Deutsche Jugendliche sind genauso häufig gewalttätig wie ausländische

Klaus Boers im Gespräch mit Klaus Pokatzky · 15.09.2008
Eine Langzeitstudie zur Jugendkriminalität zeigt die Haltlosigkeit vieler Vorurteile: So seien ausländische Jugendliche keineswegs häufiger gewalttätig als ihre deutschen Altersgenossen, betont einer der Autoren, Klaus Boers von der Uni Münster. Der Höhepunkt der kriminellen Karriere sei meist mit 14 Jahren erreicht, so Boers. Eine wichtige Rolle bei der Vermittlung sozialer Regeln habe die Schule, so der Wissenschaftler weiter.
Klaus Pokatzky: Kaum ein Thema setzt solche Emotionen frei wie die Jugendkriminalität, wie Messerstecher in der U-Bahn, wie Schläger auf dem Schulhof. Werden die Jugendlichen wirklich immer krimineller? In einer Studie räumen jetzt die Professoren Klaus Boers von der Universität Münster und Jost Reinecke von der Universität Bielefeld mit zahlreichen Vorurteilen über die Jugendkriminalität auf. Einige Ergebnisse lauten: Deutsche Jugendliche sind genauso häufig gewalttätig wie ausländische; der Höhepunkt der Kriminalität ist im Alter von 14 Jahren erreicht; harte Strafen sind die falsche Lösung. Ich begrüße am Telefon Klaus Boers vom Institut für Kriminalwissenschaften der Westfälischen Wilhelms-Universität in Münster. Guten Morgen, Herr Boers!

Klaus Boers: Guten Morgen!

Pokatzky: Herr Boers, Ihre Studie mit dem Titel "Kriminalität in der modernen Stadt" gilt als die zurzeit einzige Langzeitstudie zur Jugendkriminalität. Wie kann das sein, wo Jugendkriminalität ja seit Jahren eines der heißesten Themen bei uns ist?

Boers: Solche Studien sind sehr aufwändig. Und wir haben mit 13-Jährigen begonnen vor sechs Jahren und man befragt sie jedes Jahr, eine große Anzahl, dreieinhalbtausend Jugendliche, weltweit gibt es auch nur acht bis neun Studien dieser Art. Man kann damit die Bedeutung der Kriminalität im Lebensverlauf untersuchen und weil man über die Zeit untersucht, natürlich auch besser die Entstehungsbedingungen, als wenn man nur einmal zum Beispiel Neunklässler befragt.

Pokatzky: Haben Sie das nur in Münster und in Bielefeld gemacht oder in welchen Städten sind Sie da?

Boers: Wir haben das in Münster und Duisburg gemacht. In Münster war eine Vorläuferstudie und für die lange Dauer, wir wollen das ja möglichst bis Ende der 20er-Jahre machen, haben wir das in Duisburg durchgeführt.

Pokatzky: Und wonach wurden Ihre jugendlichen Probanden genau gefragt? Wie spielen da Herkunft, soziale Milieus herein?

Boers: Na ja, zunächst vor allen Dingen nach dem, was wir Delinquenz nennen, strafbares Verhalten, und zwar was die Jugendlichen uns selbst berichten. Wir nennen das "das Dunkelfeld". Im Dunkelfeld, was Jugendliche uns selbst berichten, in Täterbefragungen, wird sehr viel mehr bekannt als bei der Polizei registriert wird. Und uns geht es natürlich insbesondere um den Verlauf der Kriminalität im Alter.

Dann haben wir nach den Entstehungsbedingungen gefragt. Da spielt der soziale Hintergrund eine Rolle, Schichtsachen, aber vor allen Dingen allgemeine Wertorientierung, Lebensstile von Jugendlichen, ihre Freunde, ihre Cliquen, ihre Musikvorlieben. Wir haben gefragt nach Medienkonsum, Gewaltspielkonsum, nach familiärem Erziehungsstil und so weiter und so fort.
Pokatzky: Sie haben ja eben schon das Dunkelfeld angesprochen. Wir Laien kennen ja alle diese berühmte Dunkelziffer, die Straftaten, die nicht angezeigt werden und die dann oft in Untersuchungen hochgerechnet werden. Sie stellen der Dunkelziffer dann im Dunkelfeld ein Hellfeld gegenüber. Bitte bringen Sie da Licht ins statistische Grau für den Laien.

