Deutsche Regierungsbildung

Europa wartet auf Berlin

Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) spricht mit Martin Schulz, SPD Bundesvorsitzender, am 21.11.2017 im Bundestag in Berlin. In seiner 2. Sitzung der 19. Legislaturperiode berät der Deutsche Bundestag unter anderem über Bundeswehreinsätze und die Einsetzung verschiedener Ausschüsse. Foto: Michael Kappeler/dpa | Verwendung weltweit
In den anderen EU-Mitgliedsstaaten wäre einigen Staatschefs eine baldige Einigung in Berlin am liebsten. © dpa/Michael Kappeler
Almut Möller im Gespräch mit Patrick Garber · 09.12.2017
Die EU hofft darauf, dass Deutschland bald wieder eine handlungsfähige Regierung bekommt, um Zukunftsthemen anzugehen, sagt die Politologin Almut Möller. In Brüssel herrscht Handlungsdruck und es gebe angesichts der Fülle der Themen wenig Zeit zu verlieren.
An Reformvorschlägen für die Europäische Union mangelt es derzeit nicht: Die EU-Kommission hat gerade welche vorgelegt, zuvor hat Frankreichs Präsident Emmanuel Macron seine große Vision eines erneuerten Europas entworfen. Und Reformbedarf besteht: Die USA auf Protektionsmus-Kurs, antieuropäische Populisten auf dem Vormarsch und dann ist da noch der Brexit. Dumm nur, dass das wichtigste EU-Mitglied Deutschland wegen der sich hinziehenden Regierungsanbahnung in Berlin bis auf weiteres kaum handlungsfähig ist. Europa muss warten.
Deutschlandfunk Kultur: Die Europäische Union soll sich gründlich reformieren. Das hat die EU-Kommission in dieser Woche angeregt, wie zuvor schon Frankreichs Präsident Macron. Und Handlungsbedarf gibt es zweifellos. Lehren aus der Euro-Krise sollten gezogen werden, aus der Flüchtlingskrise sowieso. Der Aufstieg populistischer Parteien fordert ebenso Antworten wie die America-First-Politik der USA – und nicht zu vergessen: der Brexit. Dumm nur, dass angesichts all dieser Herausforderungen ausgerechnet das wichtigste EU-Mitglied Deutschland bis auf Weiteres wenig handlungsfähig ist wegen der sich hinziehenden Regierungsbildung in Berlin.
Was das alles für Europa bedeutet, darüber rede ich nun mit der Politikwissenschaftlerin Almut Möller vom European Council on Foreign Relations (ECFR). Das ist eine Denkfabrik für Fragen der europäischen Außenpolitik mit Zweigstellen in mehreren europäischen Hauptstädten. Das Berliner Büro leitet Almut Möller. Guten Tag.
Almut Möller, Politologin und Mitarbeiterin der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP)
Die Politologin Almut Möller leitet das Berliner Büro der Denkfabrik ECFR. © picture alliance / dpa - Jürgen Daum
Almut Möller: Guten Tag, Herr Garber.
Deutschlandfunk Kultur: Frau Möller, fangen wir mal hier in Berlin an. Hier gibt es ja nur eine geschäftsführende Bundesregierung. Auch wenn die SPD jetzt immerhin mit der Union reden will, weiß ja niemand, wie lange dieser Schwebezustand noch anhalten wird. – Was heißt das für Europa?
Almut Möller: In Europa schaut man erstmal ganz genau nach Berlin. Das ist ja schon seit einigen Jahren so. Man weiß, Deutschland ist eines der wichtigsten, wenn nicht das wichtigste Mitgliedsland der Europäischen Union. Man setzt hohe Erwartungen, hohe Hoffnungen, oft auch viel hohe Frustration in das, was in Berlin entschieden wird und dann auch auf europäischer Ebene natürlich entsprechendes Gewicht hat, weil man weiß, mit Berlin kann viel laufen, ohne Berlin läuft eigentlich nichts.
Entsprechend schaut man mit einem gewissen Bangen natürlich auch auf die deutsche Hauptstadt und hofft an vielen Stellen in Europa, dass sich hier bald eine Einigung abzeichnet und dass Deutschland wieder eine handlungsfähige Regierung hat, die auch in der Lage ist, Zukunftsthemen anzugehen. Denn die Europäische Union steht unter Handlungsdruck, das haben Sie eben beschrieben.
Zeit gibt es eigentlich wenig zu verlieren. Und die Agenda ist so pickepacke voll, dass eigentlich jede Woche, die verstreicht, eine Woche zu viel ist. Insofern, wenn wir jetzt hören, dass es möglicherweise bis zum nächsten Frühjahr dauern kann, bis tatsächlich in Berlin wieder jemand am Steuer sitzt, dann ist das sicher nichts, was Brüssel und auch andere europäische Hauptstädte freuen kann.
Deutschlandfunk Kultur: Kann denn eine geschäftsführende Bundesregierung europapolitisch nichts entscheiden?
Almut Möller: Na ja, natürlich kann man als Deutschland weiterhin präsent sein. Es ist da ja auch jetzt momentan eine ganze Reihe von Dingen, die passieren, die entschieden werden. Aber wie das auch in Deutschland selber ist, es gibt natürlich eine ganze Reihe von Zukunftsthemen, wo jetzt grundlegende Weichen gestellt werden müssen.
Wenn wir uns anschauen, Sie haben das angesprochen: die Weichenstellungen für die weitere Zusammenarbeit mit dem Vereinigten Königreich, die Weichenstellungen für eine Reform der Wirtschafts- und Währungsunion. Das sind natürlich alles Themen, die schauen so in die Zukunft, die sind mit so großen Budgets, mit so strukturellen Themen verbunden, da kann man eigentlich nicht auf einem Bein stehen. Da muss man fest im Sattel sein.

