Deutscher Wirtschaftspatriotismus

Von Michael Stürmer |
Die Erde ist flach – so überschreibt der amerikanische Starkolumnist Thomas Friedman sein neuestes Buch zur Globalisierung. Was Friedman meint, ist die Globalisierung der Information, der Märkte für Waren und Arbeit und Dienstleistungen, und nicht zuletzt der Lebensformen.
Globalisierung kam in vielen Wellen nacheinander und nebeneinander, lange Zeit eine Erscheinung, die von Europa ausging, im 20. Jahrhundert mehr und mehr dann von Amerika. Die globale Vernetzung begann im Zeitalter der Entdeckungen, wurde durch die industrielle Revolution gefördert und durch die Weltkriege noch einmal gewalttätig beschleunigt. Der Kalte Krieg war, weil die Supermächte dem Gegner auch noch den fernsten Erdenwinkel verweigern wollten, längst globalisiert, bevor es das Wort gab. Seitdem aber haben Informationstechnologie, sinkende Frachtraten, Massenkonsum und weltweite technische Standards einen Wettbewerb geschaffen wie nie zuvor.

Eine Zeitlang erfuhren die Deutschen noch von ihren Regierungen, unter anderem von Kanzler Helmut Schmidt, wir würden Blaupausen exportieren, die anderen sich die Hände schmutzig machen. Inzwischen ist klar, dass in China und Indien Leute leben, die lernbegierig sind und auch nicht schlechter arbeiten oder forschen als die in Erlangen oder Gelsenkirchen, nur werden sie schlechter bezahlt. Standorte in Brandenburg und Baden-Württemberg müssen mit chinesischen Küstenprovinzen konkurrieren, und wer gewinnt, ist nicht ausgemacht.

Bisher haben die Deutschen in der Globalisierung eher gewonnen als verloren. Man wird nicht Exportweltmeister, wenn man hinterherhinkt. Aber oftmals wird nur noch importierten Halbwaren das Etikett "Made in Germany" aufgeklebt, und die Güter werden wieder in die Welt geschickt. Der Höhenflug des "Dax", der die Kurse der 30 führenden deutschen Aktiengesellschaften notiert, spiegelt nicht den Stand der deutschen Wirtschaft wieder, sondern deren Verflechtung in die Weltwirtschaft.

Dem "brain drain" der gut ausgebildeten jungen Forscher und Techniker aus Deutschland folgt beides, Kapitalflucht vor Berliner Vielregiererei und ein Strom von Investitionen, um an freundlicheren Gestaden zu produzieren für den Weltmarkt. Die hohen Löhne sind nicht der einzige Grund, noch drückender sind die auf die Löhne aufgeschlagenen Sozialkosten, dazu Bürokratismus, Wichtigtuerei der Behörden, lange Rechtswege und forschungsfeindliche Gesetze. Dazu kommt die Unsicherheit der Energieversorgung nach dem Atomausstieg. Die Politik gaukelte lange, zu lange den Wählern vor, es gebe beides, die geschützte Werkstatt und die Hochleistungsindustrie.

Die Politik weiß es, die Bürger ahnen es: In der realen Welt ist das nicht zu haben. Doch immer mehr Nettokreditaufnahme, auf Deutsch Schulden, erlauben es den Politikern, die Stunde der Wahrheit vor sich und den Bürgern her zuschieben. Sollen doch die Kinder zusehen: Die aber sind dann längst über alle Berge, oder wurden nie geboren. Die Politik denkt noch immer in Nationalbegriffen vergangener Jahrhunderte. Das reale Leben und der Alltag sind längst global.

Schutz der nationalen Arbeit: Früher oder später wird der Ruf ertönen, wie jetzt schon in Frankreich, so auch in Deutschland, und die Rufer werden die Gewerkschaften sein. Sie weisen zwar jeden Verdacht von sich, etwas gegen Ausländer zu haben. Wenn die Ausländer aber Arbeit wollen, dann ist das etwas ganz anderes. Es waren die Gewerkschaften, die die Entsenderichtlinien erzwangen und der EU-Dienstleistungsrichtlinie, die offene Arbeitsmärkte wollte, die Zähne zogen.

In Frankreich ist "patriotisme economique" im Schwange, wie der französische Ministerpräsident die Sache nannte, ökonomischer Patriotismus in altfranzösischer Tradition. Der wendet sich gegen ausländische Übernahmen französischer Firmen, sei es bei Joghurt, sei es bei Stahl. Dabei gehen die Franzosen, unterstützt aus den tiefen Taschen des Staats, selbst gern auf weltweite Einkaufstour, nicht nur in der Europäischen Union, sondern weltweit.
Ist Abschließung, wie der Stammtisch fordert, die Antwort? Das soll man sich hundertmal überlegen. Deutschland ist bisher im Großen und Ganzen auf der Gewinnerseite des globalen Marktplatzes. Um aber da zu bleiben, muss sehr viel mehr geschehen als bisher. PISA war ernste Warnung, die Abwanderung von jährlich mehr als 100.000 Fachkräften, eine Elite, ist noch ernster. So ist in den Märkten von heute schon nicht zu bestehen, und morgen noch weniger.

Was das Land braucht, ist eine Begegnung mit der Wirklichkeit. Vaterlandslose Gesellen – so beschimpfte ein Bundeskanzler vor nicht langer Zeit Unternehmer, die im Ausland investierten, um im Inland noch Arbeitsplätze erhalten zu können. Kein Unternehmen kann es sich leisten, aus patriotischen Gründen Pleite zu gehen.

Deutschland ist in der Krise. Aber die Regierung hat lange Zeit den Schmerz mit Haushaltsdefiziten betäubt. Irgendwann tut es weh. Bisher war die Erde eine Kugel, und seit dem Wirtschaftswunder waren wir es, die oben standen. Jetzt zeigt sich: Die Erde ist flach.


Michael Stürmer - Historiker, Autor

Der 1938 in Kassel geborene Michael Stürmer studierte in London, Berlin und Marburg, wo er 1965 promovierte. Nach seiner Habilitation wurde er 1973 ordentlicher Professor für Neuere und Neueste Geschichte, Sozial- und Verfassungsgeschichte; außerdem lehrte er unter anderem an der Harvard University, in Princeton und der Pariser Sorbonne. 1984 wurde Stürmer in den Vorstand der Konrad-Adenauer-Stiftung berufen und zwei Jahre später zum Vorsitzenden des Forschungsbeirates des Center for European Studies in Brüssel. Zehn Jahre lang war er überdies Direktor der Stiftung Wissenschaft und Politik. Zu seinen Veröffentlichungen zählen: "Das ruhelose Reich", "Dissonanzen des Fortschritts", "Bismarck - die Grenzen der Politik" und zuletzt "Die Kunst des Gleichgewichts. Europa in einer Welt ohne Mitte". Im so genannten "Historikerstreit" entwickelte Stürmer die von Habermas und Broszat bestrittene These von der Identität stiftenden Funktion der Geschichte. Stürmer, lange Kolumnist für die Frankfurter Allgemeine Zeitung, schreibt jetzt für die Welt und die Welt am Sonntag.