haben dann auch gelacht … und erfahren, hierorts nennt man nicht, wie andernorts, die Zahl der Arbeitslosen, sondern die Zahl derer, die noch Arbeit haben.
Gelöscht, aber nicht vergessen der ältere Herr, der sich mit Rasen mähen ein paar Pfennige dazu verdienen wollte und eine Gras-Sense, im Volksmund Trimmer genannt, anzuwerfen versuchte. Zig mal jaulte der Trimmer kurz und jämmerlich auf - aus. Plötzlich blieb er an. Der alte Mann nahm ihn sachte hoch, stiefelte vorsichtig los … 5, 6 Meter. Aus, Ende, Trimmer stumm. Der Mann ging weiter.
Deutschland bewegt sich.
Kapitel 5 - Noch viele Geschichten
Hören Sie ihn, den Messpunkt? Das Mikrofon liegt genau auf dem "Geodätischen Festpunkt". Das Messgerät sammelt Daten, wir sammelten Eindrücke. Und könnten noch so manche Geschichte erzählen.
Zum Beispiel die von der kurzen Begegnung mit einem Wessi, der gerade seinen 46.Tages-Kilometer in die Pedalen getreten hatte und die Ferne zur Küste lobte – schöne Landschaft, vergessene Gegend, alles billiger.
Tourist: "Ist ja Wahnsinn. Da habe ich dann auch noch eine Tasse Kaffee und ein Stück Kuchen für 2.75 Euro am Mann, muss man an der Küste 5 Euro für zahlen."
Auch Frau Kanschat aus Jennewitz gab uns noch die eine oder andere Geschichte mit ins Radio. Zum Beispiel die von ihrem Mann, einem Ostpreußen, der die Arbeitsmarkt-Anforderungen nach "Flexibilität" mit 5 Berufen, unter anderem Müller und Uhrmacher, geradezu beispielhaft erfüllt hatte und nach dem 8. Schlaganfall vor sechs Jahren verstarb.
Kanschat: "Er hat sich aufgeopfert für dieses Dorf. Wenn er heute die Augen öffnen würde, da ist nichts mehr, nichts mehr!"
Geschichten, die zwei Kilometer weiter in Diedrichshagen nicht aufhören. Kühlungsborn und Heiligendamm liegen zwar gleich um die Ecke, aber dennoch … sehr weit weg. Sie erinnern sich, Herr und Frau Neumann und die alte Molkerei. Haus-Käufer kamen und gingen gleich wieder, weil: im Anbau der Molkerei wohnt ihr Neffe, der seinen Anbau nicht verkaufen will.
Herr und Frau Neumann: "Nee, um Gottes Willen"
Herr Neumann: "Nein, sind doch auch arbeitslos. Der eine ist herzkrank, der kann nicht arbeiten. Und der andere ist arbeitslos. Hat umgeschult, kriegt aber keine Arbeit. Hat früher im Schweinestall gearbeitet – ist ja alles weg, ist ja nichts mehr hier. Kuhställe sind alle abgerissen. Schweineställe auch nicht mehr. Waren da oben mal über 1000 Schweine und nun ist gar nichts mehr."
Irgendwie kommen einem solche Geschichten bekannt vor. Vielleicht erklärte uns deshalb Herr Rubach in Schwerin, weshalb es manchmal auch sinnvoll sei, Fakten zu notieren, die nicht unbedingt Neuigkeiten vermelden würden. Also keine News, nix für Schlagzeilen sind, sondern "nur" die Bestätigung von Daten, also von Wirklichkeiten vor Ort.
Rubach: "Auch eine Nichtveränderung ist ja ein Wissen, was man haben muss. Also auch wenn ich weiß, es verändert sich nichts, ist es immer noch besser, als wenn ich nicht weiß, ob sich nichts verändert."
Nachspiel - Hügel oder Berg?
Ach so, beinahe hätten wir es vergessen. Wann wird ein Hügel zum Berg? Oder andersrum: Wann wird ein Berg zum Hügel?
Die Frage lag uns die ganze Zeit auf der Zunge, da doch die "Position und Höhe" unserer Republik die Geodäten interessiert. Also ob es aufwärts geht oder abwärts? So rein höhenmäßig, halt geodätisch. Aber das sagten wir ja schon: mehr runter. Und …
Wann ein Hügel zum Berg wird? Nun, in der Grundschule lernen sie: Ein Berg ist ein Berg, wenn er 200 Meter hoch ist. Der Diedrichshagener Berg schafft exakt 129,8 Meter. Ist also, leider, leider, nur ein Hügel.
Und wenn schon. Der Diedrichshagener Berg ist zwar kein richtiger Berg, aber der Gipfel in Heiligendamm schaffte es nicht mal bis zum Hügel! Wir stellen uns gerade vor, wenn Angie damals … statt Heiligendamm … oder heute mal … da in Jennewitz … Sie daheim am Lautsprecher können das zu Ende denken, wir müssen auf die Straße achten!
Apropos Straße. Die Geodäten glauben tatsächlich, nach der Messaktion würden die Karten der Bundesländer zu einander passen, also die Übergänge von Bundesland zu Bundesland exakt stimmen, weil: bisher nutzten die Bundesländer verschiedene Koordinatensysteme. Die Karten waren mitunter so föderal vermessen, dass bei Bauvorhaben schon mal die Autobahn in einem Land da endete und im anderen Bundesland aber dort anfing. So versetzt. Sie als Autofahrer hätten da ganz schön …