Breiter Konsens in der Europapolitik

Deutschlandfunk Kultur: In Berlin wird jetzt immerhin gesprochen über eine Große Koalition oder soll gesprochen werden – allerdings ergebnisoffen, wie die SPD betont. Gesetzt, dabei kommt nichts heraus und es läuft auf eine Minderheitsregierung hinaus, die sich wechselnde Mehrheiten im Bundestag dann suchen müsste, kann, könnte die europapolitisch überhaupt verlässlich auftreten?
Almut Möller: Das wäre eine schwierige Phase, weil wir ja in Deutschland wenig Erfahrung mit diesen Themen haben. Wir haben doch einen breiten Konsens weiterhin in der Europapolitik. Aber es stehen eine ganze Reihe von Entscheidungen an. Da wird das, was man bisher so geschafft hat in den letzten Jahren, die Entscheidung zur Stabilisierung des Euro, die ja sehr konsensual auch zwischen Regierung und Opposition zum Teil, da notwendig, durchgezogen worden sind. Da wird’s mehr ans Eingemachte gehen.
Das bemerken wir ja jetzt schon. Das haben wir auch in den erstmals dann gescheiterten Koalitionsverhandlungen um Jamaika gesehen. Europa war ein Brocken, der auf dem Tisch lag, wo die Konzepte nicht zusammengingen. Und der Entscheidungsdruck wächst jetzt. Das heißt, eine Minderheitsregierung wäre sicherlich für die Europapolitik, die ja ohnehin komplex in der Abstimmung ist, kein gutes Signal.
Was wir jetzt sehen, ist, dass die SPD versucht, sich stärker als die Kraft zu etablieren, die eine neue Vision, eine neue Europapolitik macht. Sie versucht der amtierenden Bundeskanzlerin sozusagen ihre Glaubwürdigkeit abzujagen, die ja so wie ein Fels in der Brandung als die große Europäerin immer wieder aufs Schild gehoben wurde, um zu zeigen, sie ist eigentlich diese Europäerin nicht. Sie greift immer zu kurz in ihren Entscheidungen. Sie ist auch nicht solidarisch genug.
Schulz versucht das und er bemüht die Vereinigten Staaten von Europa. Damit kann er provozieren. Aber interessant ist, dass er versucht sozusagen eine Kraft in Deutschland mit der SPD jetzt wieder zu mobilisieren, die sagt: Wir wollen im positiven Sinne ein anderes Europa. Sicherlich ist das eine Inspiration, die er auch da möglicherweise in Frankreich findet, indem er versucht Tabus ein bisschen anzukratzen und zu sagen, ja, wir wollen die Vereinigten Staaten von Europa – vielleicht gegen den Zeitgeist vieler.
Das ist ja zunächst nicht mal unklug, denn ich denke, es gibt schon auch in der deutschen Bevölkerung viele, die sehr proeuropäisch sind und die sagen: Wo sind denn eigentlich meine politischen Kräfte, die dieses Europa, was wir definitiv momentan nicht haben, eigentlich mobilisieren können? Kann das Frau Merkel noch? Fragezeichen!

