Theaterstück "Mord"

Die tote Braut singt das Lied vom Krieg

Eine palästinensische Frau läuft in Trümmern in Gaza Stadt umher.
Eine palästinensische Frau läuft in Trümmern in Gaza Stadt umher. © AFP / Mahmud Hams
Von Christian Enkeler · 14.03.2015
Ein Stück über Mord und Vergeltung zwischen Israelis und Palästinensern: Dedi Baron aus Tel Aviv inszeniert im Düsseldorfer Schauspielhaus - im Rahmen der Jüdischen Kulturtage - "Mord" von Hanoch Levin. Baron stellt die Wucht von Tod, Mord und Leben in den Vordergrund.
Mark erschütternde Schreie im Theater sind oft peinlich – hier sind sie das nicht. Wenn Hannah Werth als 18-jährige Braut über dem Mann weinend zusammenbricht, mit dem sie Momente vorher noch den Beginn eines von Lust erfüllten Lebens feiern wollte, sticht einen das bis ins Herz. Der Bräutigam ist tot, erschossen von einem Mann, den das Theaterstück "Mord" nur "Der Vater" nennt. Der Vater wird auch die Braut erschießen, und vorher wird er sie vergewaltigen. Einen Grund, der einer Prüfung standhielte, gibt es dafür nicht.
Genauso wie es einen Akt vorher keinen Grund dafür gab, dass drei israelische Soldaten einen 16-jährigen Araber grausam ermorden, eben den Sohn dieses "Vaters". Danach wird "der Vater" die Last seines toten Sohnes nicht los. Möglich, dass der israelische Bräutigam einer der Soldaten war. Vielleicht aber auch nicht. Fortan trägt noch ein Vater mehr die Last seines toten Sohnes.
Die israelische Regisseurin Dedi Baron bürdet die Toten den Lebenden nicht auf den Rücken, sondern sie lässt sie zur treibenden Kraft werden. Die Söhne legen ihre Köpfe auf die Schlüsselbeine der Väter und treiben sie mit ihren Stirnen rückwärts. Die tote Braut singt das Lied vom Krieg als Begleiter. Es wechselt in einen Tanz. Die Hochzeitsgesellschaft, Tote wie Lebende, tanzt im Publikum kurz mit Zuschauern.
Raue Ästhetik auf der Bühne
Hanoch Levin, einer der berühmtesten Gegenwartsautoren Israels, starb 1999 mit 56 Jahren an Krebs. Bis dahin hatte er 56 Stücke geschrieben und viele davon auch selbst inszeniert. Die Uraufführung von "Mord" besorgte ein Kollege in Israel 1997 mit israelischen und arabischen Schauspielern, 1999 kam diese Inszenierung als Gastspiel auch nach Deutschland. Nach der deutschen Erstaufführung erst diesen Monat in Stuttgart hat das Stück nun eine israelische Regie-Professorin mit dem Düsseldorfer Ensemble auf die Bühne gebracht.
Dedi Baron stellt die Wucht von Tod, Mord und Leben in den Vordergrund. Ein Schwerpunkt liegt auf den Kindern – was sehr weit gefasst ist: Noch im Epilog sagt jemand über einen vorbeigehenden Greis: "der Sohn von jemand". - Die Botenrolle, die einmal Frieden und dann vor derselben brennenden Kulisse wieder Krieg verkündet, wird von einem Jungen mit nacktem Oberkörper per Videoprojektion übernommen. Videoprojektionen zeigen in Zeitlupe und sehr ästhetisiert Kinder mit Steinschleudern und Vermummung. Die hoch plastische Stilisierung in schönen Farben mutet für sich genommen zum Thema etwas seltsam an. Aber der krasse Gegensatz zu der recht rauen Ästhetik auf der Bühne ist gut.
