"Deutsches Familienrecht vernachlässigt Kindeswohl"

Moderation: Katrin Heise · 23.11.2007
Die Leiterin der Arbeitsgemeinschaft Familienrecht im Deutschen Anwaltverein, Ingeborg Rakete-Dombek, hat dafür plädiert, die Kindergrundrechte in die Verfassung aufzunehmen. Im deutschen Familienrecht gehe es vorwiegend um die Rechte der Eltern am Kind, kritisierte Rakete-Dombek.
Katrin Heise: Kinder haben das Recht auf Umgang mit ihren Erzeugern. So steht es sowohl in der EU-Menschenrechtskonvention als auch in der UN-Kinderrechtskonvention und seit 1998, nach der Modernisierung des Kindschaftsrechts, auch im deutschen Gesetzbuch. Karlsruhe muss nun entscheiden, ob dieser Umgang erzwungen werden soll. Der Fall des Vaters, der jeglichen Kontakt zu seinem achtjährigen Sohn ablehnt, erhitzt die Gemüter. Im Radiofeuilleton äußerten sich unsere Hörer betroffen.

Hörer 1: Ich bin der Meinung, dass das Kind sehr wohl ein Recht darauf hat, seinen leiblichen Vater kennenzulernen. Aber ich würde schon zu bedenken geben, wenn das gerichtlich erzwungen wird, dass dann natürlich Protesthaltungen in dem Vater entstehen.

Hörer 2: Ich finde, was Kinder wirklich brauchen, ist Liebe. Und man kann keine Liebe erzwingen. Und ich finde das von dieser Mutter wirklich ganz entsetzlich.

Hörer 3: Es kann ja auch psychologisch gesehen sehr, sehr schlecht sein. Das Kind kann ganz große Probleme bekommen, einfach aufgrund dieses Zusammenpressens mit einem Vater, das das Kind ablehnt.

Hörer 4: Selbstverständlich ist es wichtig für ein Kind, die leiblichen Eltern zu kennen. Ich bin heute 50 Jahre alt, und mein Vater will bis heute nichts von mir wissen. Und da ist die eine Hälfte der Herkunft so im Dunkeln, im Trüben, und das ist ein Drama, das trägt man sein ganzes Leben mit sich herum.

Heise: Ich begrüße jetzt Ingeborg Rakete-Dombek, Fachanwältin für Familienrecht, gleichzeitig leitet sie die Arbeitsgemeinschaft Familienrecht im Deutschen Anwaltverein. Guten Tag, Frau Rakete-Dombek!

Ingeborg Rakete-Dombek: Guten Tag!

Heise: Zurzeit sind Sie grad in Köln bei der Herbsttagung Ihrer Arbeitsgemeinschaft?

Rakete-Dombek: Ja.

Heise: Wie wird denn da der aktuelle Fall diskutiert?

Rakete-Dombek: So ähnlich, wie eben von Ihren Hörern. Es ist ja auch juristisch nicht leicht zu fassen. Ich muss sagen, jeder, der sich bei Ihnen jetzt eben geäußert hat, hat ja irgendwie recht. Die Frage ist nur, wie wird das Bundesverfassungsgericht damit umgehen können. Wir haben also im Gesetz nicht nur den Umgang zum Erzeuger, sondern es steht drin, jedes Kind hat das Recht auf Umgang mit seinen Eltern, und die Eltern haben die Pflicht dazu. Und das muss man jetzt anschauen und muss man auslegen. Und gleichzeitig steht im Gesetz, dass es zum Wohl des Kindes gehört, dass es Umgang mit beiden Elternteilen hat. Das war eine Definition von 1998. Und ich frag mich heute, ob es so gut war, das ins Gesetz zu nehmen.

Heise: Warum? Wenn man es nicht ins Gesetz genommen hätte, das Kindeswohl?