Die Vision des Martin Schulz

Deutschlandfunk Kultur: Aber eine Forderung Vereinigten Staaten von Europa bis 2025, das sind sieben oder acht Jahre, und wer dabei nicht mitmacht, fliegt raus – das ist doch jenseits jeder Realität, oder?
Almut Möller: Ich habe das vorhin so ein Tabu genannt. Eigentlich sitzt man ja in der Europäischen Union zusammen und verhandelt, bis dann am Ende wirklich in solchen großen Fragen Einigkeit erzielt ist über die konstitutionelle Weiterentwicklung. Das haben wir in den vergangenen Jahrzehnten ja öfters erlebt. Das weiß auch Martin Schulz.
Deswegen ist es ihm, denke ich, nicht darum gegangen, das Ganze sozusagen in der Perspektive – ist das realistisch oder nicht – zu sehen, sondern erstens zu sagen: Ich habe ein Vision. Ich habe nicht vor, eine Art von Kleinklein und Leben von der Hand in den Mund hier weiter zu praktizieren. Und zweitens bin ich auch bereit, starke Entscheidungen zu treffen. Wir können nicht so oder so die ganze Zeit in der Europäischen Union versuchen miteinander gedeihlich zusammenzuarbeiten und immer darauf warten bis der letzte noch mit an Bord kommt.
Er will zeigen, ich würde die Dinge in die Hand nehmen und ich habe auch keine Sorge und keine Angst davor, das dann mit einem etwas schärferen Ton zu tun. Ob das politisch dann durchsetzbar ist, ist noch eine ganz andere Frage. Und ich glaube auch, selbst Herr Schulz würde diese Frage vielleicht etwas anders beantworten. – Aber darum ging es ihm, denke ich, momentan nicht.
Frankreichs Staatspräsident Emmanuel Macron spricht in der Frankfurter Johann Wolfgang Goethe-Universität. Das Thema der Festveranstaltung lautet "Debatte über die Zukunft Europas".
Frankreichs Staatspräsident Emmanuel Macron wartet seit seiner Grundsatzrede zu Europa auf eine Antwort aus Berlin © picture alliance / dpa / Frank Rumpenhorst
Deutschlandfunk Kultur: Sie haben schon Emmanuel Macron angesprochen, den französischen Präsidenten, und seine Visionen für Europa. Der hat ja vor einiger Zeit eine viel beachtete Rede in der ehrwürdigen Sorbonne-Universität zu Paris gehalten mit den Kernpunkten: nicht weniger, sondern mehr Europa, etwa durch einen europäischen Finanzminister für die Eurozone, der ein eigenes Budget verwalten soll. Und durch eine gemeinsame europäische Verteidigungspolitik und durch vieles andere mehr. – Ist Macron da prinzipiell auf dem richtigen Weg?
Almut Möller: Macron ist, finde ich, sehr interessant in seiner Analyse, und er hat eine größere Vision. Und er ist sehr viel radikaler darin als das vielleicht hier auch inzwischen oder bisher wahrgenommen wird. So wie ich ihn lese und auch mit der Krücke von vielen klugen Leuten, die noch näher dran sind an ihm, die – sagen wir mal – deutlich machen, er hat Frankreich im Grunde vom Kopf auf die Füße gestellt. Er ist angetreten aus dem Nichts mit einer Bewegung, die keine Partei war, und hat es tatsächlich geschafft, nicht nur die Präsidentschaftswahlen, sondern auch die Parlamentswahlen zu gewinnen und sich als alternative politische Kraft zu etablieren. – Das System ist inzwischen ein anderes.
Er tritt an, das auch in Europa zu tun. Ein Feld, wo wir jetzt vielleicht auch näher hinschauen sollten, ist das, was er vorhat im Europäischen Parlament, in der Mehrheitsfindung auf europäischer Ebene, wo ja die alten Kräfte entweder – wenn man auf Mitte links und Mitte rechts schaut – in Koalitionen zusammenarbeiten, um überhaupt Mehrheiten zu bekommen, also sehr, sehr konsensual, oder die Dinge eigentlich nicht mehr zusammengehen, wo Stagnation herrscht.
Auch hier ist sein Ehrgeiz, so verstehe ich ihn, neue politische Kräfte zu mobilisieren. Das ist sehr, sehr ehrgeizig. Ich frage mich, ob das hier in Deutschland und auch andernorts sozusagen in dieser umfassenden Art verstanden wird. Er ist radikal. Er will auch an dieses System Europäische Union ran. Das hat er in Frankreich gewollt. Das hat er geschafft. Und ich denke, das verleiht ihm Flügel.
Ich denke, wenn Sie nach der Richtung fragen, ist das richtig? Die Europäische Union braucht eine neue Form der Entschiedenheit, sicherlich auch neue Formen darüber nachzudenken, wie diese europäische Integration auch in Zukunft funktionieren kann. Wir haben relativ viele Analysen natürlich, wo es alles nicht zusammengeht, die Wertedebatte, über die können wir vielleicht noch sprechen, aber wir haben immer noch eine gewisse Armut an Durchsetzungskraft von politischen Ideen, die dann auch Mehrheiten finden europäisch. Da ist er angetreten und da hat er, denke ich, momentan einen Vertrauensvorschuss.

