Deutscher Vernichtungsfeldzug im Osten

Kalkulierter Massenmord

Der Überfall auf die Sowjetunion - ein Vernichtungsfeldzug der Wehrmacht
Der Überfall auf die Sowjetunion - ein Vernichtungsfeldzug der Wehrmacht © dpa
Ulrich Herbert im Gespräch mit Korbinian Frenzel |
1941 überfiel die deutsche Wehrmacht die Sowjetunion - mit dem Ziel die dortige Bevölkerung zu vernichten. Der Zweite Weltkrieg ging damit in eine neue Phase, sagt der Historiker Ulrich Herbert. Denn es begann ein Morden von bislang unbekannten Ausmaß.
Wie grausam die Deutschen gegen die Bevölkerung im Osten vorgingen, daran erinnerte in diesen Tagen erst das Gedenken zum 75. Jahrestag des Massakers von Babi Jar. Auch eine Ausstellung in Berlin macht dieses lange unbelichtete Kapitel des Nationalsozialismus zum Thema - die Ausstellung "Massenerschießungen. Der Holocaust zwischen Ostsee und Schwarzem Meer 1941-1944" in der Topographie des Terrors.
Den Eröffnungsvortrag am heutigen hält der Historiker Ulrich Herbert. Er ist Professor für Neuere und Neueste Geschichte in Freiburg und beleuchtet das Unternehmen Barbarossa, der wie Herbert sagt, "ein gut vorbereiteter, mit riesigem Aufwand vorbereiteter Krieg" mit dem Ziel "ein Regiment über einen Großteil der Erde führen zu können".
Der massenhafte Tod von Millionen Menschen sei dabei fest einkalkuliert gewesen, so Herbert im Deutschlandradio Kultur. In den Plänen und strategischen Überlegungen sei man von vornherein davon ausgegangen, "dass ein Großteil der sowjetischen Bevölkerung deportiert würde oder den Hungertod erleiden müsse, und zwar deswegen, weil die Wirtschaft der Sowjetunion gebraucht würde für das deutsche Volk und vor allen Dingen für die deutsche Wehrmacht".
Erstmals aufgetaucht sei der Vernichtungsgedanke in der Sowjetunion jedoch nicht, sagt der Historiker. Die historischen Untersuchungen hätten gezeigt, "dass die meisten Elemente der Massenvernichtung bereits in Polen ausprobiert wurden. Man darf nicht vergessen, dass die Ghettoisierung der Juden und der Massentod in den Ghettos schon begonnen hatte, als der Krieg gegen die Sowjetunion anfing."
Trotzdem sei es richtig, dass mit dem Juni 1941 eine neue Phase dieses Krieges begonnen habe, da nun auch offiziell gesagt worden sei, dass es sich um einen Vernichtungskampf handele. "Das hatte es vorher so nicht gegeben."


Das Interview im Wortlaut:
Korbinian Frenzel: Dass die Verbrechen Deutschlands im Zweiten Weltkrieg in ihrer Grausamkeit unvergleichbar sind, das ist allen klar, die sich auch nur ansatzweise damit befasst haben, und es gibt nach all den Jahren und Jahrzehnten der Forschung ohne Frage viele hellausgeleuchtete Teile der dunklen deutschen Geschichte, aber es gibt nach wie vor Teile, die weniger im Fokus sind – das Unternehmen Barbarossa zum Beispiel, der Angriff auf die Sowjetunion ab 1941. Eine Ausstellung in Berlin, in der "Topografie des Terrors" will Licht werfen auf diese Verbrechen: "Massenerschießung, der Holocaust zwischen Ostsee und Schwarzem Meer 1941 bis 1944", das ist der Titel. Heute Abend eröffnet der Freiburger Historiker Ulrich Herbert eine begleitende Vortragsreihe, und bevor er das tut, ist er im Deutschlandradio Kultur zu Gast. Ulrich Herbert, guten Morgen!
Ulrich Herbert: Guten Morgen!
Frenzel: Wenn Sie heute Abend in Berlin sprechen, geht es um die Vorbereitung dieses gewaltigen Feldzuges gegen die Sowjetunion. Was war dieser Feldzug, in erster Linie ein, ich sage mal, normaler militärischer Feldzug oder ein akribisch geplanter Massenmord?
Herbert: In gewisser Weise beides. Er war zunächst mal ein Umweg, um auf diesem Weg, in die man die Sowjetunion schnell schlug, England, also Großbritannien schlagen zu können. Das hört sich vielleicht ein bisschen merkwürdig an von heute aus, aber es ging im Sommer 1940 nach den großen Erfolgen gegen Westeuropa, insbesondere gegen Frankreich, darum, Großbritannien zu schlagen. Das sollte in kürzester Zeit geschehen, klappte aber nicht, und im Sommer, Frühherbst 1940 gab es dann erste Überlegungen, wie Großbritannien zu besiegen sei.
Da gab es verschiedene Optionen, und eine davon war, dass man die Sowjetunion überfalle und besiege und auf diese Weise dort ein solches Hinterland sich schaffe, dass Großbritannien die Aussichtslosigkeit des Widerstands erkennen würde. Das etwa war die Vorstellung. Damit verband sich allerdings von vornherein der Gedanke, insbesondere bei Hitler selbst, im Osten, auf dem Gebiet der Sowjetunion Lebensraum zu schaffen. Das bedeutete, dort ein riesiges Kolonialreich zu bauen. Nicht wie in Afrika wie im 19. Jahrhundert, sondern in Europa, um auf diese Weise sowohl wirtschaftlich unantastbar zu sein als auch ein Regiment über einen Großteil der Erde führen zu können.

