Deutsche Unterhaltungskünstler im Pariser Exil

Beim Erbfeind auf der Bühne

Panorama der französischen Hauptstadt Paris.
Paris - Sehnsuchtsort für Künstler und Nachtschwärmer. © www.imago-images.de
Von Peter Mayer · 21.03.2020
Eine deutsche Chansonsängerin trägt eine Ballade von Bert Brecht vor, zu dieser Zeit eine Sensation im Pariser Nachtleben. Marianne Oswald war vor den Nazis nach Frankreich geflohen und machte Karriere - andere Exil-Künstler kamen hingegen nur schwer über die Runden.
Das kulturelle Paris drängelte sich Anfang der 30er-Jahre im "Boeuf sur le Toit". Musikalisch gehörte das Szenelokal vor allem dem Jazz. Künstler wie Ballett-Impresario Serge Diaghilev, der Pianist Arthur Rubinstein, der Chansonnier Maurice Chevalier, die sogenannte "Rothschilderie", Politiker und Poeten, Prinzessinnen und Kokotten waren im "Boeuf sur le Toit" Stammgäste.
Zur Eröffnung kamen prominente Künstler wie Jean Cocteau, Darius Milhaud, Tristan Tzara und Francois Picabia. In dieser Arena der Ekstase gibt Marianne Oswald "Sourabaya-Johnny" von Bert Brecht zum Besten.

Neuanfang in Paris

Oswald debütierte im Berlin der Weimarer Zeit in kleineren Kabaretts und in Nebenrollen auf Theaterbühnen. Sie wurde 1901 geboren als Sarah Alice Bloch. Ihre Eltern starben früh und Sarah alias Marianne kam in ein Münchner Töchter-Pensionat.
Nach dem Ende des Ersten Weltkrieges lebte sie eine Zeit lang in der Familie einer Freundin in Berlin. Nach einer Schilddrüsen-Operation verlor Oswald für Monate ihre Stimme, doch sie kämpfte und lernte allmählich wieder sprechen und singen. Aus Angst vor den Nazis verließ die Jüdin um 1932 Berlin und ging nach Paris. (*)
Die Welthauptstadt des Vergnügens "Toujours Paris", "La capitale de l‘Amour", "La merveille de la beauté". Stars wie Mistinguett, von tanzenden Wunderknaben umkreist, beherrschen die Bühne und verkörpern trügerische Glückseligkeit. Als "Bel ami" mit Fliege wird Maurice Chevalier bejubelt, und exotisch zappelt Joséphine Baker im Bananenröckchen im Scheinwerferlicht.
Trotz ihrer fremdartigen Intensität schafft es Marianne Oswald, sich in diesem glitzernden musikalischen Amüsierbetrieb zu behaupten. Mit ihrem weitgehend sozialkritischen Repertoire findet sie ihre Anhängerschaft besonders in der künstlerischen Avantgarde.
Oswald verdankt ihre Karriere zum Teil auch Jacques Prévert, der 1900 in Neuilly-sur-Seine geboren wird. Prévert wächst in einer liberal-bürgerlichen Familie auf. In seiner Kindheit hält er sich am liebsten auf der Straße auf, die für ihn die beste Schule ist.

