Deutsche Machtvergessenheit
"Von den Göttern wissen wir, und von den Menschen glauben wir, dass es ein Gesetz ihrer Natur ist, zu herrschen, wo immer sie können", schrieb Thukydides in Band V seiner "Geschichte des Peloponnesischen Krieges". Die Mehrheit der Deutschen würde diesem Satz nach einigem Zaudern beipflichten.
Wenn auch widerwillig, so erkennen sie doch an: Das Streben nach Macht ist ein Merkmal, das menschlichen Gemeinschaften eigen ist – von der Familie über die Parteien und Verbände bis in die Regierung. Selbst Vereine, Studentenverbindungen, Arbeitgeber- und Arbeitnehmervertretungen sind Arenen ständiger Machtkämpfe. Zuweilen geht es selbst im Ringen um mehr Lohn nicht um die Verbesserung der wirtschaftlichen Lage des einzelnen, sondern um die Macht der jeweiligen Tarifpartner. Ob in Abstimmungen, vor Gericht oder am Kabinettstisch - überall versuchen Menschen, Macht zu vermehren oder zu verteidigen.
Kaum ein Deutscher nimmt daran Anstoß. Sieht man von der Anarcho-Szene ab, ist auch die Androhung von Gewalt als Bestandteil der Staatsmacht akzeptiert. Polizeiaktionen, Abschiebungen und Verurteilungen versteht die Mehrzahl der Bevölkerung als Maßnahmen, Sicherheit und Frieden in der Gesellschaft zu gewährleisten. Allerdings will nur eine überschaubare Größe der Deutschen wahrhaben, dass die Außenpolitik auf denselben Gesetzen wie die Gesellschaft beruht, ja, Innen- und Außenpolitik nur zwei verschiedene Ausdrucksformen derselben Erscheinung sind: des Kampfes um die Macht.
Wenn es um die Welt geht, leben viele Deutsche im Reich der Illusionen, in dem Aggressionen und das Streben nach Hegemonie Fremdworte sind. Drohgebärden und einer massiven Aufrüstung wie im Fall des Irans soll die Politik - wenn es um die Stimmung der Bevölkerung geht - ausschließlich im klärenden Gespräch, mit Hilfe finanzieller Anreize und sonstiger Zugeständnisse begegnen. Feinde werden als solche nicht gekennzeichnet. Diplomatische Gepflogenheiten, die Verbindlichkeit vorschreiben, mögen diese Vorsicht rechtfertigen. Doch bezeichnenderweise gilt sie in der Bevölkerung nicht, wenn die Vereinigten Staaten im Spiel sind.
Jüngst warnten die Ostermarschierer vor einem drohenden amerikanischen Imperialismus im Iran. Für die Vernichtungsphantasien Ahmadinedschads war auf den Protestplakaten kein Platz. Reflexartig wird den USA immer dann Imperialismus vorgeworfen, wenn sie die Gewalt als letztes Glied in einer Kette von Sanktionen nicht ausschließen wollen. Kaum einer der Empörten nimmt allerdings zur Kenntnis, dass in der Außenpolitik die Androhung von Waffengewalt (wie im Inneren ein möglicher Polizeieinsatz) den Gegner von aggressiven Maßnahmen abhalten soll, weil sie ihm zu riskant gemacht werden. Mit Imperialismus hat das nichts zu tun. Imperialismus ist die gewaltsame Veränderung des Status quo. Es ist der Iran, der sich anschickt, ihn anzutasten. Es ist Irans Präsident Ahmadinedschad, der einem anderen Staat droht, ihn von der Landkarte zu fegen; ein in der Nachkriegsgeschichte seit 1945 einzigartiger Vorgang.
Ginge es nach den meisten Deutschen, ist nicht die Bundesregierung, nicht Washington für diese Krise zuständig, sondern - wenn überhaupt - die angebliche Weltregierung, der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen unter Generalsekretär Kofi Annan. Doch der ist laut UN-Charta nur der "höchste Verwaltungsbeamte", und die UNO selbst kann nur Macht ausüben, wenn die Nationalstaaten es wollen. Der Sicherheitsrat schließlich ist ein Gremium, in dem nationale Interessen die Spielregeln bestimmen. Ende April blockierte China durch sein Veto eine Verurteilung des Sudans im Sicherheitsrat. Wichtiger als die Verfolgung der Massenmörder in Darfur sind Peking seine wirtschaftlichen Ziele. Ähnlich könnte Moskau handeln, wenn es um Sanktionen gegen Teheran geht.
In den Augen vieler Deutscher darf der Westen nicht demselben Muster folgen. Dass die Nato ohne den Segen des Völkerrechts auf dem Balkan eingriff und der Waffengang gegen Belgrad folglich genauso illegal war wie Washingtons Krieg gegen den Irak, ist weitgehend verdrängt.
Hans-Peter Schwarz wies schon vor Jahren darauf hin, wie schwer es den Deutschen fällt, die Außenpolitik nüchtern und nach Maßstäben der Machtpolitik auszurichten. "Von der Machtbesessenheit zur Machtvergessenheit" hieß sein Buch. Bis heute hat sich an dieser Stimmung kaum etwas geändert. Noch immer sind weite Teile der Bevölkerung von ihr durchdrungen. Die Bundesregierung wird es zu spüren bekommen, wenn sich der Konflikt mit Teheran verschärfen sollte.
Die Machtvergessenheit wird ihre außenpolitische Bewegungsfreiheit einschränken, das transatlantische Verhältnis belasten und uns Gefahren aussetzen, die auch Deutschland aus Teheran drohen. Womöglich hatte Thomas Mann Recht. Die zur Politik berufenen Völker treiben Politik als eine Kunst des Lebens und der Macht, schrieb er. "Deutschland erweist seine Unberufenheit zur Politik, indem es sie aufs plumpeste missversteht."