Rakete-Dombek: Also wir hatten ja vorher schon Umgangsrechte. Die wurden kritisiert. Es wurde gesagt, die Mütter gewähren den Umgang nicht, und es gab eine sehr starke Vaterbewegung. Und dann kam dieser Gesichtspunkt, mit dem man vielleicht als Gesetzgeber den umgangsunwilligen Elternteil etwas unter Druck setzen wollte, ins Gesetz. Und es kam auch die Pflicht der Eltern ins Gesetz zum Umgang. Und was man sich nun dabei gedacht hat, weiß ich nicht. Aber es ist jetzt so, dass so ein Fall vorliegt. Und ich habe von Kollegen hier heute gehört auf unserer Tagung, dass es ungefähr drei weitere Fälle gibt, die in den Praxen existieren.

Heise: Gestern kommentierten die "Stuttgarter Nachrichten" diesen aktuellen Fall folgendermaßen: Im deutschen Familienrecht ist es doch nie wirklich um das Kindeswohl gegangen, gerangelt und geredet wird fast nur noch über die Rechte der Erwachsenen, das laufende Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht belegt dies einmal mehr. Ihre Worte eben habe ich eigentlich genauso interpretiert.

Rakete-Dombek: Ja! Da kann ich nur zustimmen. Es geht immer um die Rechte der Eltern am Kind oder an der Zeit des Kindes. Aber es geht nicht wirklich um Kinderrechte, und das offenbart einen Mangel in unserer Verfassung.

Heise: Wie lässt sich dieser Mangel abstellen?

Rakete-Dombek: Ja, es offenbart den Mangel, dass wir in der Verfassung keine Kinderrechte verankert haben. Wir haben nur das Elternrecht verankert. Und das Bundesverfassungsgericht kann ja nur unsere Verfassung, wie sie ist, anwenden. Die Pflege und die Sorge für das Kind ist die zuvorderst den Eltern obliegende Pflicht, so ähnlich heißt es in der Verfassung. Aber die Kindergrundrechte kommen nicht vor. Und wir kämpfen eigentlich schon länger, also nicht die Arbeitsgemeinschaft, aber viele einzelne Juristinnen und Juristen, dafür, dass Kinderrechte in die Verfassung kommen. Und dann wäre die Abwägung vielleicht etwas anders, nicht nur dieser etwas schwammige Begriff "Wohl des Kindes", sondern dann geht es vielleicht auch um die Rechte des Kindes, das sich ja vielleicht auch selbst mal weigern könnte, hin- und hergeschoben zu werden nach den Arbeitsplänen oder den Bedürfnissen der Eltern.

Heise: Irgendeiner der Hörer hat es auch gesagt, Liebe kann nicht erzwungen werden, das Gericht ist angewiesen auf die Einsichtsfähigkeit der Eltern ...

Rakete-Dombek: Völlig richtig.

Heise: ... wenn es dem Kind wirklich nützen soll. Was erleben Sie eigentlich da in Ihrem Alltag?

Rakete-Dombek: Also wir erleben, seit es die gemeinsame elterliche Sorge als Regelfall gibt, eigentlich zunächst dann jetzt auch engagiertere Väter, die sich auch um ihre Kinder gekümmert haben, und die erst mal infrage stellen, dass nach der Trennung das Kind natürlicherweise bei den Müttern bleibt. So, dann haben wir den ersten Streit um den Aufenthalt des Kindes. Und wenn das gelaufen ist, oder wenn sich die Eltern da noch einigen können, dann geht es vielleicht um den Umfang des Umgangs. Es wird also immer mehr um Zeitanteile am Leben des Kindes gekämpft, ohne dass ich meine, dass das Wohl des Kindes im Einzelfall tatsächlich geprüft wird, denn im Gesetz steht ja: Der Umgang entspricht seinem Wohl in jedem Falle. Und da verlieren wir auch manchmal die Kindesbedürfnisse aus den Augen, ist mein Eindruck.