Boers: Ja, generell ist es so, dass wir in Delikten, wo wir eine gewisse Vertrauensbeziehung zwischen Täter und Opfer haben, die höchste Dunkelziffer haben. Aber es geht nicht nur unbedingt nach der Kriminalitätsschwere. Es ist zum Beispiel so, dass bei Vergewaltigung wir überall in allen Dunkelfelduntersuchungen die höchsten Dunkelziffern feststellen. Dort, wo Täter und Opfer anonymer sind, ganz klassisch Wohnungseinbruch oder Autodiebstahl, da wird eher angezeigt und ist die Dunkelziffer geringer.

Pokatzky: Ist das dann, dass nicht angezeigt wird, aus Furcht dann vor Racheakten oder ist das jetzt eher dann doch eine emotionale Verbundenheit mit dem Täter, den ich kenne? Haben Sie das auch erfragen können?

Boers: Eher Letzteres. Man zeigt eher deshalb weniger an, weil man mit dem Täter verbunden ist, weil noch eine gewisse Vertrauensbeziehung da ist, wenn man glaubt, dass man die Dinge noch ohne Polizei und Staatsanwaltschaft lösen kann.

Pokatzky: Deutsche Jugendliche sind genauso häufig gewalttätig wie ausländische, heißt es bei Ihnen. Gibt es denn da Unterschiede der verschiedenen Kriminalitätsarten?

Boers: Ja, die gibt es insofern, als bei allen Delikten, außer bei Gewalt, bei Eigentumsdelikten, Sachbeschädigung, ausländische Jugendliche immer in allen Statistiken, in allen Erhebungsverfahren weniger belastet sind. Das Einzige, worum es geht, ist die Gewalt von jungen Männern, auch ausländische Mädchen, türkische Mädchen zumal begehen weniger Gewaltdelikte als deutsche Mädchen. Es geht immer um die Gewalt von Jungen. Und dort ist es so, dass schon alle, viele Untersuchungen darauf hindeuten, dass türkische Jungen stärker belastet sind. Aber es zeigt sich in unserer Studie wie auch in einigen anderen, dass der Unterschied nicht so groß ist.

Und wir können das vor allen Dingen auf drei Gründe zurückführen: Der eine ist der Alkoholkonsum, unserer türkischen Jugendlichen in Duisburg ist geringer als der der Deutschen. Sie haben etwas stärkere traditionelle Wertorientierung, das mag einem in mancherlei Hinsicht nicht gefallen, aber jedenfalls wirkt es kriminalpräventiv. Und sie haben drittens eine ähnliche Bildungsbeteiligung wie die Deutschen. Die Deutschen sind halt eher an Gymnasien und die türkischen Jugendlichen sind eher auf dem Gesamtschulen. Aber insgesamt werden auch die türkischen Jugendlichen in Schulen aufgenommen und aufgefangen und das wirkt offenbar kriminalitätsvorbeugend.

Pokatzky: Wenn Sie sagen, die Unterschiede sind nicht so groß, sind die dann überhaupt noch messbar?

Boers: Sie sind kaum noch messbar außer bei Intensivgewalttätern im 14. und 15. Lebensjahr. Da ist eine etwas höhere Belastung bei türkischen Jugendlichen.

Pokatzky: Da kommen wir auf das besonders Spannende bei Ihrer Studie. Sie haben ja ein Alter für den Höhepunkt der Kriminalität errechnet, nämlich 14 Jahre. Was heißt das genau?

Boers: Wir haben zwischen dem 12. und 13. Lebensjahr, also im 13. Lebensjahr mit der Studie begonnen und haben dann festgestellt, dass im 14. Lebensjahr, 14., 15. Lebensjahr die meisten Jugendlichen auffällig werden, Kriminalität berichten. Und dass aber schon mit dem 15. Lebensjahr das wieder runtergeht, 15, 16, mit 17 ist man wieder auf dem Niveau des 13. Lebensjahres. Das ist etwas, was man immer schon kannte, das ist der glockenförmige Verlauf der Kriminalität, der steigt früh an und geht dann auch raus. Man nennt das Spontanabbruch oder Spontanabwehrung. Das weiß man seit langem.

Wir sind bislang, weil wir ja überwiegend in Deutschland nur polizeiliche Statistiken haben, davon ausgegangen, dass der Wendepunkt etwa mit 17, 18 liegt, zum Ende des Jugendalters. Und in den Dunkelfelduntersuchungen zeigt sich nun, dass der Wendepunkt früher liegt, nämlich mit 14, 15, wie übrigens auch bei Intensivtätern. Ein ganz erheblicher Teil der Intensivtäter, die mehr als fünf Gewaltdelikte pro Jahr begehen, das sind Intensivtäter, ein großer Teil dieser Intensivtäter geht auch mit 16, steigt da schon wieder aus.

