Deutsche Vergangenheit
Die Empörung, die Günther Oettinger mit seiner missglückten Trauerrede auf Hans Filbinger ausgelöst hatte, ist verklungen, fürs erste jedenfalls. Aber auch nur fürs erste. Denn nichts spricht dafür, dass im Umgang mit der deutschen Vergangenheit ein Zustand in Sicht sein könnte, der einen ähnlichen Ausbruch kollektiver Erregung in Zukunft weniger wahrscheinlich macht. Der Blick zurück, auf Ereignisse wie den Historikerstreit oder die Rede, die Philipp Jenninger sein Amt als Bundestagspräsident kostete, mahnt zur Vorsicht.
Die jüngere Geschichte Deutschlands ist nach wie vor ein Minenfeld, auf dem man schnell zu Schaden kommen kann. Nichts ist zur Mobilisierung von Affekten, auch solchen parteigebundener oder interessenbezogener Natur, besser geeignet als der Bezug auf die bekannten zwölf Jahre.
Oettingers Gegner berufen sich darauf, dass der Kampf gegen alles, was von der Nazi-Diktatur hervorgebracht, begünstigt und ausgebeutet worden ist, zur Staatsräson der Bundesrepublik gehöre. Wenn das so ist und auch so bleiben soll, wird der Bezug aufs Dritte Reich zur einfachsten von allen Möglichkeiten, sich im Kampf gegen das Böse in aller Welt auf die Seite des Guten zu schlagen.
Dann wird die jüngere Vergangenheit zum Tummelplatz der Manichäer. Wer sich mit ihr beschäftigt, tut das in dem Bestreben, sich selbst möglichst günstig und die anderen, die Gegner, möglichst ungünstig aussehen zu lassen. Oettingers Rede hat nichts Neues erbracht, keine neue Einsicht und keinen neuen Gedanken, sondern Aufschluss gegeben über den geistigen Horizont eines Ministerpräsidenten. Das Historische war nur Kulisse.
Oettinger wollte offenbar nicht wissen, und das ist ihm zu Recht zum Vorwurf gemacht worden. Indem er Filbinger zum Gegner der Nationalsozialisten verklärte, hatte er nicht nur die Quellenlage gegen sich; er hat auch Grenzen verwischt, die zu beachten ein Gebot des Anstands, der Wahrhaftigkeit und des Respekts vor denjenigen gewesen wäre, die ihre Gegnerschaft durch die Tat bewiesen und dafür auch bezahlt haben, oft genug mit dem Leben. Gegnerschaft erschließt sich eben nicht durch Einfühlung oder Introspektion, sondern durch die Tat. Und an der hat es Filbinger nach allem, was über sein Verhalten gegen Ende des Krieges bekannt geworden ist, fehlen lassen.
Oettinger, gewiss kein Meister des Wortes, hat sich vergriffen. Er hat, um die Sache auf den Punkt zu bringen, etwas Falsches, zumindest etwas Törichtes gesagt. Ihn dafür zu rüffeln und eine Richtigstellung zu verlangen, war angemessen; mehr wäre allerdings nur dann angebracht gewesen, wenn man Politikern ein Recht bestreiten wollte, das jeder von uns Tag für Tag in Anspruch nimmt und das insoweit als das erste von allen ungeschriebenen Grundrechten betrachtet werden kann, das Recht auf Torheit.
Mit seiner Weigerung, seinen Irrtum einzugestehen und die Dinge klarzustellen, hat es Oettinger auch denen, die es gut mit ihm meinten, schwer gemacht, ihm dieses Grundrecht zuzubilligen. Seine Hartnäckigkeit hat die Hartnäckigkeit derer provoziert, die ihm zusetzen wollten und seinen Rücktritt vom Amt verlangten. Beides, die Unbelehrbarkeit des einen und die Unnachgiebigkeit der anderen, kann als Zeichen dafür genommen werden, dass es nicht um eine wie auch immer geartete Sachfrage ging, sondern um Politik, genauer: um Geschichtspolitik. Es ging und geht um die Frage, wer die Deutungshoheit über die deutsche Vergangenheit besitzt, um Macht also.
Was als Bewältigung der deutschen Vergangenheit begonnen hatte, ist längst zu einer Waffe im Machtkampf der Gedanken und Erinnerungen geworden. Die Waffe liegt bereit für jeden, der sie führen will, und sticht fast immer, da sie denjenigen, der sie ergreift, moralisch heraushebt und damit quasi unangreifbar macht.
Das Dritte Reich ist längst vergangen, der Widerstand gegen Adolf Hitler noch lange nicht. Wer ihn im Nachherein leistet, beweist Gesinnung, und wo Gesinnung zählt, fragt niemand mehr nach den Motiven. Dann fällt die Welt in Gut und Böse auseinander, so dass, wer oft und laut und kräftig genug gegen das Böse vom Leder zieht, ohne weiteres auf der Seite der Guten landet.