Allianz mit den Surrealisten

In seiner Wehrdienstzeit lernt er den surrealistischen Künstler Yves Tanguy und den Autor Marcel Duhamel kennen, mit denen er sich anfreundet. Als Trio ziehen sie nach Paris, in die Rue du Château auf dem Montparnasse. Dort herrschen Nonkonformität, Respektlosigkeit und vor allem Humor.
Préverts Allianz mit den Surrealisten hält bis in die späten zwanziger Jahre. Er arbeitet bei einer Anzeigenagentur, beginnt zu dichten, und schreibt Stücke für die "Gruppe October", ein mobiles Theater-Team, das der Kommunistischen Partei nahesteht und bei Arbeiterversammlungen, zur Unterstützung von Streikenden oder in Cafés auftritt.
Spontan inszeniert die Truppe wichtige aktuelle Ereignisse und spielt im Jahr 1933, gerade einmal 36 Stunden nach Hitlers Machtübernahme, das Stück "L‘avènement d‘Hitler" mit Prévert in der Hauptrolle. In dieser Zeit schreibt Prévert erste Chansontexte - und Marianne Oswald ist eine seiner Interpretinnen.
Yvette Guilbert, 1865 geboren, ist Verkäuferin im Pariser Warenhaus "Printemps" und Sängerin. Ihre Auftritte beschreibt sie selbst als "Schauspielkunst im Dienste einer Sängerin ohne Stimme". Sie tritt in den Metropolen Europas auf, so auch im Berliner "Wintergarten".
Yvette Guilbert will sich bei ihren Auftritten vor allem selbst amüsieren. Ganz anders Marianne Oswald, die keine augenzwinkernde Distanz, nichts Spielerisches, sondern eine gewisse Eindringlichkeit ohne Pathos hat.
In der "Salle Adyar" in unmittelbarer Nähe des Eiffelturms treffen sich die von den Nazis verjagten Künstler für einen kreativen Neustart. Akteure der einstigen kommunistischen Truppe 31, des klassischen Kabaretts wie der Städtischen Oper gestalten ein gemeinsames Programm.
Kabarettistische Einmischungen der Exilkünstler in innerfranzösische Angelegenheiten sind allerdings heikle Balanceakte, besonders wenn sie auf der Exilbühne Sympathie für die Linksregierung der "Front Populaire" unter Léon Blum bekunden. Der Sozialist, Sohn eines jüdischen Fabrikanten aus dem Elsass, Jurist, Literatur- und Theaterkritiker übernimmt nach den Wahlen im Frühjahr 1936 mit 64 Jahren die Regierung einer Volksfront aus Sozialisten und Kommunisten und gerät in die Kritik der Rechten.
Für viele Musiker, die Deutschland verlassen hatten, waren die Chancen auf Engagements gering. Missgünstige und fremdenfeindliche französische Kollegen machten ihnen das Leben schwer, obwohl der Musikmarkt Frankreichs zu der Zeit genug Raum für Vielfalt bot.

Keine Verherrlichung des Pariser Himmels

Nach Schätzungen der bereits 1850 gegründeten "Société des Auteurs, Compositeurs et Éditeurs de Musique", abgekürzt SACEM, waren in jener Zeit 150.000 Musiktitel registriert. Mehr als 6.000 Music-Hall-Spektakel hatten stattgefunden, dazu kamen die von Radiostationen gesendeten Chansons und 24.000 Schallplatten-Aufnahmen.
Dennoch beklagte die SACEM, das Gegenstück zur deutschen GEMA, bereits im Juni 1933 in einem Schreiben an das französische Erziehungsministerium, dass die Ankunft einer großen Zahl jüdischer Komponisten aus Deutschland in der Musikwelt für erhebliche Aufregung sorge. Da wuchs die Konkurrenz - und führte zu einer feindlichen Haltung gegenüber den Exilkünstlern und -künstlerinnen mit der Folge, dass die SACEM den exilierten Komponisten die Aufnahme in die Künstlerorganisation verweigerte und keine Tantiemen für sie abrechnete.
Dennoch hatten einige emigrierte Musiker Erfolg mit ihren Kompositionen für französische Chansonsängerinnen wie im Fall von Lys Gauty, die Kompositionen von Kurt Weil in ihr Repertoire aufnahm, darunter "Je ne t‘aime pas" und "La Complainte de la Seine". Ihre Chansons sind weit entfernt von seichten Herz- und Schmerz-Kompositionen und verzichten auf die schwärmerische Verherrlichung des Himmels über Paris.