Jacques Schuster, 1965 in Berlin geboren, studierte Geschichte und Internationale Beziehungen an der Freien Universität Berlin. Von 1994 bis 1997 war er regelmäßiger Autor der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung", der "Süddeutschen Zeitung" und des "Tagesspiegel". Seit 1998 leitet Schuster das Ressort Außenpolitik bei der "Welt". 1996 erschien sein Buch "Heinrich Albertz - Ein Mann, der mehrere Leben lebt".
Kaum ein Deutscher nimmt daran Anstoß. Sieht man von der Anarcho-Szene ab, ist auch die Androhung von Gewalt als Bestandteil der Staatsmacht akzeptiert. Polizeiaktionen, Abschiebungen und Verurteilungen versteht die Mehrzahl der Bevölkerung als Maßnahmen, Sicherheit und Frieden in der Gesellschaft zu gewährleisten. Allerdings will nur eine überschaubare Größe der Deutschen wahrhaben, dass die Außenpolitik auf denselben Gesetzen wie die Gesellschaft beruht, ja, Innen- und Außenpolitik nur zwei verschiedene Ausdrucksformen derselben Erscheinung sind: des Kampfes um die Macht.
Wenn es um die Welt geht, leben viele Deutsche im Reich der Illusionen, in dem Aggressionen und das Streben nach Hegemonie Fremdworte sind. Drohgebärden und einer massiven Aufrüstung wie im Fall des Irans soll die Politik - wenn es um die Stimmung der Bevölkerung geht - ausschließlich im klärenden Gespräch, mit Hilfe finanzieller Anreize und sonstiger Zugeständnisse begegnen. Feinde werden als solche nicht gekennzeichnet. Diplomatische Gepflogenheiten, die Verbindlichkeit vorschreiben, mögen diese Vorsicht rechtfertigen. Doch bezeichnenderweise gilt sie in der Bevölkerung nicht, wenn die Vereinigten Staaten im Spiel sind.
Jüngst warnten die Ostermarschierer vor einem drohenden amerikanischen Imperialismus im Iran. Für die Vernichtungsphantasien Ahmadinedschads war auf den Protestplakaten kein Platz. Reflexartig wird den USA immer dann Imperialismus vorgeworfen, wenn sie die Gewalt als letztes Glied in einer Kette von Sanktionen nicht ausschließen wollen. Kaum einer der Empörten nimmt allerdings zur Kenntnis, dass in der Außenpolitik die Androhung von Waffengewalt (wie im Inneren ein möglicher Polizeieinsatz) den Gegner von aggressiven Maßnahmen abhalten soll, weil sie ihm zu riskant gemacht werden. Mit Imperialismus hat das nichts zu tun. Imperialismus ist die gewaltsame Veränderung des Status quo. Es ist der Iran, der sich anschickt, ihn anzutasten. Es ist Irans Präsident Ahmadinedschad, der einem anderen Staat droht, ihn von der Landkarte zu fegen; ein in der Nachkriegsgeschichte seit 1945 einzigartiger Vorgang.
Ginge es nach den meisten Deutschen, ist nicht die Bundesregierung, nicht Washington für diese Krise zuständig, sondern - wenn überhaupt - die angebliche Weltregierung, der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen unter Generalsekretär Kofi Annan. Doch der ist laut UN-Charta nur der "höchste Verwaltungsbeamte", und die UNO selbst kann nur Macht ausüben, wenn die Nationalstaaten es wollen. Der Sicherheitsrat schließlich ist ein Gremium, in dem nationale Interessen die Spielregeln bestimmen. Ende April blockierte China durch sein Veto eine Verurteilung des Sudans im Sicherheitsrat. Wichtiger als die Verfolgung der Massenmörder in Darfur sind Peking seine wirtschaftlichen Ziele. Ähnlich könnte Moskau handeln, wenn es um Sanktionen gegen Teheran geht.
In den Augen vieler Deutscher darf der Westen nicht demselben Muster folgen. Dass die Nato ohne den Segen des Völkerrechts auf dem Balkan eingriff und der Waffengang gegen Belgrad folglich genauso illegal war wie Washingtons Krieg gegen den Irak, ist weitgehend verdrängt.
Hans-Peter Schwarz wies schon vor Jahren darauf hin, wie schwer es den Deutschen fällt, die Außenpolitik nüchtern und nach Maßstäben der Machtpolitik auszurichten. "Von der Machtbesessenheit zur Machtvergessenheit" hieß sein Buch. Bis heute hat sich an dieser Stimmung kaum etwas geändert. Noch immer sind weite Teile der Bevölkerung von ihr durchdrungen. Die Bundesregierung wird es zu spüren bekommen, wenn sich der Konflikt mit Teheran verschärfen sollte.
Die Machtvergessenheit wird ihre außenpolitische Bewegungsfreiheit einschränken, das transatlantische Verhältnis belasten und uns Gefahren aussetzen, die auch Deutschland aus Teheran drohen. Womöglich hatte Thomas Mann Recht. Die zur Politik berufenen Völker treiben Politik als eine Kunst des Lebens und der Macht, schrieb er. "Deutschland erweist seine Unberufenheit zur Politik, indem es sie aufs plumpeste missversteht."
Jacques Schuster, 1965 in Berlin geboren, studierte Geschichte und Internationale Beziehungen an der Freien Universität Berlin. Von 1994 bis 1997 war er regelmäßiger Autor der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung", der "Süddeutschen Zeitung" und des "Tagesspiegel". Seit 1998 leitet Schuster das Ressort Außenpolitik bei der "Welt". 1996 erschien sein Buch "Heinrich Albertz - Ein Mann, der mehrere Leben lebt".