Mehr Verzahnung in der EU

Deutschlandfunk Kultur: Aber der Kern seiner Aussage ist ja "mehr Europa statt weniger Europa". Nun haben wir von Polen über Österreich bis nach Frankreich und Großbritannien natürlich in den letzten Jahren und Monaten erleben müssen, dass Populisten mit Anti-Europa-Parolen ziemliche Wahlerfolge errungen haben. Wir denken auch an die letzte Bundestagswahl, nicht zu vergessen. – Ist da ein "mehr Europa" der richtige Weg, die Bürger zu erreichen? Ist das nicht nur ein Elitenprojekt?
Almut Möller: Also, wenn ich Macron zuhöre, dann denkt er nicht nur an ein Elitenprojekt. Er ist da sehr viel umfassender, auch was seine Vorstellung davon angeht, wie die Menschen in der Europäischen Union stärker für ein Europa politisch mobilisiert werden sollen, eben nicht nur als Adressaten, sondern als Akteurinnen und Akteure. Mehr Europa, wir wissen das, entscheidend ist: Was heißt das eigentlich?
Mehr Europa heißt sicherlich auch im Macronschen Sinne nicht immer nur mehr Gemeinschaftsinstitutionen, mehr Brüssel, sondern genauso mehr starke Mitgliedsstaaten. In dieser Hinsicht ist er sicherlich auch sehr französisch. Ich glaube, dass wir schon – also in meinem persönlichen Verständnis dessen, was mehr Europa sein kann – eine klügere Verzahnung in der Zukunft finden müssen zwischen dem, was die nationale Ebene, die regionale, auch die kommunale Ebene und die europäische Ebene gemeinsam leisten können.
Wir müssen es schaffen zu einem System zu kommen, das Kooperation eben sehr viel stärker europäisch denkt und weniger in Frontstellung zueinander. Das klingt banal und abgehoben, wenn man das aus der Warte einer Politikwissenschaftlerin macht, die nicht in politischer Verantwortung ist, aber ich glaube, wenn man das konkret runterbricht, dann spüren wir, dass in den Mechanismen von Kooperation noch ganz viel Musik drin steckt.
Wir haben uns in einem größeren Forschungsprojekt in den letzten Jahren damit beschäftigt und gesehen am ECFR, dass es eine ganze Reihe von Feldern gibt, wo auch Mitgliedsstaaten sehr positiv reagieren darauf, wenn wir mit ihnen ins Gespräch kommen, wo man stärker wieder neue Formen der Kooperation finden kann – auch jenseits alter Achsen wie der deutsch-französischen.
Und ich glaube, dass es sich lohnt, in diese Form der Kooperation und das Verhältnis sozusagen von Konflikt und Kooperation in der Europäischen Union in den nächsten Jahren noch mal stärker zu investieren. Wir kommen seit den 90er Jahren ein bisschen aus der Phase raus, wo alternativ über Europa nachzudenken häufig damit gleichgesetzt wurde mit antieuropäisch zu sein.
Ich bin sehr froh, dass wir diese Schneise ein bisschen geöffnet haben und das, was als europäisch gilt auch weniger integrationistisch gedacht werden kann und wir jetzt mehr Raum dafür haben, auch nochmal das, was früher vielleicht Tabu hieß, die Frage der Kompetenzen, wer macht was zum Beispiel, frisch anzugehen. Und ich glaube, dass wir das tun müssen.
Ich denke, die populistischen Kräfte, die Sie ansprechen, haben das ja gezeigt. Es gibt eine sehr große Mobilisierbarkeit dessen, was gegen Europa ist, eine Rückkehr ins Nationale – sicherlich auch bei Menschen, die sich vielleicht gar nicht als antieuropäisch fühlen, aber die sehen, wir kommen da irgendwie auch nicht weiter. Ich bin der Meinung, dass die Politik es schaffen kann, hier auch wieder einen Gegentrend zu mobilisieren. Sie wird nicht alle erwischen, aber sie hat eine große Menge an Menschen, die eigentlich für Kooperation offen sind. Dann ist graduell die Frage: Heißt das mehr Integration? Heißt das mehr Kooperation von Mitgliedsstaaten miteinander oder von Regionen miteinander? Ich glaube, dass das eine Debatte ist, die wir auch in Deutschland stärker führen müssen.
BRUSSELS, Dec. 8, 2017 -- European Commission President Jean-Claude Juncker (R) meets with British Prime Minister Theresa May in Brussels, Belgium, Dec. 8, 2017. The European Commission has found sufficient progress in the first phase of the Brexit talks and will recommend to the European Council to open the second phase, European Commission President Jean-Claude Juncker said Friday.
Überraschend gab es diese Woche eine erste Einigung zwischen Theresa May und Jean-Claude Juncker© imago / The European Union Publication

Wichtiges Signal nach dem Brexit

Deutschlandfunk Kultur: Frau Möller, bei den Verhandlungen zwischen der EU und Großbritannien hat es diese Woche doch noch einen Durchbruch gegeben. Es ging um den Brexit und die bisherigen Knackpunkte – Finanzen, Rechte von EU-Bürgern im Vereinigten Königreich und Grenzen zwischen Nordirland und Irland – sind jetzt geklärt.
Jetzt folgt Phase 2 der Brexit-Verhandlungen. Was bedeutet das?
Almut Möller: Zunächst mal: Das ist ja noch eine relativ junge Einigung an diesem Punkt. Ich denke, es ist wichtig, dass man zumindest mal das Signal senden konnte, wichtig für die EU und auch wichtig für London: Wir kommen wieder zusammen und haben jetzt eine Perspektive über das Danach möglicherweise erstmal nachzudenken. Denn das, was wir in den letzten Wochen und Monaten erlebt haben, musste einen schon ziemlich nachdenklich stimmen. Also, eine britische Regierung, die offensichtlich völlig unvorbereitet – sowohl politisch als auch strategisch – in diese Austrittsverhandlungen ging, völlig überfordert, die politischen Kräfte wirklich auch sehr, sehr schwer einzuschätzen, wo sie denn als nächstes hinwandern.
Umgekehrt die Europäische Union, die natürlich auch, was die Ressourcen angeht, in diesen vor allen Dingen entscheidenden Rechtsfragen sehr, sehr gut aufgestellt ist, aber auch natürlich kein Interesse daran hat, ein wild gewordenes Vereinigtes Königreich in irgendeiner Form zu verlieren. Als Mitglied werden wir die Briten wahrscheinlich verlieren, aber sozusagen als Kooperationspartner der in good faith mit uns verhandelt, daran hat auch die Europäische Union natürlich kein Interesse. Insofern ist es gut, dass es hier jetzt ein gegenseitiges Einvernehmen in Grundfragen gibt.
Wie geht es jetzt weiter? Ich denke, die Kommission, die ja hier federführend ist an der Stelle, wird gemeinsam mit den 27 Mitgliedsstaaten der Europäischen Union weiterhin die Strategie fahren, London erstmal kommen zu lassen. Das Problem, was London immer versucht hat, war, zu sagen: Wir sitzen alle in einem Boot. Haben wir nicht auch irgendwie ein Interesse daran, das vielleicht auch alles hier jetzt etwas flexibel zu handhaben? Und am Ende kommen wir doch vielleicht auch jenseits dessen, was die Verträge vorsehen, zu einem gedeihlichen Miteinander.