Florian Ettis Bühnenbild besteht aus einzelnen hohen Bodenblöcken, die zunehmend den Zusammenhalt als Spielfläche verlieren und in der letzten Szene nur noch Berg, Schlucht und versperrter Fluchtweg sind. Hier steht Markus Danzeisen als "Erschöpfter Arbeiter", als Spanner auf der Lauer, als eine Hure erscheint, in der Gestalt von Claudia Hübbecker, die ihm sogar Rabatt gäbe – aber er hat überhaupt gar kein Geld. Gerade als sie ihn mit zwei Kolleginnen drangsaliert, explodiert eine Bombe, und die Hure erklärt ihn kurzerhand zum Mörder. Die Gruppe aus Huren und Nachbarn lyncht ihn, die Hure schneidet ihm den Kopf ab und wird zur Heldin.
Kampf von Mensch gegen Mensch
Hanoch Levin kritisiert nicht nur beide Seiten, er zeichnet auch das Bild eines archaischen Kampfes von Mensch gegen Mensch, in dem Triebe und Lüste den Menschen bestimmen. Es ist nicht nur Rachsucht, sondern auch Lust an der Lust, Lust an der Macht, es sind Neid und Enttäuschung – und Dedi Baron inszeniert Geister und Furien, gruselige Ur-Mächte, wie sie im griechischen Drama oder bei Shakespeare auftreten. Hanoch Levins Text ist kurz und knapp, dabei aber plastisch und poetisch.
Den Begegnungen zwischen Mördern und Gemordeten kommt nie ein erschöpfender Sinn zu. Dem Suchen entspricht kein Finden, kein von Göttern geleitetes Schicksal, sondern ein Über-jemanden-Stolpern mit durchaus vermeidbaren Folgen. Die Dynamik erinnert von Ferne an das Kettenreaktionsmodell mit Tennisbällen, die unkontrolliert und explosiv durch eine Kiste springen und dabei immer mehr in Mausefallen eingespannte Tennisbälle zum Springen bringen.
Einer der Soldaten aus dem ersten Akt bringt es auf der begrenzten Guckkastenbühne auf den Punkt: "Die Welt ist draußen, das Hirn ist drinnen – die Möglichkeiten sind unbegrenzt."
So prall und lustvoll-lustig das Leben ist, so phantasiereich fürchterlich kommt der Tod daher. Und so Typen gerecht einzelne Figuren sich verhalten, gekennzeichnet durch ihren Rang, Beruf, ihre Arbeitshaltung, ihre Kleiderfarbe, so reich werden die einzelnen Persönlichkeiten im Moment ihres Todes – beziehungsweise: Man ahnt es. Sie kommen nicht mehr so richtig dazu, aus den Stereotypen ihre Persönlichkeiten zu entfalten. Die Lebensfäden werden buchstäblich abgeschnitten.
Bandbreite zwischen Tod und Leben
Wie der "Erschöpfte Arbeiter" der ihm gegenüber aufgebrachten Meute verzweifelt entgegen hält: "Wusstet ihr, dass meine Geburt als freudige Nachricht galt? ... Ich bin vielschichtig, in mir trage ich eine ganze Welt..." Das ist traurig, kitschig und deswegen auch lustig, und es ist hier passend "dröge" gespielt, mit einer faszinierenden Mischung aus Naivität und Gewitztheit.
Markus Danzeisen und Claudia Hübbecker spielen sich in dieser Bandbreite zwischen Tod und Leben aus, dass das Zusehen viel Freude macht, ebenso Jonas Anders und Hannah Werth als Brautpaar.
Es war natürlich ein geschickter Zug des Düsseldorfer Schauspielhauses, für die Inszenierung eines Stückes zum Israel-Palästina-Konflikt eine israelische Regisseurin auszuwählen. Eine Inszenierung ist immer noch mal ein Kommentar mehr zum Text, und Betroffenheiten darzustellen, von denen man eben nicht betroffen ist, kann schnell zur arroganten Aneignung werden und den Inhalt durch neuen Kontext auch verbiegen. Andererseits hat Dedi Barons Inszenierung unter der dauer-aktuellen Oberfläche des Stücks den geradezu klassischen und vielleicht universellen Kern herausgearbeitet. Der wiegt zentnerschwer und dabei ist auch Leichtigkeit verloren gegangen. Aber es wäre doch schön, wenn das anderen deutschen Bühnen Mut machte, sich mit diesem offenbar tollen, klugen Autor zu beschäftigen.
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