Konrad Adam wurde 1942 in Wuppertal geboren. Er studierte Alte Sprachen, Geschichte und Philosophie in Tübingen, München und Kiel. Mehr als 20 Jahre lang war er Redakteur im Feuilleton der FRANKFURTER ALLGEMEINEN ZEITUNG, arbeitete dann für die WELT. Sein Interesse gilt vor allem Fragen des Bildungssystems sowie dessen Zusammenhängen mit der Wirtschaft und dem politischen Leben. Als Buchautor veröffentlichte er unter anderem "Die Ohnmacht der Macht", "Für Kinder haften die Eltern", "Die Republik dankt ab" sowie "Die deutsche Bildungsmisere. Pisa und die Folgen". Zuletzt erschien: "Die alten Griechen".
Oettingers Gegner berufen sich darauf, dass der Kampf gegen alles, was von der Nazi-Diktatur hervorgebracht, begünstigt und ausgebeutet worden ist, zur Staatsräson der Bundesrepublik gehöre. Wenn das so ist und auch so bleiben soll, wird der Bezug aufs Dritte Reich zur einfachsten von allen Möglichkeiten, sich im Kampf gegen das Böse in aller Welt auf die Seite des Guten zu schlagen.
Dann wird die jüngere Vergangenheit zum Tummelplatz der Manichäer. Wer sich mit ihr beschäftigt, tut das in dem Bestreben, sich selbst möglichst günstig und die anderen, die Gegner, möglichst ungünstig aussehen zu lassen. Oettingers Rede hat nichts Neues erbracht, keine neue Einsicht und keinen neuen Gedanken, sondern Aufschluss gegeben über den geistigen Horizont eines Ministerpräsidenten. Das Historische war nur Kulisse.
Oettinger wollte offenbar nicht wissen, und das ist ihm zu Recht zum Vorwurf gemacht worden. Indem er Filbinger zum Gegner der Nationalsozialisten verklärte, hatte er nicht nur die Quellenlage gegen sich; er hat auch Grenzen verwischt, die zu beachten ein Gebot des Anstands, der Wahrhaftigkeit und des Respekts vor denjenigen gewesen wäre, die ihre Gegnerschaft durch die Tat bewiesen und dafür auch bezahlt haben, oft genug mit dem Leben. Gegnerschaft erschließt sich eben nicht durch Einfühlung oder Introspektion, sondern durch die Tat. Und an der hat es Filbinger nach allem, was über sein Verhalten gegen Ende des Krieges bekannt geworden ist, fehlen lassen.
Oettinger, gewiss kein Meister des Wortes, hat sich vergriffen. Er hat, um die Sache auf den Punkt zu bringen, etwas Falsches, zumindest etwas Törichtes gesagt. Ihn dafür zu rüffeln und eine Richtigstellung zu verlangen, war angemessen; mehr wäre allerdings nur dann angebracht gewesen, wenn man Politikern ein Recht bestreiten wollte, das jeder von uns Tag für Tag in Anspruch nimmt und das insoweit als das erste von allen ungeschriebenen Grundrechten betrachtet werden kann, das Recht auf Torheit.
Mit seiner Weigerung, seinen Irrtum einzugestehen und die Dinge klarzustellen, hat es Oettinger auch denen, die es gut mit ihm meinten, schwer gemacht, ihm dieses Grundrecht zuzubilligen. Seine Hartnäckigkeit hat die Hartnäckigkeit derer provoziert, die ihm zusetzen wollten und seinen Rücktritt vom Amt verlangten. Beides, die Unbelehrbarkeit des einen und die Unnachgiebigkeit der anderen, kann als Zeichen dafür genommen werden, dass es nicht um eine wie auch immer geartete Sachfrage ging, sondern um Politik, genauer: um Geschichtspolitik. Es ging und geht um die Frage, wer die Deutungshoheit über die deutsche Vergangenheit besitzt, um Macht also.
Was als Bewältigung der deutschen Vergangenheit begonnen hatte, ist längst zu einer Waffe im Machtkampf der Gedanken und Erinnerungen geworden. Die Waffe liegt bereit für jeden, der sie führen will, und sticht fast immer, da sie denjenigen, der sie ergreift, moralisch heraushebt und damit quasi unangreifbar macht.
Das Dritte Reich ist längst vergangen, der Widerstand gegen Adolf Hitler noch lange nicht. Wer ihn im Nachherein leistet, beweist Gesinnung, und wo Gesinnung zählt, fragt niemand mehr nach den Motiven. Dann fällt die Welt in Gut und Böse auseinander, so dass, wer oft und laut und kräftig genug gegen das Böse vom Leder zieht, ohne weiteres auf der Seite der Guten landet.
Konrad Adam wurde 1942 in Wuppertal geboren. Er studierte Alte Sprachen, Geschichte und Philosophie in Tübingen, München und Kiel. Mehr als 20 Jahre lang war er Redakteur im Feuilleton der FRANKFURTER ALLGEMEINEN ZEITUNG, arbeitete dann für die WELT. Sein Interesse gilt vor allem Fragen des Bildungssystems sowie dessen Zusammenhängen mit der Wirtschaft und dem politischen Leben. Als Buchautor veröffentlichte er unter anderem "Die Ohnmacht der Macht", "Für Kinder haften die Eltern", "Die Republik dankt ab" sowie "Die deutsche Bildungsmisere. Pisa und die Folgen". Zuletzt erschien: "Die alten Griechen".