Sorge vor einem Domino-Effekt

Deutschlandfunk Kultur: Sitzen denn alle in einem Boot? Ich meine nicht nur Großbritannien auf der einen Seite und die EU auf der anderen Seite. Sondern gibt es nicht auch unterschiedliche Interessen innerhalb der EU, wie das jetzt weitergehen soll?
Almut Möller: Ja, natürlich. Das wird ja eine Grundsatzentscheidung auch sein. Es geht darum zu organisieren, wie ein Land, das der Europäischen Union als Vollmitglied angehört hat, zwar nicht der Eurozone, aber der Europäischen Union, in Zukunft angebunden werden kann an die EU in einer Form, wie wir sie in unterschiedlicher Weise ja gesehen haben bei Staaten, die noch nicht Mitglieder waren, beispielsweise die Schweiz oder auch Norwegen.
Wir wissen aber auch, das haben viele Studien gezeigt und das haben uns auch die Briten immer wieder selber gesagt, dass keines dieser Modelle eigentlich eines ist, was sie favorisieren, weil sie am Ende, selbst wenn sie sich in intensiver Weise in Zukunft auch anbinden an die Europäische Union, nicht an Entscheidungen beteiligt sein können. Das kann ihnen nicht gefallen. Das ist nicht im Sinne eines Britain First und eines Großbritanniens, das Unabhängigkeit hat und über seine eigenen Geschicke bestimmen kann.
Insofern ist das für mich noch längst nicht ausgehandelt. Sie weisen darauf hin, natürlich haben wir hier auch in den Mitgliedsstaaten der Europäischen Union sicherlich nicht immer gleiche Überzeugungen, wie das laufen soll, aber eins haben wir gesehen in den letzten Monaten. Und das war vielleicht für viele überraschend, die der EU diese Form der Geschlossenheit nicht zugetraut haben: Die EU hat, auch weil wesentliche Mitgliedsstaaten das wollten, auch Deutschland gehört dazu, ihre Reihen sehr geschlossen.
Nicht, weil man eine Frontstellung gegen Großbritannien aufbauen wollte, sondern weil man das große Ganze im Blick hatte und gerade auch Berlin, sicherlich auch Paris und andere Hauptstädte der Meinung sind: Wir dürfen an dieser Brexit-Frage keinen Domino-Effekt produzieren. Wir müssen versuchen, so schwer das ist, so groß die Fliehkräfte auch sind, das Ding hier zusammenzuhalten.
Deswegen ist nochmal jenseits von einzelnen Positionen, die sehr unterschiedlich sein können, diese Kraft, dass man grundsätzlich der Meinung ist, dass man besser in der EU aufgehoben ist als draußen. Auch diese Kraft, die davon ausgegangen ist zu sagen, wir stellen uns dem Vereinigten Königreich gegenüber mit einer gemeinsamen Position, hat sich entfalten können. Das ist bemerkenswert – weil Sie ja auch darauf hingewiesen habe, es gibt eine Reihe von Mitgliedsstaaten, nicht nur in Mittel und Osteuropa, aber auch, die längst nicht mehr in die Richtung ziehen und mitarbeiten, wie man sich das zum Beispiel in Berlin vorgestellt hat. Wir haben über Warschau ganz kurz, Sie haben es erwähnt, über Budapest gesprochen.
Deutschlandfunk Kultur: Darüber werden wir auch noch reden.
Almut Möller: Es gibt… Die Fliehkräfte sind enorm. Ich gehe davon aus, selbst diese Länder haben, als man sich vor einigen Monaten wirklich tief, nachdem die Briten gesagt haben, so, jetzt wollen wir gehen, hier ist der Brief, in die Augen geschaut und gesagt: Gut, wir sind der Meinung, dass wir alle besser fahren können, wenn wir hier miteinander weiter arbeiten. Und ich denke, dass wir von diesem Zusammenhalt auch mehr weiterhin in Bezug auf Großbritannien sehen werden. Ob das für die anderen Felder der Europapolitik gilt, da bin ich skeptischer.