Millionen Menschen sollten verhungern

Frenzel: Und für diesen Lebensraum, um ihn zu schaffen, war schon Teil der Planung, eben die dort ansässige Bevölkerung, vor allem aber auch die Juden zu töten?
Herbert: Es wird von vornherein davon ausgegangen in den Plänen, in den frühen Befehlen, dass ein Großteil der sowjetischen Bevölkerung deportiert würde oder den Hungertod erleiden müsse, und zwar deswegen, weil die Wirtschaft der Sowjetunion gebraucht würde für das deutsche Volk und vor allen Dingen für die deutsche Wehrmacht, und es gibt verschiedene Planungen und auch schriftliche Unterlagen darüber, dass man davon ausging, dass, so wörtlich, viele zehn Millionen Menschen verhungern werden.
Das heißt, von vornherein war hier mit diesem sogenannten Hungerplan angedacht, einen erheblichen Teil der sowjetischen Bevölkerung nach Osten abzudrängen und die anderen verhungern zu lassen. Was die Juden angeht, so war von vornherein festgelegt, oder bestand die Vorstellung, dass die Sowjetunion im Wesentlichen von Juden beherrscht werde. Das war zwar Unsinn, aber das war sozusagen festgelegt in der ideologischen Perspektive auf die Sowjetunion und dass man im Grunde vor allem die männlichen Juden töten müsse, um die Sowjetunion zum Einsturz zu bringen.
Als das dann begann im Juni 1941 unmittelbar nach dem Beginn des Krieges und überall tausende, dann zehntausende von männlichen Juden erschossen wurden, legte Himmler, der SS-Führer dann bereits im Juli oder im August 1941 fest, dass nun auch die Frauen umzubringen seien, damit die Rache nicht auf die Deutschen niederfallen könnte. Diese Vorstellungen gab es also schon sehr früh. Zugleich aber war es ein gut vorbereiteter, mit riesigem Aufwand vorbereiteter Krieg, und man glaubte ja, dass der innerhalb weniger Monate zu gewinnen sei. Das war allerdings die Überzeugung der meisten Militärbeobachter, denn die Rote Armee hatte im Winter 39/40 den Krieg gegen das kleine Finnland verloren, und deswegen glaubte man, dass Deutschland bis Weihnachten diesen Krieg gewinnen würde.
Frenzel: Sie hatten sich alle nicht gut genug die Geschichte Napoleons angeschaut, möchte man meinen. Herr Herbert, würden Sie sagen, dass dieses Unternehmen Barbarossa, dass das der Beginn war einer neuen, einer grausamen Form der Kriegsführung?
Herbert: Da sind die meisten Historiker mittlerweile etwas skeptisch, weil wir den Krieg gegen Polen mittlerweile genauer untersucht haben und feststellen, dass die meisten Elemente der Massenvernichtung bereits in Polen ausprobiert wurden. Man darf nicht vergessen, dass die Ghettoisierung der Juden und der Massentod in den Ghettos schon begonnen hatte, als der Krieg gegen die Sowjetunion anfing.
Aber es ist schon richtig, dass mit dem Juni 1941 eine neue Phase dieses Krieges begann und nun auch offiziell gesagt wurde, dass dies ein Vernichtungskampf sei, kein normaler Krieg. Es gibt dann so Zitate von deutschen Generälen, "wir führen nicht Krieg, um den Feind zu konservieren" und solche Dinge. Das hatte es vorher so nicht gegeben. Insofern war hier plötzlich auch von vornherein von der Größenordnung her eine ganz neue Phase eingetreten, die ja Ausmaße annahmen, die es vorher nie gegeben hatte, wenn man nur überlegt, dass die Sowjetunion zwischen 1941 und 1944 27 Millionen Tote beklagen musste.

"Verbrechen in unfassbarer Größenordnung"

Frenzel: Das ist eine enorme Zahl, und das führt mich zu einer Frage, zu einer Diskussion, die wir gerade jüngst um den Jahrestag erlebt haben, des Beginns des Unternehmens Barbarossa: Haben wir hierzulande zu wenig Licht geworfen auf die Verbrechen der Wehrmacht im Osten, in der Sowjetunion?
Herbert: Ich glaube nicht, denn wir erinnern uns ja alle noch an die große Auseinandersetzung um die Ausstellung "Verbrechen der Wehrmacht" vor zehn oder fünfzehn Jahren, wo in ganz Deutschland intensiv darüber diskutiert wurde, welches die Verbrechen der Wehrmacht waren. Es gab ja auch starke Widerstände dagegen. In der Wissenschaft ist das seit vielen Jahren auch international doch weitgehend geklärt.
Insofern, wir haben diese Diskussion immer wieder. Das liegt auch daran, dass die Größenordnung des Verbrechens so riesig, so abstrus ist, dass man sich selbst als Fachmann manchmal schütteln muss und fragt, kann das denn eigentlich Wirklichkeit gewesen sein. Ich glaube, dass es diese Diskussion immer wieder alle paar Jahre geben wird, auch geben muss, weil die Größenordnung dieser Verbrechen so unfassbar ist.
Frenzel: Eine Erinnerung, die wachgerufen wird, wacherhalten wird unter anderem mit einer Ausstellung und einer Vortragsreihe in der "Topografie des Terrors", ab heute Abend Auftakt mit dem Freiburger Historiker Ulrich Herbert. Herr Herbert, vielen Dank für das Gespräch hier im Deutschlandradio Kultur!
Herbert: Ich danke auch!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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