Pokatzky: Ich spreche mit Klaus Boers von der Universität Münster, über seine Studie "Kriminalität in der modernen Stadt". Herr Boers, was haben Sie denn über Computer, Gewaltspiele oder brutale Filme als mögliche Auslöser oder Beschleuniger für jugendliche Gewalt herausgefunden?

Boers: Diese Effekte sind gering, und dass Leute Gewaltfilme gucken oder Gewaltspiele spielen, führt nicht direkt zur Kriminalität. Wir haben beobachtet, dass eher auf Gewalt befürwortende Einstellung einen Einfluss hat. Wer viel spielt oder wer viel Gewaltfilme guckt, befürwortet etwas höher Gewalt und es kann sein, dass diese Gewaltbefürwortung dann stärker mit Gewaltverhalten zusammenhängt. Aber die Zusammenhänge sind eher schwach. Man kann sich das auch gut klarmachen, wenn man bedenkt, dass ein ganz großer Teil aller Jugendlichen unabhängig davon, welche Schulform sie besuchen, vor allem männlichen Jugendlichen, Gewaltspiele, Computergewaltspiele spielen. Und die müssten alle kriminell sein, wenn es einen direkten Effekt gibt. Und das ist natürlich nicht so.

Pokatzky Welche Rolle spielen da noch Schule und Elternhaus? Wie kommen Eltern und Lehrer überhaupt noch an die Jugendlichen ran?

Boers: Wir haben einen gewissen Zusammenhang zwischen dem Elternhaus und Kriminalität, dass man deutlich beobachtet, dass ein unterstützender, partnerschaftlicher Erziehungsstil gegenüber den Jugendlichen, der übrigens am Weitesten verbreitet ist, die meisten Jugendlichen erzählen, dass ihre Eltern sie unterstützen und ihnen helfen, das hängt mit geringeren Gewaltraten zusammen.

Ein gewaltsamer Erziehungsstil, gleichgültiger übrigens auch, auch widersprüchlicher Erziehungsstil hängt eher mit Gewaltverhalten zusammen, aber nicht so, dass man sagen kann, das ist der alleinerklärende Faktor. Das gibt es bei der Kriminalität nicht. Es gibt nicht einen Faktor, der alles erklärt. Aber das hat eine gewisse Bedeutung.

Was wir feststellen bei unseren 13-, 14-Jährigen, 15-Jährigen, 16-Jährigen vor allen Dingen, ist, dass die Schule bedeutsamer ist. Wir können vor allen Dingen einen Weg feststellen, der mal nicht in die Kriminalität hineingeht, sondern, das ist ja auch interessant, in die Konformität, in die Normalität. Und da sehen wir, dass Jugendliche, die stärker an traditionellen Werten orientiert sind, eher gute Schulerfahrungen haben, von guten Schulerfahrungen her eine höhere Akzeptanz von rechtlichen Normen und in der Folge mit weniger Kriminalität auffallen. Die Schule hat eine wichtige Rolle im Erlernen von sozialen Normen und der Akzeptanz von sozialen Normen. Das zeigt sich in unseren Untersuchungen, dass das der stärkste Weg ist, der höchste Zusammenhang über die Schule verläuft.

Pokatzky: Herr Boers, Sie haben gesagt, das Gefängnis ist die Hochschule des Verbrechens. Was schlagen Sie als Alternative vor?

Boers: Man kann nicht für alle Jugendlichen das Gefängnis als Ausnahme betrachten. Es gibt Situationen, wo man nicht drum rumkommt, insbesondere aus Gründen des Opferschutzes, auf Jugendstrafe zurückzugreifen. Aber generell ist es so, dass der Jugendstrafvollzug die höchsten Rückfallraten hat. Im Jugendstrafvollzug ist es sehr schwierig, unter den Bedingungen, die dort sind, auch nur dass delinquente Jugendliche zusammen sind, einen positiven Erziehungserfolg herbeizuführen. Und deshalb ist der Verzicht auf das Gefängnis, der Verzicht auf harte Strafen immer der bessere Weg. Sobald man Erziehung außerhalb machen kann, das vertreten kann unter Gesichtspunkten des Opferschutzes, soll man es draußen machen, weil Sie dort bessere Erfolge haben.

Pokatzky: Ich bedanke mich bei Klaus Boers, Professor für Kriminologie in Münster. Herr Boers, alles Gute und einen schönen Tag noch! Näheres über die Studie finden Sie im Internet unter www.jura.uni-muenster.de.