Enormer Zeitdruck

Deutschlandfunk Kultur: Die Brexit-Verhandlungen müssen bis 2019 abgeschlossen werden. Jetzt geht’s ja erstmal um das Freihandelsabkommen, nachdem die anderen Fragen soweit geklärt sind. Ende März 2019 muss der Austritt kommen. – Was ist denn, wenn man bis dahin nicht fertig geworden ist? Was würde ein ungeordneter Brexit bedeuten?
Almut Möller: Dann sind die Briten draußen und haben erstmal einen Status, der ihnen eigentlich überhaupt nicht gefallen kann, also wie eigentlich jedes andere WTO-Mitglied in ihren Beziehungen zur Europäischen Union. Und es gibt einfach eine Reihe von Unwägbarkeiten, die damit natürlich verbunden sind – politisch, finanziell.
Aber auch die Europäische Union hat kein Interesse daran, dass es hier zu einem ungeordneten Austritt kommt. Ich gehe auch nicht davon aus, dass er kommen wird, weil beide Seiten wissen, dass man in irgendeiner Form da miteinander ins Einvernehmen kommen muss. Das ist ein enormer Zeitdruck, der sich da weiterhin aufbaut, aber ich halte das auch nicht für unüberwindbar.
Flüchtlinge laufen am 03.10.2015 nach ihrer Ankunft über den Bahnsteig am Bahnhof in Schönefeld (Brandenburg).
Einige EU-Staaten weigern sich bis heute, Flüchtlinge aufzunehmen © picture alliance / dpa / Patrick Pleul
Deutschlandfunk Kultur: Sie haben schon die anderen Sorgenkinder innerhalb der EU angesprochen, die mehr im Osten sitzen als weit im Westen, jenseits des Kanals, nämlich Polen, Ungarn, die Tschechische Republik, die Slowakei, die sogenannten Visegrád-Staaten. Die EU-Kommission hat in dieser Woche Polen, Ungarn und die Tschechische Republik vor dem Europäischen Gerichtshof verklagt.
Es geht darum, dass diese Länder bei der EU-weiten Verteilung von Flüchtlingen nicht mitmachen. Außerdem laufen ja diverse EU-Verfahren gegen Polen und Ungarn wegen Verstößen gegen die Rechtsstaatlichkeit, es geht auch um ein Umweltproblem in Polen. Gibt es einen Ost-West-Konflikt in der EU?
Almut Möller: Ich würde es ungern als einen Ost-West-Konflikt bezeichnen wollen, sondern eher sagen, es geht darum, dass wir eine Reihe von Mitgliedsstaaten in der Europäischen Union haben, die sich weg bewegen von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit.
Es ist nicht sinnvoll, so eine Frontstellung aufzumachen, weil das Staaten und Bevölkerungen möglicherweise gegeneinander aufbringt, aber ich glaube, wir müssen die Dinge schon klar beim Namen benennen. Ob das nun am besten durch Rechtsstaatlichkeitsverfahren oder – wie Sie das eben angesprochen haben – das Verfahren über die Verteilung der Flüchtlinge passieren kann, ich habe da meine Zweifel. Dass die Kommission diese Verfahren anstrengt, ist erwartbar, nachvollziehbar. Das muss sie auch tun als Hüterin der Verträge. Aber wir dürfen diese Debatte natürlich nicht allein mit solchen Mechanismen führen.
Deutschlandfunk Kultur: Geht’s da auch um Werte, unterschiedliche Wertevorstellungen und vielleicht eine gewisse Arroganz sogar des Westens, der sagt, also, unsere Vorstellungen sind die allein maßgeblichen, zum Beispiel was die Bedeutung von Nation und Souveränität angeht?

Unterschiede unter einem Dach

Almut Möller: Sie sprechen was Entscheidendes an. Wir kommen wieder in diese Debatten rein. Es gibt eine gewisse Überforderung in jüngeren Mitgliedsstaaten der Europäischen Union, die ja auch ihre eigene Unabhängigkeit noch nicht so lange haben. Wenn ich Kollegen zuhöre, die auch in unserer Organisation beispielsweise in Warschau arbeiten, also, wir haben sicherlich sehr schnell sehr viel gewollt in den 90er Jahren nach dem Ende der Blockkonfrontation.
Und jetzt erleben wir, dass Gesellschaften vielleicht konservativer sind als das, was man sich möglicherweise in einem sehr liberalen Umfeld vorstellen kann. Ich glaube, das Entscheidende wird sein, dass man identifiziert in dem Korridor dessen, was sozusagen einerseits liberale Überzeugungen und andererseits eher konservative Überzeugungen und Werte, auch was die Organisation von Gesellschaft angeht, in diesem Korridor können wir uns ja bewegen – solange es nicht um Strukturfragen geht, der Regression von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit.
Und hier zu gucken, wo sind eigentlich die Kräfte, die sagen, wir haben eine konservative, Orban sagt das, Kaczyński sagt das, und da muss man dann genau hinschauen, wir haben eine andere Vorstellung davon, wie Menschen zusammenleben sollen, als dieses eigenartige, sehr liberale westliche Europa oder Teile dessen haben.
Da genau hinzuschauen und zu gucken, wo geht es darum, natürlich unter einem Dach mit unterschiedlichen Lebensentwürfen miteinander zu leben. Und wo geht es darum zu sagen, wir beschneiden Institutionen, die dieses gedeihliche Miteinander ermöglichen, und die sagen, wir entwickeln Staatsformen, die eben nicht mehr im Einvernehmen stehen mit dem, was die Europäischen Verträge sagen. Da sind die Kopenhagener Kriterien ganz klar.
Aber ich finde immer wieder interessant die Arbeiten von Jan-Werner Müller, dem Politikwissenschaftler, der ja schon vor Jahren darauf hingewiesen hat, dass wir eine andere, sehr viel breitere Debatte brauchen, wir brauchen auch Mechanismen jenseits vom Rechtlichen politischer Art auf europäischer Ebene, und der auch ganz dezidiert sagt: Ja, die europäische Ebene hat hier auch eine Rolle. Das ist nicht nur Sache der Mitgliedsstaaten.
Ich bin der Überzeugung, dass uns das hier auch in Deutschland etwas angeht, wenn sich Polen in diese Richtung entwickelt oder auch Ungarn oder auch wenn wir in Deutschland sehen würden, dass Ähnliches passiert. Denn wir sind miteinander über öffentliche Güter gemeinsam verbunden, die wir im europäischen Verbund, in der EU inzwischen bereitstellen. Das kann uns nicht egal sein. Es ist ein politisches Gemeinwesen, was inzwischen entstanden ist. Und wir haben spätestens seit der Griechenlandkrise gemerkt, wie uns die Dinge, die in anderen Teil der EU passieren, ganz unmittelbar betreffen, und zwar jeden einzelnen Menschen von uns.
Außenminister Sigmar Gabriel (SPD) spricht am 05.12.2017 beim Berliner Forum Außenpolitik des Auswärtigen Amts und der Körber-Stiftung in Berlin. Seit 2011 kommen zum "Berlin Foreign Policy Forum" jährlich rund 250 hochrangige Politiker, Regierungsvertreter, Experten und Journalisten zusammen, um über Außenpolitik zu diskutieren.
Bundesaußenminister Sigmar Gabriel forderte beim Berliner Forum Außenpolitik der Körber Stiftung eine eigenständigere Rolle europäischer Außenpolitik gegenüber Washington © Bernd von Jutrczenka/dpa

