Deutsche Meisterschaft

Was Hirschruf-Imitieren über unsere Zeit erzählt

Mit einem Bierglas, einem Plastik- und einem Resonanzrohr sowie einer tibetanischen Gebetsmuschel ahmen vier Männer einen Hirschruf nach.
Die Spieltechniken beim Hirschruf-Imitieren wirken wie eine Gala der Vielfalt und des Formenreichtums. © picture-alliance / dpa / Holger Hollemann
Von Holger Hettinger · 03.02.2017
Ob ein Horn, eine Plastikflasche oder ein PVC-Rohr - bei der Deutschen Meisterschaft im Hirschruf-Imitieren führen ganz viele verschiedene Wege zum Ziel. Und: Nirgendwo ist man näher an der Sphäre der erhabenen Transzendenz, weiß unser Autor.
Was machen die da? Und vor allem: warum? Und was hat das mit mir zu tun?
Eine ganze Menge, finde ich. Um gleich zu Beginn mal eine steile These in den Raum zu stellen: die Deutsche Meisterschaft im Hirschruf-Imitieren erzählt mehr über die Zeitenläufe und die menschliche Natur, mehr über unsere Wünsche und Sehnsüchte als so manche philosophische Abhandlung. Vergesst Vergil und Feuerbach, lasst die Bücher von Sartre und Heidegger im Regal – und schaut Euch die deutsche Meisterschaft im Hirschruf-Imitieren an! Denn nur vordergründig erlebt man hier dem Jagdwesen nahestehende Männer, in Karo und Loden gewandet, die versuchen, wie ein Hirsch zu klingen.
Und zwar jeder auf seine Weise. Als Hilfsmittel dient mal ein imposantes Horn von irgendwas, was mal erheblich größer gewesen sein muss als eine Kuh, mal eine angesägte Plastikflasche, mal ein Halbzöller PVC-Druckrohr: Bei der Deutschen Meisterschaft im Hirschruf-Imitieren führen ganz viele verschiedene Wege zum Ziel – der formenreiche Beweis dafür, dass nicht alles so alternativlos ist, wie uns manche Politiker einreden möchten.

Mach den Hirsch!

Auch die Spieltechniken wirken wie eine Gala der Vielfalt und des Formenreichtums: Der eine Wettbewerbsteilnehmer führt sein PVC-Rohr mit aristokratischen Eleganz zum Mund, die man so in dieser noblen Formvollendung nur aus dem Konzertsaal kennt: wenn etwa ein Oboe-Spieler zum Adagio non troppo von Mozarts C-dur-Konzert-Köchelverzeichnis 314 anhebt…
Andere Wettbewerbsteilnehmer wirken rustikaler, stülpen ihre prall gespannten Lippen energisch über einen massiven Rohransatz, den sie zu verschlingen scheinen, so dass das Procedere am ehesten erinnert an… – nein, das ist keine Assoziation, die man in einem Sender äußern sollte, der das Wort "Kultur" im Namen trägt.
Das Feinsinnige und das Rustikale, das Grobe und das Ziselierte: die unterschiedliche Temperamente und Erscheinungsformen, vereint in einer gemeinsamen Idee: Mach den Hirsch! Gibt es ein schöneres Sinnbild für die Idee eines gemeinschaftlichen Gesellschaftsbildes, das Varianz herbeisehnt und die unterschiedlichsten Charaktere hinter einem gemeinsamen Ziel versammelt? Keine Frage: Nirgendwo sonst ist diese Gesellschaft Thomas Morus' "Utopia" so nah wie bei der Deutschen Meisterschaft im Hirschruf-Imitieren.

Hinauf in die Sphären der Heiligen

Vor allem aber – und das sollte man nicht übersehen – ist die Deutsche Meisterschaft im Hirschruf-Imitieren eine der wenigen Gelegenheiten im Leben, in die erhabenen Sphären der Heiligen emporzusteigen. Denn das Rufen und Locken der Hirsche, das Kommunizieren und Interagieren mit den Hirschen, der Mensch, der zum Tier redet: Was ist das anderes als das, was der Heilige Franziskus mit den Vögeln und der Heilige Antonius mit den Fischen gemacht hat?
Und das mag genau der Aspekt sein, der von dieser Veranstaltung, bei der übrigens Andreas Töpfer aus Niedersachsen gewonnen hat, über den Tag hinausreicht: Nirgendwo ist man näher an der Sphäre der erhabenen Transzendenz als in der Dortmunder Westfalenhalle, bei der Deutschen Meisterschaft im Hirschruf-Imitieren.
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