Deutsche Not im Advent

Von Claus Koch |
Wie es auf Wirtschaftsdeutsch heißt, herrscht derzeit Mangel an Konsumwillen. Dabei stehen die Deutschen mit ihrer Sparquote in Europa ganz obenan. Und die Einkaufsstraßen sind voll mit Konsumwilligen. Es ist doch Adventszeit, Kaufzeit also.
Wer in diesen Weihnachtstagen mit seinem halben Pfund Butter und einem Kilo Zucker den Filialladen verlässt, hört oft den freundlichen Abschiedsgruß: und einen schönen ersten oder zweiten oder dritten Advent. Aber frag’ nicht nach, was das denn sei: Advent. Zwei von zehnen können es dir vielleicht sagen. In dem entchristlichten Berlin und in den Ostprovinzen gerade mal einer. Kaufe, kaufe – soll das heißen. Dazu muss man in Deutschland niemand ermutigen. Geld ist offensichtlich genug da. Es bleibt auch genug Geld zum sparen. Die Deutschen sparen wie lange nicht, mit ihrer Sparquote stehen sie in Europa ganz obenan.

Wie immer, die Einkaufsstraßen sind voll mit Konsumwilligen. Und viel Zeit scheinen die Deutschen auch zu haben. Wer an einem Freitagnachmittag oder gar am Samstag im Zentrum seiner Arbeit nachgehen will und von der Dienstleistungsgesellschaft Dienste in Anspruch nimmt, bekommt verständnislose Reaktionen. Es ist doch Adventszeit, Kaufzeit, wir haben keine Zeit.
In der Berliner Charité, dem größten deutschen Krankenhauskomplex, streikten diese Woche Ärzte und Pflegepersonal um bessere Arbeitsbedingungen und mehr Geld. Dafür haben die Leute schon Verständnis. Die Charité ist Berlins ganzer Stolz, viele sind dort schon einmal behandelt worden. Als die Mediziner vor die Weihnachtsmärkte zogen, wurden sie freilich weggewinkt. Sie sollten dem Publikum nicht die Kauflaune verderben. Weil die Charité nicht nur so heißt, sondern in alter Tradition Charité anbietet, erboten sich auf dem Wochenmarkt ihre jungen Ärzte zu Gratiskonsultationen. Davon aber machten, wie die Berliner Zeitung berichtet, die Marktbesucher wenig Gebrauch. Keine Zeit, Kaufzeit.

Das soll man einmal auf die Reihe bekommen: Die Deutschen haben ersichtlich viel Zeit übrig, die drei, vier Stunden vor dem Fernseher sagen genug. Zugleich wächst der Anteil der Untätigen weiter an. Die Alten werden ständig mehr und älter, die Arbeitslosen nicht weniger. Die Jungen, ob sie Arbeit haben oder nicht, leiden nicht unter Zeitnot, sie haben viel Zeit totzuschlagen, nicht zuletzt vor dem Spielcomputer.

Das nationale Einkommen kann von weniger als 30 Prozent der Bevölkerung durch Erwerbsarbeit erbracht werden. Ihre Zahl wird weiter abnehmen, denn die Arbeitsproduktivität, also die Leistung pro Arbeitsstunde, geht kräftig nach oben, vor allem in der exportierenden Industrie mit ihrem hohen Kapitaleinsatz.

Es wird daher noch mehr freie Zeit geben, die man irgendwie unterbringen muss. Aber dieses Stöhnen - vor allem unter den Beamten, wenn die Regierung ankündigt, sie wolle nach und nach den Eintritt ins Rentenalter um zwei auf 67 Jahre erhöhen. Das alles ist freilich leeres Rechenspiel, weil es in der Privatwirtschaft wie beim Staat an Arbeitsplätzen fehlt. Und es kommt auch viel zu spät.

Vor 20 Jahren hätte man damit beginnen müssen, statt mit vergoldeten Handschlägen die noch nicht Alten in die Frührente zu schicken und sie systematisch zum Nichtstun zu erziehen. Wer mit 55 in Rente geht und dann 80 Jahre alt wird, kann für ein Drittel seines Lebens keine modernen Erfahrungen machen und nur noch Ansprüche stellen. Hier sind die braven Bürger zu finden, die jetzt die Verkaufsstraßen verstopfen und die Minderheit der Tätigen ärgern.

Aber die Bürger, die meist übergewichtig bis fett sind, geben noch immer zu wenig Geld aus, so dass die Wirtschaft nicht recht anspringen kann. Es herrscht, wie es auf Wirtschaftsdeutsch heißt, andauernder Mangel an Konsumwillen. Wir Armen. Weil man das alles nicht auf die Reihe bringen und zum Anspringen nichts beitragen kann, weil man andererseits gelähmt ist durch den Kauflärm, möchte man für diese Monate sich aus Deutschland entfernen oder gar eine Zeit lang auswandern.

Aber wohin? Im übrigen Europa sieht es nicht viel besser aus. Also muss man sich wenigstens eine Utopie machen, einen Wunschort, was für die meisten Deutschen, die an ihrer Zukunft kein Interesse haben, schwer zu denken ist.

Für meine Person hätte ich eine Utopie: Eine Gegend, wo alle Einwohner ständig tätig sein dürfen, je nach Alter, nach Lust und Fähigkeit. Eine Gegend, wo es keine Rentner zu geben braucht und kein Bangen um die bezahlte Sterbehilfe. Es gäbe dort keine Spaßgesellschaft, die Leute hätten Besseres zu tun und wären schon deshalb freundlich zueinander.

Die Alten wären nicht zu alt und müssten nicht auf Teufel komm raus konsumieren, um sich den eigenen Wert zu bestätigen und noch irgendetwas zu gelten. Die Leute dort wären schlanker, wie die Deutschen vor etwa 55 Jahren. Und sie hielten sich gesünder, aus Solidarität und weil sie gerne arbeiten. Es bliebe noch genug Zeit, um zum Fest der Liebe einmal nachzulesen, was Advent bedeutet, und dass es davon nur einen gibt, eine Adventszeit, und nicht vier Advente, wie Verkaufstrainer und Werbefritzen den armen Verkäufern eintrichtern.

Diese Utopie müsste man nicht in fernen Ländern suchen, sie ließe sich in diesem schönen Deutschland einrichten. Hier aber sind gerade zu Weihnachten die Menschen besonders gewalttätig und schlagen sich mit ihren Geschenken wochenlang krankenhausreif oder tot. Erst danach machen sie sich an die ernste Arbeit, ihre Pfunde wieder loszuwerden. Das macht nicht gerade Laune.


Claus Koch, in München geboren, studierte Philosophie, Ökonomie und Geisteswissenschaften und war zunächst in einem Wirtschaftsverlag tätig. Seit 1959 arbeitet er als freier Journalist für Presse und Rundfunk, seit 2003 gestaltet er den Mediendienst "Der neue Phosphorus". In den sechziger Jahren redigierte Koch die Monatszeitschrift "atomzeitalter", später war er Mitherausgeber und Redakteur der Zeitschrift für Sozialwissenschaft "Leviathan" und Mitarbeiter mehrerer sozialwissenschaftlichen Forschungsprojekte. Zu seinen Buchveröffentlichungen zählen "Ende der Natürlichkeit - Streitschrift zur Biotechnik und Biomoral", "Die Gier des Marktes - Die Ohnmacht des Staates im Kampf der Weltwirtschaft" und "Das Ende des Selbstbetrugs - Europa braucht eine Verfassung".