Reaktion auf Trump

Deutschlandfunk Kultur: Frau Möller, wir haben noch einen anderen Problemfall, der Europa betrifft, nämlich den US-Präsidenten Donald Trump. Der setzt in der Handelspolitik auf Protektionismus. Und das außenpolitische Gewicht der USA nimmt durch die häufigen Kurswechsel ihres Präsidenten eher ab.
Sigmar Gabriel, der amtierende Bundesaußenminister, hat diese Woche gesagt, die Europäische Union müsse angesichts dessen auf der Welt eine größere Rolle spielen. – Kann sie das und will sie das überhaupt?
Almut Möller: Ich arbeite ja für den European Council on Foreign Relations. Unsere Mission ist zu sagen: Ja, es geht darum, dass die Europäer den Ehrgeiz haben müssen, miteinander stärker zu kooperieren, besser zu kooperieren, so dass ihre Stimme mehr vernommen wird als sie das bisher tut. Ich halte das auch für machbar.
Interessant an der Rede des amtierenden Außenministers war, ich saß ein bisschen im Publikum und habe ihm zugehört, dass es natürlich auch in einer deutschen Öffentlichkeit immer delikat ist sozusagen. Wie weit kann man sich eigentlich aus dem Transatlantischen entfernen? Wie viel ist da erlaubt?
Jemand wie Donald Trump ermöglicht uns das natürlich eher. Denn das ist oft so indiskutabel, was wir dort momentan sehen, dass es einfacher ist zu argumentieren, wir müssen uns emanzipieren. Aber Gabriel ging ja weiter, zu sagen, es sind einfach Strukturentwicklungen in den USA und in Europa, die nahelegen, dass wir als Europäer diese Dinge sehr viel stärker in die eigene Hand nehmen müssen.
Ich bin überzeugt, dass das unausweichlich ist, unabhängig davon, was auch in den nächsten Wahlen in den USA passiert. Das ist aber ein Lernen für die Europäer. Und wenn man gesehen hat Anfang dieses Jahres, da war er noch nicht im Amt, da hat Donald Trump in einem großen deutschen Boulevardblatt ein Interview gegeben und hat so en passant gesagt: Na ja, also, die Briten treten jetzt aus der EU aus. Ich gehe davon aus, das machen auch noch andere. Die kann man eigentlich im Grunde dazu beglückwünschen und das ist eine gute Entscheidung. – Das hat natürlich hier durch das politische Berlin Schockwellen gesendet.
Wenn also ein US-Präsident nicht mal mehr bereit ist anzuerkennen, dass die EU als Ordnungsmodell funktioniert und funktionieren soll und da sein soll als etwas, was Bestand haben soll und unterstützenswert ist, dann ist das ein gefährlicher Moment. Weil das heißt, dass das Ordnungsmodell, in das Deutschland und auch andere Länder ihr Augenmerk gelegt haben, jetzt unter Beschuss ist. Und das muss man jetzt schon selbst gegen die Amerikaner verteidigen. – Und das kommt in einer Phase, wo die Europäer schwach sind wie nie.
Das heißt, es ist wichtig, dass auch ein deutscher Außenminister diese Ambition eines starken Europas auch in der Außenpolitik wieder aufs Plateau hebt. Das heißt aber vor allen Dingen auch einiges für Deutschland. Denn wir haben erlebt, dass sich unser Land ja in den letzten Jahren, Jahrzehnten kann man inzwischen sagen, schon entwickelt hat zu einem reiferen außenpolitischen Akteur, nachdem wir nun aus einer Phase nach dem Ende der Blockkonfrontation kamen, wo wir wirklich nach Orientierung suchten.
Deutschlandfunk Kultur: Und uns auch ziemlich klein gemacht haben…
Almut Möller: Na ja, klein gemacht haben? Ich glaube, das war ja auch eine Rolle, die uns angemessen war in dieser Zeit, die auch erlernt war, erlernt, praktiziert, eingeschliffen bei den handelnden Akteuren. Das ändert sich jetzt.
Vor allen Dingen wird es sehr schwierig sein hinsichtlich der Frage, welche Rolle und welchen Beitrag kann Deutschland leisten, wenn die Instrumente der Diplomatie, der Außenpolitik erschöpft sind und wenn Instrumente der Sicherheits- und Verteidigungspolitik greifen müssen, flankieren.