Komponisten im Pariser Exil

Zur Gruppe erfolgreicher Komponisten im Exil gehört außer Kurt Weill auch der Komponist Ralph Erwin, ein Pseudonym für Erwin Vogl. In Deutschland hatte ihn sein Lied "Ich küsse ihre Hand Madame" aus dem gleichnamigen Film von 1929 berühmt gemacht.
Ralph Erwin kam 1933 in die Stadt und komponierte für die Sängerin Lucienne Delyle das Chanson "Sur les quais du vieux Paris" nach einem Text von Louis Poterat. Das Lied wurde einer der größten Erfolge der "chanteuse de charme", wie die Sängerin Lucienne Delyle genannt wurde.
Alte Fotographie des Komponisten.
Kurt Weill lebte von 1933 bis 1935 im Pariser Exil© imago images / ZUMA Press
Für den im Jahr 1910 in Galizien geborenen Norbert Glanzberg wurde "Le bonheur est entré dans mon coeur" sein erster Pariser Erfolg. In Würzburg als musikalisches Wunderkind aufgewachsen, hatte er bereits als Dreizehnjähriger das Konservatorium besucht.
Mit neunzehn gab Norbert Glanzberg als Pianist Solokonzerte und dirigierte in Berlin für Emmerich Kálmán die "Csárdáfürstin" im Admiralspalast. Er startete eine Karriere als Komponist in den Tonfilmstudios der Ufa und schrieb für Billy Wilders Film "Der falsche Ehemann" den Song "Hasch mich, mein Liebling hasch mich", der 1931 zu einem Sommerhit avancierte.
Nach Hitlers Machtergreifung floh Glanzberg aus Deutschland. Die Zuflucht in Paris bedeutete für den Musiker erst einmal Not und Überlebenskampf. Zeitweise zog er mit einem Bauchladen über die Boulevards und bot Nippes und Tand zum Kauf an.
Er lieh sich ein Akkordeon, spielte in Hinterhöfen und durfte im "Café Delta" am Boulevard Rochechouart die Besucher am Klavier unterhalten. Er musizierte in einem jiddischen Theater und schaffte es schließlich, als Pianist in einem von französischen Musikern gegründeten Ensemble aufgenommen zu werden, das beim "Bal-musette" fürs Volk Tanzmusik spielte. Später komponierte Glanzberg Melodien für diverse Filme, so "Der Kurier des Zaren" mit Curd Jürgens, "La mariée est trop belle" mit Brigitte Bardot und "Mon oncle" von Jacques Tati.

Die Melodie zum kleinen Kaktus kam aus Paris

Seine Kollegen Rolf Marbot und Bert Reisfeld komponierten die Melodie zu der Schnulze "J‘aime une Tyrolienne comme un vrai tyrolien, tireli, tirela, tirelin". Auf diese Melodie sangen im Dezember 1934 in Deutschland die"Comedian Harmonists" den "kleinen grünen Kaktus" für ein begeistertes Publikum.
Der Breslauer Albrecht Marcuse, bekannt unter dem Pseudonym Rolf Marbot, war promovierter Jurist, Barpianist, Komponist erfolgreicher Schlager- und Filmmusiken und Musikverleger. Wie viele Verfolgte des NS-Regimes trat Marbot Ende 1939 in die Fremdenlegion ein, blieb ein knappes Jahr, lebte danach armselig von kleinen Tantiemen und Notenverkäufen und schlug sich als Barpianist unter dem Decknamen Louis Sandret durch.
Nach der Befreiung von Paris im Sommer 1944 gelang es ihm, seinen Musikverlag wieder aufzubauen. Sein Kollege Bert Reisfeld hingegen emigrierte bereits 1938 in die USA, wurde US-Staatsbürger und wirkte als Komponist und Arrangeur unter anderem für Benny Goodman und Glenn Miller.
Der Sommer 1939 wurde trotz der Kriegsbedrohung groß gefeiert. Ganz Paris traf sich zum fünfzigsten Geburtstag des Eiffelturms, und der 14. Juli erlebte als Nationalfeiertag die protzigste Militärparade seit Jahren.
In dieser Stimmung der Unbekümmertheit kam die Nachricht vom deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakt und dem deutschen Überfall auf Polen am 1. September. Zwei Tage später erklärten Frankreich und Großbritannien dem deutschen Reich den Krieg. Deutsche Emigranten wurden als "étrangers indésirables" tagelang im "Stade de Colombes" zusammengepfercht.

Rückkehr in die französische Hauptstadt

Oswald lebt zu dieser Zeit längst in den USA. Erst nach Kriegsende kehrt sie auf Drängen von Albert Camus nach Frankreich zurück. Sie schreibt Drehbücher, ist Produzentin und arbeitet fast dreißig Jahre für Rundfunk und Fernsehen.
Nur selten noch steht sie als Sängerin auf der Bühne. Im Januar 1951 hält Marianne Oswald in der Pariser Sorbonne eine Rede, die mit einem bewegenden Appell zur Versöhnung zwischen Frankreich und Deutschland endet. Ihre letzte Schallplatte erscheint im Jahr 1957 unter dem Titel 'Le dernier poème' - das letzte Gedicht.

Eine Produktion von Deutschlandfunk/Deutschlandfunk Kultur 2020, das Skript im PDF-Format finden sie hier.

(*) Wir haben die Benennung von Marianne Oswald korrigiert.
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