Heise: Umgangsrecht, ich spreche mit der Spezialistin für Familienrecht im Deutschen Anwaltverein Ingeborg Rakete-Dombek. Bundesjustizministerin Brigitte Zypries kam zum Prozessauftakt. Könnte es sein, dass dieser Fall ein Präzedenzfall wird?

Rakete-Dombek: Also das ist sowieso ein Präzedensfall. Aber es ist so, dass das Bundesjustizministerium einen Gesetzentwurf gemacht hat über eine neue Verfahrensordnung im Familienrecht, und da soll also nicht mehr nur Zwangsgeld angeordnet werden können in Umgangssachen, sondern Ordnungsgeld, das heißt, bei jedem Verstoß gegen eine Umgangsregelung, wird ein Geldbetrag fällig. Und die Betonung des Umgangsrechts, auch im Verfahrensrecht, wird damit natürlich sehr gehoben. Und man muss sagen, wenn ein Kind lange keinen Umgang hatte, nur weil ein Elternteil nicht will, dass der stattfindet, das kindliche Zeitempfinden hat das Bundesverfassungsgericht schon längst als ein besonderes empfunden. Die Zeit eines Kindes vergeht schnell, und Entfremdung entsteht schnell. Das heißt, zu, jetzt sage ich mal, liebevollen und guten und zuwendenden Eltern sollte der Kontakt nie lange unterbrochen werden. Aber streitende Eltern, ob die noch gute Eltern sind, das fragt man sich ja manchmal, wenn man da zuschaut.

Heise: Sie haben aber eben die Umgangspflicht kritisiert. Das spräche doch eigentlich dafür?

Rakete-Dombek: Die Umgangspflicht habe ich für das Kind kritisiert. Natürlich muss ein Vater oder eine Mutter, wenn es eine Umgangsregelung gibt, auch kommen und das Kind abholen. Ich hab ganz viele weibliche Mandantinnen, die sagen, ja, der kommt einfach nicht, das Kind wartet, ich hab es vorbereitet, das Kind ist enttäuscht, es ist traurig. Und da würde ich denen auch manchmal gern ein Ordnungsgeld auferlegen, wenn die unangemeldet nicht kommen oder zu spät mit dem Kind nach Hause, oder alle diese Dinge. Was glauben Sie, wo da Konflikte entstehen an jeder Ecke!

Heise: Frau Zypries sprach sich generell für Zwangsausübung aus. Welche Erfahrungen haben Sie damit?

Rakete-Dombek: Wissen Sie, auch schon ein Zwang gegen die Mutter, die den Umgang nicht gewährt, geht doch ins Leere. Da haben wir Zwangsgeld oder Ordnungsgeld. Wir haben Mütter, die verfügen über kein eigenes Einkommen oder nur über das Mindesteinkommen, da können Sie sowieso nichts vollstrecken. Also das klingt immer so, als ob sich dadurch, durch Zwang, was ändern würde. Ich meine, es ist nicht das richtige Mittel in jedem Fall.

Heise: Wenn Sie aus Ihrer Praxis schildern, ist es zu beobachten, dass vor Gericht zwischen Eltern mit immer härteren Bandagen gekämpft wird?

Rakete-Dombek: Ich meine, ich könnte das jetzt so platt sagen. Wir haben immer weniger Kinder. Das Kind ist ein absolut seltenes Luxusgut und ist stark umkämpft, natürlich. Wir haben ja nicht mehr Eltern, die haben vier Kinder, sondern in der Regel haben sie nur noch eins. Und das will jeder für sich haben, denn Kinder sind ja auch ein Garant für Zuwendung, Wärme, gefühlhafte Beziehungen, und dieses Kind wird auch stärker vermisst, als wenn man vier hätte, ja. Also schon deshalb ist der Kampf größer um die Kinder auch.

Heise: Umgangsrecht und Umgangszwang. Ich sprach mit Ingeborg Rakete-Dombek, Familienrechtsanwältin und Spezialistin im Deutschen Anwaltverein.