Grundsatzdebatten nötig

Deutschlandfunk Kultur: Die berühmten "boots on the ground".
Almut Möller: Nicht nur die boots on the ground, wie sie dann da hinkommen, aber die deutsche Rolle in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik ist eine ganz entscheidende. Und wir wissen, dass es eine Debatte gibt seit vielen Jahren in Europa und auch in Teilen der westlichen Allianz, in den USA, die sagen: Die Deutschen machen sich einen schlanken Fuß.
Und diese Rolle Deutschlands in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik ist ja auch innenpolitisch überhaupt nicht unumstritten, was ich auch richtig finde und nachvollziehbar finde. Aber es wird sicherlich eben auch dazu gehören zu einer Reifung Europas in seiner Außenpolitik, sich stärker in der Sicherheitspolitik zu verständigen darüber: Was heißt das eigentlich, wenn die Pax Americana in dieser Form nicht mehr funktionieren soll, weil die Vereinigten Staaten entscheiden, dass sie diese Rolle vielleicht nicht mehr spielen wollen oder weil wir sagen, dass diese Herangehensweise nicht mehr die unsere ist? Was heißt denn das für uns Europäer? Wie positionieren wir uns?
Ich glaube, eine ganze Reihe von Grundsatzdebatten haben wir da noch nicht geführt. Vielleicht haben wir auch die Zeit nicht immer dafür. Denn wir erleben, dass gerade Europa in einer wirklich explosiven Nachbarschaft sich befindet. Das haben wir in der Flüchtlingskrise gemerkt. Das sehen wir, wenn wir auf Russland schauen und den postsowjetischen Raum. Das sehen wir mit Blick auf den westlichen Balkan. Das sehen wir natürlich mit Blick auf den Nahen und Mittleren Osten. Das Mittelmeer ist im Grunde ja auch unser Meer. Das liegt alles vor der Tür.
Insofern gibt es akut eine ganze Reihe von Krisen- und Konfliktherden, wo wir – denke ich – weiter schon gekommen sind hinsichtlich der Anerkennung, dass die Europäer hier auch was beitragen können und wollen, gerade auch Deutschland sich entwickelt hat in den letzten Jahren. Aber ich denke, dass wir auch in den Debatten in Deutschland und den politischen Kräften, die auch gerade die Europäische Union, wenn wir über die EU auch stärker reden wollen als ein Ort, an dem wir diese Debatten führen, ja das Friedensprojekt sehen und nicht einen Ort, in dem wir nun auch verteidigungspolitisch, wie das ja momentan geschieht, uns stärker aufstellen wollen, dass wir hier ja eine erhebliche Konfrontation auch der Positionen erleben werden.
Ich finde das gut, weil ich glaube, wir können dem Ganzen nicht ausweichen. Aber das wird nochmal einiges auf den Kopf stellen von dem, was … das sage ich auch über mich selbst, das Denken, was einen geprägt hat und was einen so denken lässt, wie man über die Welt nachdenkt, nochmal auf den Kopf stellen muss und wo man nochmal gucken muss, wie man eigentlich das Hirn durchlüftet und versuchen kann, nochmal anders über die Fragen europäischer Ordnung und europäischer Gestaltungskraft nachzudenken.
Denn die Voraussetzungen, die wir gekannt haben, also die starke transatlantische Orientierung, das klare Bekenntnis auch zu einer Rolle der Europäischen Union, das jetzt auch wackelt mit den Briten, die auch in der Außenpolitik so ganz entscheidend sind, was passiert eigentlich, wenn diese zentralen Pfeiler beginnen zu wanken? Und vielleicht wird man sie nicht halten können. Sozusagen, wie viel vom Alten muss man halten und wie viel vom Neuen muss kommen?
Ich glaube, dass es auch analytisch und intellektuell eine Debatte ist, die wir noch nicht ausgefochten haben. Also, ich selber kann es zumindest über mich sagen.
Deutschlandfunk Kultur: Darüber wird noch viel zu reden sein an einer anderen Stelle, denn wir sind am Ende dieser Sendung angekommen. Vielen Dank für das Gespräch.

Almut Möller, geboren 1977 in Ahaus, ist Politikwissenschaftlerin mit den Schwerpunkten Grundsatzfragen der Europäischen Union, EU-Außen- und Sicherheitspolitik sowie deutsche Europapolitik. Studium in Münster, Aix-en-Provence und München, danach Forschungsaufenthalte u. a. in Washington und Peking. Nach Tätigkeiten am Centrum für angewandte Politikforschung München und bei der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik leitet Möller gegenwärtig als Senior Fellow das Berliner Büro der Denkfabrik European Council on Foreign Relations.

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